Das schöne Stück.

Von Freiherr von Schlicht.

in: „Striese.” Ein lustiges Theaterbuch.
Humoristische Theater-Zeitschrift, erster Jahrgang, Heft 4, Charlottenburg, Max Simson, 1899


Es war im Jahre 1897 am siebzehnten November(*), abends acht Uhr. Ich werde diesen Tag nie vergessen, selbst dann nicht, wenn ich den Vorzug hätte, älter als Methusalems Enkel zu werden, der bekanntlich im hohen Alter von 5959 Jahren, 59 Minuten und 59 Sekunden starb. Hätte er nur eine einzige Sekunde länger gelebt, so wäre er 5960 Jahre alt geworden — man sieht aus diesem Beispiel wieder, welche unendliche Rolle in unserem Dasein, nein pardon, nur in dem Dasein der vierbeinigen Esel oft eine einzige Sekunde spielt.

Doch nun zurück zum 17. November 1897. Man gab an diesem Abend im Berliner Theater einen Soldatenschwank, den ich mit einem Berliner Herrn(**) zusammen geschrieben hatte. Jeder, jede, jedes, der die das sich auch schon einmal in derselben Lage befand, wird es mir glauben, wenn ich sage: schön ist etwas anderes, und ich habe an jenem Abend die für die Welt äußerst wichtige Entdeckung gemacht, daß eine Flasche Pommery nach der Première viel besser schmeckt, als eine halbe Flasche Matthäus Müller vor der Aufführung.

Aus der Loge, in der ich zuerst mit vielen Freunden saß, flüchtete ich auf die Bühne, und hinter einer Kulisse sank ich auf einem Stuhl zusammen. Dort saß ich und ließ unser Theaterstück Theaterstück sein — ich achtete nicht auf das Spiel der Darsteller, ich achtete nicht darauf, ob die Zuschauer lachten oder pfiffen, mir war alles gleich, ich hatte nur den einen Gedanken: „O, wärst du nie geboren!” Aber solche Gedanken helfen bekanntlich noch weniger, als Hoffmannstropfen gegen zu kurz geschnittene Haare — ich war am Leben und blieb am Leben, und mir fiel das Wort ein, das einmal ein weiser Mann gesprochen hat: „Das höchste Glück auf Erden ist, ein totgeborenes Kind zu sein!” Ich aber war nicht totgeboren, ich lebte und saß auf meinem Holzschemel und philosophierte über die Dummheit der Menschen im allgemeinen und über die Dummheit eines Menschen, ein Theaterstück zu schreiben, im besonderen.

Die ersten drei Akte waren zu Ende gespielt, zum letztenmal hob sich der Vorhang — „wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe,” sprach ich zu mir selbst. Da tönte plötzlich donnernder Applaus in meine stille Ecke — eine von Herrn Bassermann meisterhaft gespielte Episodenrolle hatte das Publikum fortgerissen, und in demselben Augenblick sprach eine Stimme hinter mir: „Nee, so'n scheenes Stück, nee, so'n scheenes Stück!”

Ich wandte mich um, vor mir stand der Theatermeister. Aus seinen Worten, aus seinen Mienen sprach ein solches Lob, eine solche Anerkennung, daß Stolz meine Brust schwellte.

Mit einem Mal hatte ich jede Angst und Furcht überwunden, ich war von einem glänzenden Sieg überzeugt; mehr noch als auf den Applaus des Publikums, den ich gehört, der aber, wie ich später erfuhr, nur dem Schauspieler, nicht dem Dichterpaar galt, gab ich auf das Urteil des Theatermeisters. Wie viele Stücke hatte der nicht schon über die Bretter gehen sehen, wie viel Erfolge und Nicht-Erfolge hatte der nicht schon erlebt. Derartige Leute haben oft ein weit besseres Verständnis für den Wert oder Unwert eines Stückes als die Autoren, die Regisseure und die Darsteller.

Der Theatermeister lobte — die Gefahr war beseitigt.

„Nee, so'n scheenes Stück, nee, so'n scheenes Stück,” tönte es da wieder an mein Ohr.

Ich hätte den Mann umarmen können.

„Gefällt Ihnen das Stück wirklich so gut?” fragte ich freudig bewegt.

Verwundert, mit allen Anzeichen des höchsten Erstaunens sah er mich an.

„Det Stück soll mir nich jefallen?” gab er zur Antwort, „det is det beste Stück, das bisher jemals im Berliner Theater jejeben worden ist.”

Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte dem Mann einen Kuß gegeben — in der Westentasche suchte ich nach einem Geldstück, um mich für das gespendete Lob dankbar zu erweisen.

„Sie sind auch wohl früher Soldat gewesen, daß Ihnen dieser Schwank viel Vergnügen macht?”

„Nee,” sagte er, „Herr Baron, det nu jrade nich, aber so'n scheenes Stück wie dieses jiebt es überhaupt nich wieder — det Stück is ja schon um halber zehne aus.”

Ich war gerichtet.


(*) [recte: September, siehe die Seite „Tante Jette”. D.Hrsgb.]

(**) Hauptmann a.D. Hans v. Wentzel


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