Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 282 vom 2. December 1894 Seite 2

Bilder aus dem preußischen Unteroffizierkorps.

Von Graf Günther Rosenhagen.


I.
Der Korporal.


Die Kompagnie ist zum Ausmarsch angetreten. Es ist für heute ein Felddienstübung angesetzt und die Leute stehen auf dem Appellplatz, hier und da noch etwas an ihrem Anzug in Ordnung bringend, die Kinnriemen am Helm noch lockernd und den Tornister zurechtschiebend. Die Unteroffiziere stehen vor der Front, in einem dienstlichen Gespräch mit dem Feldwebel. Plötzlich geht ein "hörbarer Ruck" durch die Leute und eine Stimme ruft: "Der Herr Hauptmann kommt."

"Die Unteroffiziere eintreten," befiehlt der Feldwebel und kommandirt gleich darauf mit lauter Stimme: "Richt Euch!"

Alle Köpfe fliegen nach rechts und der Feldwebel bemüht sich, die Abtheilung auszurichten.

"Der dritte Mann vom linken Flügel des zweiten Zuges im ersten Glied ein Haar zurück - noch ein halbes Haar - das ist zuviel - kommen Sie wieder heraus - aber doch nicht gleich einen ganzen Schritt - Mensch scheren Sie sich zurück - zurüüüüüüüück!"

Endlich steht das Glied so einigermaßen. "Schön ist etwas Anderes," murmelt der Feldwebel leise vor sich hin, dann kommandirt er "Augen gerade - aus" und geht auf den Hauptmann zu, um ihm zu melden: "Im Revier nichts Neues. Es sind zur Stelle zwölf Unteroffiziere, ein hundert und zehn Mann."

"Guten Morgen, Leute!"

"Guten Morgen, Herr Hauptmann!"

Der Hauptmann geht an den rechten Flügel, wirft einen kurzen Blick über die Richtung und schreitet dann die Front entlang, der Feldwebel mit dem geöffneten Notizbuch in der Hand an seiner linken Seite. Plötzlich bleibt er vor einem Manne stehen:

"Wie der Zietermann nur heute morgen wieder aussieht ? Keine Haare gemacht, keine Knöpfe geputzt, Nichts, Garnichts."

Der Feldwebel hat aber den spitzen Bleistift schon an den Lippen angefeuchtet, um den Fall zu Papier zu bringen, als der Hauptmann frägt: "Wer ist Ihr Korporalschaftsführer ?"

"Herr Unteroffizier Steffen."

"Unteroffizier - Steffen."

"Herr Hauptmann."

Im "Marsch, Marsch" erscheint der Gerufene.

"Unteroffizier Steffen, sehen Sie sich einmal den Mann an. Warum hat er sich die Haare nicht gemacht und die Knöpfe nicht geputzt ? Haben Sie sich um den Anzug Ihrer Leute nicht gekümmert ?"

"Zu Befehl, Herr Hauptmann."

"Feldwebel, schreiben Sie den Mann auf: Ein Rapport im Exerzieranzug."

"Zu Befehl."

Der Hauptmann geht weiter und bemerkt einen Gefreiten, dem der Helm schief auf dem Kopf sitzt.

"Warum haben Sie den Helm so schief auf ? Wer ist Ihr Korporalschaftsführer ?"

"Herr Unteroffizier Steffen."

"Unteroffizier Steffen, warum haben Sie dem Gefreiten nicht den Helm zurechtgesetzt ? Was ist das für eine Bummelei in Ihrer Korporalschaft ? Ich bitte mir aus, daß Sie sich mehr um Ihre Leute kümmern."

"Zu Befehl, Herr Hauptmann."

Endlich ist der Anzug nachgesehen und die Kompagnie rückt von dem Kasernenhof ab; so lange es durch die belebten Straßen geht, "mit klingendem Spiel", d.h. mit Pfeifer und Tambour; hat man die letzten Häuser der Stadt hinter sich, so heißt es: "Marschordnung, Gewehrriemen lang, die fünften Rotten abgebrochen."

Die Unteroffiziere, die bisher an dem linken Flügel ihrer Sektionen gingen, bleiben stehen und formiren sich in der Queue und Tete der Kompagnie als eine besondere Sektion. Bald ist eine lustige Unterhaltung im Gange, nur Unteroffizier Steffen geht schweigend einher.

"Na, Steffen, man immer lustig," neckt ihn schließlich sein Nebenmann, "wer wird sich denn über solche Kleinigkeit ärgern."

"Da soll der Teufel bei guter Laune bleiben," braust der Angeredete auf, "den ganzen Tag kann man schuften und sich abquälen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, und es ist doch Alles vergeblich."

Nachdenklich blickt der Andere vor sich hin: "Ja, ja, es ist nicht immer leicht, Korporal zu sein."

"Das weiß der liebe Himmel," pflichtete ihm der Getadelte bei, "leicht ist es nicht."

Sie setzten schweigend den Marsch fort, Jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, die sich hauptsächlich um ihre Korporalschaft drehen.

Jede Kompagnie wird für den inneren und äußeren Dienst in mehrere Korporalschaften eingetheilt, deren Zahl nach der Stärke der Kompagnie und der vorhandenen Unteroffiziere verschieden ist. An der Spitze einer jeden Korporalschaft steht ein Korporalschaftsführer, kurzweg "der Korporal" genannt, an den ungeheure Anforderungen gestellt werden.

Der Korporal ist immer im Dienst, das Wort Ruhe giebt es für ihn nicht, er ist den ganzen Tag thätig, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Für Alles, was seine Leute thun, ist er verantwortlich.

Die erste Anforderung, die man an ihn stellt, ist: strenge aber wohlwollende Behandlung der Untergebenen. Das klingt so leicht und einfach und ist doch so furchtbar schwer, wie schwer aber, kann nur Derjenige beurtheilen, der selbst den bunten Rock angehabt hat und aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt: Korporal zu sein. Die guten Element sind leicht zu lenken, aber es giebt auch Leute, die absichtlich ihrem Unteroffizier das Leben erschweren, die es darauf ablegen, ihn hineinfallen zu lassen, die sich innerlich freuen über jeden Tadel, den der Unteroffizier ihretwegen erhält. Solche giebts, und zwar mehr als man glaubt. Auch dann immer ruhig zu bleiben, nie zu schimpfen und zu schelten, auch dann immer der wohlwollende Vorgesetzte zu bleiben, erfordert viel Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung. Niemals darf er durch sein dienstliches oder außerdienstliches Benehmen Anlaß zu einer Klage oder zu einer Beschwerde geben. Ruhiges Auftreten in und außer Dienst, Vermeiden von zu großer Vertraulichkeit im Verkehr mit den Untergebenen, sind weitere Anforderungen, die an ihn gestellt werden.

Häufig gehen die Unteroffiziere aus der Front hervor, d.h. die Kompagnie erhält ihre Unteroffiziere nicht von den Schulen, sondern sie sucht sich unter den alten Leuten oder Gefreiten Mannschaften aus, die ihr geeignet erscheinen und kapitulirt mit ihnen.

Da erfordert es für die Neu-Beförderten viel Taktgefühl, sich in der neuen Stellung zurecht zu finden und ihren früheren Kameraden gegenüber stets daran zu denken, daß sie jetzt ihre "Vorgesetzten" sind, mit denen sie nicht vertraulich werden dürfen, wenn die Autorität darunter nicht leiden soll. Annehmen von Geschenken, Geldborgen von den Untergebenen ist strafbar. Kurze Befehlsertheilung und Vermeidung von Fragen, denen leicht ungehörige Antworten folgen können, ist stets nothwendig.

Im Dienst verlangt man vom Korporal gewissenhafteste Beaufsichtigung der Leute in bezug auf alle, auch die geringfügigsten Anordnungen des Kompagnie-Chefs. Der Hauptmann befiehlt, der Korporal ist dafür verantwortlich, daß der Befehl ausgeführt wird, er muß seine Leute so erziehen, daß er sich felsenfest auf sie verlassen kann und sicher ist, daß das, was er sagt, auch gethan wird. Er selbst muß seinen Leuten, dienstlich und außerdienstlich, mit gutem Beispiel vorangehen, nur wer selbst frei von Schuld und Fehle, kann Gleiches von seinen Untergebenen verlangen.

Die größte Sorge macht dem Korporal stets der Anzug seiner Leute.

Jeden Abend von sechs bis sieben Uhr ist Putzstunde. Da werden unter seiner Aufsicht die Sachen geputzt und gereinigt, kleine Schäden an den Röcken und Hosen geflickt, größere Reparaturen den Kompagnie-Handwerkern überwiesen. Nach Beendigung der Putzstunde läßt er sich Alles vorzeigen und die für sauber befundenen Sachen sofort in den Spind schließen, damit am nächsten Morgen Alles sauber ist. Vor dem Beginn eines jeden Dienstes läßt er seine Leute antreten und sieht ihren Anzug noch einmal nach; Alles, Alles muß er dem Kompagnie-Chef gegenüber verantworten: Die schmutzigen Hände und Ohren, die nicht geputzten Stiefel und die zerrissenen Hosenträger, die beschädigte Halsbinde und die nicht vorschriftsmäßig geschnittenen Haare. Stets heißt es: "Wer ist der Korporalschafts-Führer ?"

Ein altes Wort heißt: "Sage mir, wie Du wohnst und ich will Dir sagen, wie Du bist." Das gilt auch bei den Soldaten, und deshalb wird mit aller Strenge darauf gehalten, daß die Mannschaftsstube, in der gewöhnlich zwölf, manchmal auch vierzig Mann liegen, sich stets in tadellosem Zustande befindet. Der verantwortliche Redakteur ist auch hier wieder der Korporal, der zugleich der Stubenälteste ist. Die Stube muß stets sauber ausgefegt, die Wassereimer leer, die Wasserkrüge voll sein, unter den Betten und Spinden darf kein Staubfunke liegen, die Schemel müssen richtig stehen, die Lampen müssen ordentlich brennen - und wenn ein Vorgesetzter die Stube betritt und etwas nicht in Ordnung findet, so ist wie immer die erste Frage: "Wer ist der Korporalschafts-Führer ?"

Oft kommt ein Vorgesetzter auf den Gedanken, sich das Spind eines Mannes aufschließen zu lassen. Jedes Ding hat in demselben seinen bestimmten Platz, soll ihn wenigstens haben, aber nur zu häufig liegt Alles bunt in- und durcheinander. Auch da muß der Korporal wieder herhalten: "Warum ist das Spind nicht in Ordnmung ? Warum nicht ?"

"Ich habe es vor einer Stunde revidirt und Alles in Ordnung befunden," wagt er schüchtern zu erwidern, aber der Vorgesetzte fährt ihn an:

"Was vor einer Stunde war, ist mir ganz egal, ich bitte mir aus, daß die Sachen jeder Zeit in Ordnung sind."

Unwillkürlich ballt der Getadelte die Fäuste und wirft dem unglücklichen Besitzer des Spindes einen Blick zu, der diesen bis in sein Innerstes erschauern läßt.

Wenn die Leute abends nach Beendigung des Dienstes ausgehen, beginnt eine neue Sorge des Korporals und er zählt die Minuten bis zu dem Augenblick, wo er sie Alle wieder bei sich hat. Oft kommt es vor, daß mehr fortgehen als zurückkommen, daß der Eine oder der Andere, von einer Carmen dazu verlockt, über Urlaub bleibt, dann fährt der Unteroffizier sich verzweifelt mit den Händen durch seine Haare, er hört in Gedanken die Worte seines Hauptmanns: "Unteroffizier, das darf aber nicht vorkommen, daß ein Mann von Ihrer Korporalschaft über Urlaub ausbleibt, erziehen Sie Sich Ihre Leute besser." Oder ein Mann hat sich betrunken und allerlei Unfug in der Stadt getrieben, auch da wird er verantwortlich gemacht, und ginge es nach seinem Willen, so kämen die Leute wohl überhaupt nicht mehr aus der Kaserne heraus.

Wird ein Mann seiner Korporalschaft krank, so muß er dessen sämtliche Sachen in Verwahrung nehmen, von den Anderen reinigen lassen und dann aufpassen, daß dem Kranken Nichts von seinen Kameraden "geklemmt" d.h. gestohlen wird.

Will Jemand Urlaub haben oder vom Dienst dispensirt sein, hat er sonst irgend etwas auf dem Herzen, so ist der Korporal der Erste, an den er sich wenden muß.

Die Kompagnie ist auf dem Rendezvous-Platz angekommen und setzt die Gewehre zusammen. Eine Augenblick später erschallt die Stimme des Hauptmanns: "Die Unteroffiziere."

In einem Halbkreis versammeln sich die Gerufenen um ihn.

"Bevor ich mit der Übung beginnen, möchte ich Ihnen noch einige Worte sagen. Ich habe heute Morgen zwei Leute gesehen, die nicht sauber angezogen waren. Ich ermahne Sie Alle, Sich künftig mehr um ihren Dienst zu kümmern, es sollte mir leid thun, wenn ich nöthig hätte, Strafen eintreten zu lassen."

Das wissen seine Unteroffiziere, er ist ein gütiger Vorgesetzter, der höchst ungern straft, der immer und immer wieder ermahnt und deshalb ist es ihnen doppelt unangenehm, wenn er etwas an ihnen auszusetzen hat. Sie geben sich Alle die redlichste Mühe, aber ein guter Korporal zu sein, ist so schwer, so unsagbar schwer, daß es anch dem Ausspruch eines alten Hauptmanns "gar keinen ganz guten Korporal geben kann".



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© Karlheinz Everts