Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 6 vom 6. Januar 1895 Seite 2

Bilder aus dem preußischen Unteroffizierkorps.

Von Graf Günther Rosenhagen.


V.
Der Kammerunteroffizier.


Ganz oben in der Kaserne, fern vom Geräusch der großen Welt, dicht unter dem Dach hat der Kammerunteroffizier sein Zelt aufgeschlagen und von dort oben aus regelt er die Bekleidungsfrage.

Jede Kompagnie hat ihre eigene Kompagniekammer, jedes Bataillon eine Bataillonskammer, jedes Regiment noch wieder seine besondere Regimentskammer und dementsprechend unterscheidet man Kammerunteroffiziere, Bataillons- und Regimentskammerunteroffiziere. Es ist ein schweres, verantwortliches Amt, das sie bekleiden, auch auf sie kann man das Wort anwenden: "Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählt."

Wer immer einen Haushalt zu leiten hat, wer immer einer Familie vorsteht, weiß, welch großes Glück es ist, eine Stütze zu besitzen, auf die man sich voll und ganz verlassen kann. Nennt man den Feldwebel die Frau des Hauptmanns, so kann man getrost den Kammerunteroffizier die Stütze nennen. Das Wort "ich habe nichts anzuziehen" spielt bekanntlich überall eine große Rolle, und Sache des Kammerunteroffiziers ist es, diese Frage so zu beantworten, daß Alle zufrieden sind.

Wer heut zu Tage die Zeitung in die Hand nimmt, liest beständig von mehr oder weniger verbürgten Nachrichten über eine bevorstehende Gepäckerleichterung, oder über eine beabsichtigte Änderung der Uniformen, ohne sich viel, um nicht zu sagen, etwas dabei denken zu können, denn wohl nur die Wenigsten wissen, was Alles zu der Ausrüstung und Bekleidung eines Soldaten - ich spreche immer nur von der Infanterie - gehört.

Man unterscheidet die Ausrüstungsgegenstände und die Bekleidungsstücke; erstere werden in Privatfabriken, letztere lediglich in den Corpsbekleidungsämtern angefertigt. Von den Corpsbekleidungsämtern empfangen die Regimenter die notwendige Anzahl der Bekleidungsstücke und geben sie den Bataillonen, diese wieder den Compagnien. Alles was zur Ausrüstung der Compagnie und für die Bekleidung nothwendig und erforderlich ist, liegt auf der Compagniekammer und kein feuerschnaubender Drache kann ein besserer Hüter und Wächter des ihm anvertrauten Schatzes sein, als der Kammerunteroffizier es ist. Es muß es aber auch sein, schon früher habe ich vom "Klemmen" gesprochen und nirgends ist die Versuchung hierzu größer, als auf der Kammer.

Es ist eine feststehende Thatsache, daß die Menschen, die etwas auf ihr Äußeres geben, auch sonst ordentlich und zuverlässig sind und es ist ein gutes Zeichen für unsere Soldaten, daß ihr heißester Wunsch ist, einen guten vierten Anzug in Händen zu haben. Die vierte Garnitur wird beim Ausgehen getragen und ist für gewöhnlich in dem Besitz des Mannes. Aber der Unteroffizier weiß genau, wem er einen guten Rock anvertrauen darf und wem nicht, und ein Schmutzfinke kann stundenlang auf den Knieen vor dem Unteroffizier herumrutschen, er muß den Anzug, den er hat, behalten.

Unbestechlichkeit, Ordnung und Sparsamkeit sind die drei Anforderungen, die in erster Linie an den Kammerunteroffizier gestellt werden, die Versuchungen, die an ihn herantreten, etwas zu veruntreuen, sind wahrlich nicht gering, aber nur selten, sehr selten erfährt und hört man, daß einer den Verlockungen nicht widerstanden hat.

Auf großen Borden und Regalen liegen die Schätze auf der Kammer, Alles fein säuberlich korporalschaftsweise gelagert und so geordnet, daß in wenigen Minuten Alles an die Mannschaften ausgegeben werden kann. Der Unteroffizier muß zu jeder Stunde, bei Tag und bei Nacht, ganz genau angeben können, wo sich jedes zur Zeit nicht auf der Kammer befindliche Stück aufhält. Wer einen Wäscheschrank zu verwalten hat, weiß wie schwer es ist, das Seine zusammenzuhalten, hier fehlt ein Taschentuch, hier eine Serviette, die doch gestern ganz bestimmt noch da war, der Bleicher hat ein Hemd zurückbehalten und der Ärger hört gar nicht auf.

Aber was ist alle Mühe und die Arbeit von fünfundzwanzig Hausfrauen gegen die Arbeit eines einzigen Kammerunteroffiziers ? Ungefähr hundertundfünfzig Köpfe gehören zu einer Kompagnie und für jeden muß er sechs Tuchanzüge, drei Drillichanzüge, zwei Mäntel, zwei Helme, Hemden, Unterjacken, Stiefel, Mützen, Tornister, Brotbeutel, Lederriemen, Koppelschlösser, Zeltbahnen, Handschuhe und nur der Kammerunteroffizier weiß, was sonst noch Alles, verwalten. Lieber Leser, glaubst Du wohl, daß dem Armen sein Kopf manchmal derartig raucht, daß er in das Freie steigt, aus Furcht, seine Kammer anzuzünden, die einen Werth von fast hunderttausend Mark repräsentiert ?

Der gewöhnliche Exerzieranzug befindet sich stets in Händen des Mannes. Die Zeit einer Besichtigung rückt heran, die Frage, "was ziehen wir an ?" entscheidet der Befehl des Vorgesetzten. "Besichtigungsanzug ? dritte Garnitur."

Der Anzug wird ausgegeben und nun beginnen die Appels: der eine Rock ist zu lang, der zweite zu kurz, der dritte zu weit, der vierte zu eng, hier schließt der Kragen nicht, dort sitzen die Achselklappen nicht, die Biesen müssen erneuert, die Knöpfe versetzt werden; so geht das beständig fort.

Ausgerüstet mit einem Notizbuch von der Größe eines Andreeschen Handatlas und begleitet von seinen zwei oder drei Flickschneidern, geht er die Front entlang und bemalt Jeden mit unzähligen Kreidestrichen. Nach Beendigung des Appels gehen die Schneider an die Arbeit und der Unteroffizier paßt auf, daß sie nicht faullenzen. Nach einigen Tagen ist wieder Appell: aber was dem einen Vorgesetzten zu weit vorkam, ist für den anderen nicht weit genug und umgekehrt, wieder malt er in sein Notizbuch und auf die Rücken der Leute und wieder gehen die Schneider an die Arbeit. Endlich bricht der Tag der Vorstellung an, der Unteroffizier hat ein gutes Gewissen, Tag und Nacht ist unermüdlich gearbeitet worden, die Leute sehen aus, wie aus dem Ei gepellt, der Vorgesetzte mag nur kommen. Er kommt und fast immer hat er nur Worte des Lobes und der Anerkennung für die auf den Anzug verwendete Sorgfalt, denn er ist selbst Kompagniechef, vielleicht auch als Fähnrich selbst einmal auf ein oder zwei Monate Kammerunteroffizier gewesen und weiß ganz genau, was es heißt, eine Garnitur für die Besichtigung in Ordnung zu bringen. Denn eins darf nie vergessen werden, weder Röcke noch Hosen sind auf Maaß gearbeitet, können nicht nach Maaß gearbeitet sein, da sie alle zwei Jahre ihren Besitzer wechseln.

Der Schrecken der Kammerunteroffiziere ist die sich alle zwei Jahre wiederholende Musterung seitens des Brigadekommandeurs, und das, was in wenigen Minuten nachgesehen wird, ist die Arbeit vieler Wochen und Monate. Kein Stück darf sich auf Kammer befinden, das nicht den Namen seines zeitweiligen Besitzers trägt, keiner der sechshundert Röcke und Hosen darf einen Fleck aufweisen, und am Schnürchen muß er herbeten können, wieviel von jeder Garnitur er besitzt, wieviel auf Kammer ist, wieviel sich in der Front befindet, was die Abkommandirten mithaben und was sich in Reparatur befindet. Die Kammer selbst ist so rein und sauber, daß man vom Fußboden essen kann, wochenlang haben die Kammerarbeiter mit Soda und grüner Seife unter seiner Oberaufsicht geschrubbt und gescheuert. Endlich sagten sie: "Nun sind wir fertig." Da zog er sich schneeweiße Glacéhandschuhe über die Finger und fuhr in alle Ecken und Winkel und zog sie endlich pechschwarz wieder hervor. Und wieder geschrubbt und wenn der Tag der Musterung da ist, kann ruhig eine Fürstin mit ihrer kostbarsten Robe sich jedem Winkel nähern, kein Staub und nicht der leiseste Atom von Schmutz ist zu entdecken.

Viel Mühe und Arbeit hat der Kammerunteroffizier auch, wenn die Reservisten oder Landwehrleute zu einer Übung eingezogen werden; von seiner Kammer muß er dann eine vom Regiment festgesetzte Anzahl Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke hergeben. Sein Herz droht ihm dabei vor Kummer zu zerspringen, er weiß, in wie guter Verfassung er die Sachen abgiebt, aber er weiß auch, in welch' traurigem Zustande er dieselben nach kurzer Zeit wieder empfängt. Die Sachen, die die Kompagnie besitzt, hat er beständig unter Augen und kann einen Sünder, der zu schlecht mit seiner Uniform umgeht, gelegentlich einmal direkt oder indirekt an die Ohren kriegen; aber den Übungsmannschaften gegenüber ist er machtlos, er kann sie nicht einmal damit bestrafen, daß er ihnen das nächste Mal schlechtere Sachen giebt. Es ist ein arges Dilemma, in dem er sich befindet; giebt er zu schlechte Röcke aus, wird er von der Bekleidungskommission getadelt, und sind sie zu gut, so tadelt ihn sein Hauptmann.

Ein oder zweimal in der Woche erbittet der Unteroffizier, der zu seiner ständigen Unterstützung einen "Kammergefreiten" hat, Arbeiter, und dann werden die Sachen, die in der letzten Zeit, vielleicht zum Kirchgang oder aus einer andern Veranlassung, ausgegeben gewesen sind, wieder neugelegt. Natürlich muß jedes Stück, das wieder abgegeben wird, sich in tadellos sauberem Zustand befinden, und oft vergehen Tage, ehe er einem Mann endlich die Hose abnimmt. Das scharfe Auge des Unteroffiziers entdeckt auf den ersten Blick Flecke, die ein Anderer mit einem tausendfachen Vergrößerungsglas nicht erkennt.

Die große Reinigung der "Lumpen", wie bei dem Militär alle, selbst die ersten Garnituren heißen, findet alljährlich nach dem Manöver statt. Auf den Plätzen in der Nähe der Kasernen kann man dann auf dem Stakett, auf Leinen und auf dem Boden, Hosen und Röcke zu hunderten hängen und liegen sehen, und die Mannschaften, die gewöhnlich in der grellsten Sonne liegen und so fest schnarchen und schlafen, daß sie den Weltuntergang nicht merken würden, halten die "Lumpenwache". Gnade Gott aber demjenigen, der sich von dem Unteroffizier abfassen läßt, ein heiliges, oder richtiger gesagt, ein unheiliges Donnerwetter entladet sich über dem Haupte des Sünders, der froh sein kann, wenn er mit dem Reinigen von einem Dutzend Kammergewehre davonkommt. Die Verantwortung für den Unteroffizier ist groß, jedes Stück, das abhanden kommt, muß er aus eigener Tasche ersetzen.

Das größte Unglück, das den Unteroffizier betreffen kann, ist natürlich, wenn Feuer ausbricht. Gott sei Dank kommt es sehr selten vor, aber dennoch habe ich es einmal erlebt. Das Löschkommando trat sofort an und holte aus der Kammer die Sachen heraus, die aus den Fenstern auf den Hof geworfen wurden. Nach einer halben Stunde war der Brand gelöscht, aber fast zwei Monate rastloser Arbeit vergingen, ehe die Bekleidungsstücke alle wieder garniturweise gelegt und geordnet waren und bis alles wieder auf den status quo ante gebracht war. Da erst konnte man deutlich sehen, was Alles auf einer einzigen Kammer liegt.

Wer die Ausrüstung des Infanteristen von heute mit der vor sechs oder sieben Jahren vergleicht, wird erstaunt sein, welche Veränderungen mit derselben vorgegangen sind, und unablässig ist man bemüht, dem Mann weitere Bequemlichkeiten zu verschaffen, um ihn gewandter und beweglicher zu machen. Jede beabsichtigte Neuerung wird den Regimentern und von diesen den Compagnien zur "Probetragung" überwiesen. Die Kammerunteroffiziere geben die neubeschafften Sachen, etwa leichtere Helme, Zeltbahnen mit Aluminium-Beschlägen und dergleichen mehr, wieder an besonders zuverlässige Leute aus und haben nun zu beobachten, wie sich die neuen Sachen im Vergleich mit den alten im Dienst tragen, ob sie leichter abgenutzt werden, ob das Wasser in den neuen Aluminiumfeldflaschen einen ebenso guten Geschmack behält, wie in den Lederflaschen u.s.w. Nach Ablauf der festgestzten Probetragezeit haben sie dem Kompagnie-Chef die gemachten Erfahrungen zu melden und dieser berichtet dann weiter, indem er natürlich seine eigene Ansicht hinzufügt, oder die des Unteroffiziers zu der seinen macht.

Der Kammerunteroffizier ist der letzte, aber wahrlich nicht der unbedeutendste in der Reihe der "Funktionsunteroffiziere" und bezieht als Solcher gleichwie die Übrigen eine monatliche Zulage von drei Mark. Wahrlich eine geringe Summe für die unendliche Arbeit, die auf ihm ruht, aber das ist ja das Große, wodurch unsere Unteroffiziere himmelhoch stehen über denen anderer Armeeen, daß ein solcher Ehrgeiz und ein solches Pflichtgefühl sie beseelt, daß sie, unbekümmert um pekuniären Lohn, sich darnach drängen, die schwierigsten und verantwortlichsten Funktionen zu übernehmen.



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© Karlheinz Everts