Zeit- und Unzeitgemäßes

(Harmlose Plaudereien.)

Verlorengegangen.

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 6.Aug. 1922

Viel mehr noch als vor dem Krieg haben jetzt sehr viele Leute die Angewohnheit, die Zeitung von rückwärts zu lesen. Zuerst sehen sie nach, ob nicht endlich einmal wieder ein Bekannter gestorben ist. Haben sie in der Hinsicht eine Enttäuschung erlebt und haben sie sich selbst mit einem „na hoffentlich dann morgen” getröstet, dann sehen sie nach, ob nicht schon wieder eine Bekanntmachung im Blättchen(*) steht, daß die Preise für Koks, Gas elektrisch Licht, Straßenbahn, Tonnen- und Müllabfuhr, und was es sonst noch immer gibt, nicht schon wieder gestiegen sind, und wenn sie in der Hinsicht, wie alltäglich, keine Enttäuschung erlebt haben, dann sagen sie sich: So geht das bei der Teuerung nicht weiter, auf irgendeine Weise mußt du ganz einfach Geld verdienen, wenn du nicht sonst vor Hunger bald ein Loch in deinen Magen bekommen sollst, das selbst der größte Chirurg, weil es dann einfach zu spät ist, auch mit der schönsten und fettesten Lebertrüffelwurst nicht mehr zuzunähen vermag. Und auf der Suche nach der Möglichkeit, sich Geld zu verdienen, gleiten die Augen über die vielen Anzeigen, die mit den fettgedruckten Worten beginnen: Verloren gegangen. Und wenn sie dann lesen, was alles verloren gegangen ist, hoffen sie, daß sie es finden, das aber nicht, um die ausgesetzte Belohnung zu erhalten, sondern um den Fund, der natürlich viel mehr wert ist, als der für seine Rückerstattung ausgesetzte Finderlohn, zu behalten und um den dann irgendwo und irgendwie zu Geld zu machen, denn darüber dürfen wir uns nicht täuschen, daß die neue Zeit wie mit so vielem anderen auch mit der ehemaligen bekannten deutschen Ehrlichkeit ganz gründlich aufgeräumt hat. Auch die ist verloren gegangen, aber trotzdem, ich habe noch in keiner Zeitung ein Inserat gefunden, in dem jemand seine Ehrlichkeit als verloren gegangen anzeigte und dem eine hohe Belohnung aussetzte, der sie ihm wiederbrächte.

Und das ist eigentlich auch ganz selbstverständlich, denn was soll heutzutage, wo jeder nur den einen Wunsch und nur das eine sittliche, moralische und christliche Verlangen hat, seinen Mitmenschen, soweit es das in der Hinsicht äußerst duldsame und humane Gesetz es irgendwie zuläßt, zu begaunern, zu betrügen und zu übervorteilen, ja, was soll da noch die Ehrlichkeit? Die hat ihre Zeit gehabt und ist vollständig unmodern geworden. Vielleicht daß es noch einmal mit ihr wieder anders kommt, vorläufig aber ist die begraben und das hat für den, der es früher mit ihr hielt, entschieden auch sein Gutes, denn welche Scherereien und Plagereien, wieviel Aerger und Verdruß hatte man bisher nicht oft damit, wenn man, um nur ein Beispiel zu nennen, so ehrlich war, daß man einen gefundenen Gegenstand auch wieder abgeben wollte, weil man es, der damaligen blödsinnigen Anschauung entsprechend, für unehrlich hielt, den zu behalten. Um seinen Fund los zu werden, mußte man sich erst auf das Fundbüro begeben, was in einer Großstadt schon keine Kleinigkeit war, denn erst mußte man sich nach dem erkundigen und dann mußte man seine Zeit und bei weiten Entfernungen auch noch das Fahrgeld für die Elektrische opfern, um an sein Ziel zu gelangen.

Und sprach man dann nach acht oder vierzehn Tagen wieder vor, um sich zu erkundigen, ob der Verlierer sich inzwischen gemeldet habe und um seinen Finderlohn in Empfang zu nehmen, dann stand die freiwillig gegebene Belohnung fast immer in gar keinem Verhältnis zu dem Wert des abgelieferten Gegenstandes und das war nach der Ansicht des Verlierers oft ganz richtig, denn warum sollte die Ehrlichkeit noch extra belohnt werden, die war doch ganz selbstverständlich.

Wer heutzutage auf der Straße etwas findet, besonders beliebt sind in der Hinsicht natürlich stark gefüllte Schieberbrieftaschen, der setzt sich dem, daß er um seinen ehrlichen Finderlohn gebracht werden könne, gar nicht erst aus, sondern steckt die Sache mit der größten Seelenruhe, als habe er sie vor einer Minute selbst verloren und als wäre er froh, daß er die wiedergefunden, noch bevor sie von einem vielleicht unehrlichen Dritten aufgehoben worden wäre, in die Tasche, um zu Hause seinen Schatz zu zählen. Hat der Fund sich verlohnt, dann schickt der ehrliche Finder das niederländische Dankgebet zum Himmel. Entspricht der Fund aber nicht seinen Erwartungen, enthält die Brieftasche nur Briefe anstatt Banknoten, dann flucht er krummer Hund, aber in beiden Fällen versucht er noch, die Brieftasche zu verkaufen, um aus der Geld zu schlagen. Ist die aber so schlecht, daß er für die keinen Liebhaber findet, dann bringt er die auf das Fundbüro, verlangt Finderlohn und wird dem etwa zufällig anwesenden Verlierer nicht nur mit Worten, sondern auch mit Fäusten sacksiedegrob, wenn der die unverschämte Behauptung aufzustellen wagt, in der Brieftasche hätten sich, als sie ihm verloren ging, noch viele Banknoten befunden.

So schreibt man jetzt bei uns das Wort Ehrlichkeit und es gibt heutzutage auch Damen, oder wenigstens weibliche Wesen, die sich für wirkliche Damen halten, die in punkto Ehrlichkeit nicht mehr ganz einwandfrei denken. Mit eigenen Ohren habe ich einmal in einem Kaffee eine kleine Unterhaltung am Nebentisch mit angehört. Da erklärte eine Dame der anderen: „ Da wäre ich doch schön dumm, wenn ich den Schmuck, der gestern als verloren gegangen in der Zeitung stand, abliefern würde, falls ich ihn finden sollte. Ich verkaufte ihn schleunigst außerhalb und von dem Gelde kaufte ich mir außer vielen anderen Sachen endlich das neue hübsche Kleid, das ich mir schon so lange wünsche und das ich auch so notwendig brauche. Und nicht wahr, meine Liebste,” wandte sie sich an ihre Nachbarin, mit der sie zusammen in dem teuren Kaffee bei teurem Kuchen über die entsetzlich trostlose Zeit klagte und jammerte, „nicht wahr, meine Liebste, das würden Sie an meiner Stelle doch auch tun?” Und die Liebste pflichtete ihr vollständig bei, nur daß die sich, falls sie den Schmuck fände, für das aus dem Verkauf gelöste Geld, wie sie bekannte, kein neues Kleid, sondern einen sehr schönen Crêpe de Chine-Schal kaufen würde, den sie zwar, wie sie offen zugab, absolut nicht brauchte, den sie sich aber schon deshalb so leidenschaftlich wünschte, weil sie neulich eine gemeinsame Bekannte mit einem solchen gesehen habe und weil die dumme Pute sich nicht einbilden solle, sie wäre die einzige, die etwas Derartiges besäße und damit sie nicht etwa glaube, andere könnten sich so etwas nicht leisten.

Ganz laut und ungeniert unterhielten sich die beiden Damen über die von ihnen beabsichtigte Fundunterschlagung, weil sie es sicher als ganz selbstverständlich annahmen, daß jeder und jede andere an ihrer Stelle ebenso handeln würde.

Es gibt einen uralten Witz, über den schon in der Arche Noah kein Mensch mehr zu lachen vermochte und mit dem der Erzähler zur Tür hinausgeworfen wurde. Da fragt der junge Isaak seinen Erzeuger: „Vaterleben, wie werde ich reich?” Und der alte Isaak gibt darauf zur Antwort: „Ehrlich währt am längsten!”

Heutzutage aber muß es mit dem Reichwerden noch viel schneller gehen als früher, man muß die Konjunktur ausnutzen, denn wer kann wissen, wie lange die für viele Leute märchenhaft schöne jetzige Zeit noch andauert, ob nicht ganz plötzlich so oder so ein Rückschlag kommt, und man müßte sich doch selbst die fürchterlichsten Backenschläge geben, wenn man dann nicht seinen Schafstall im Trocknen hätte, seinen Schafstall, denn mit einem Schäfchen hält sich heutzutage selbstverständlich kein Mensch mehr auf. Die Schäfchen sind höchstens noch für Schafe da.

Die Ehrlichkeit ist verloren gegangen, aber wenn sie plötzlich wiedergefunden würde, gäbe es einen Wirrwarr, der gar nicht auszudenken wäre. Man stelle sich nur vor, daß die Ehrlichkeit wieder die Welt regiere und daß alle Leute es für ihre sittliche, moralische und christliche Pflicht hielten, nur noch nach der zu handeln. Keiner würde dem anderen mehr glauben, keiner seinem Mitmenschen mehr trauen, man würde es einfach nicht fassen können: Du bekommst das, was dir gehört und was du verloren hast, auch wieder. Kein Mensch, der in einem Geschäft neben dir steht, wartet mehr darauf, daß du dort etwas liegen läßt, um es sofort an sich nehmen zu können. Keiner will dich mehr übervorteilen, deine Mitmenschen gönnen und wünschen es dir, daß auch du soviel hast, um dich satt essen zu können und sie freuen sich, wenn es auch dir gut geht.

Man würde glauben, in einer Welt von Geisteskranken zu leben und da die anderen einem natürlich einreden würden, sie wären ganz gesund, würde man sich selbst für geisteskrank halten und sich für den Rest seines Lebens in einer Klapsanstalt einsperren lassen.

Nicht nur die Liebe, auch die Ehrlichkeit ist ein geographischer Begriff. Andere Länder, andere Sitten, andere Gebräuche und andere Anschauungen über ein und denselben Punkt.

Und in Bezug auf die Ehrlichkeit liegt Deutschland geographisch leider nicht mehr da, wo es vor dem Kriege gelegen hat.


Fußnote: (*) „Blättchen” wurde die Weimarische Landeszeitung Deutschland gemäß der Zeitschriftendatenbank (dispatch.opac.ddb.de) auch genannt.


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© Karlheinz Everts