Militärischer Spaziergang

Von Freiherr v.Schlicht (Dresden).
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 12.Okt. 1903,
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 22.Okt. 1903,
in: „Der deutsche Correspondent”, Sonntags-Corresponent, vom 8.11.1903,
in: „Die Frau Oberst” und
in: „Rekrutenbriefe”.


Wie an jedem Vormittag, seitdem der neue Herr Oberst die Führung des Infanterie-Regiments übernahm, hat er auch heute auf dem Kasernenhof seine Offiziere versammelt und hält ihnen eine Rede. Am ersten Tag hat man dem neuen Oberst mit der ihm gebührenden Andacht gelauscht, und die „Schuster" nickten zu allem, was er sagte, gewaltig mit dem Kopf, auch dann, wenn das, was gesagt wurde, ihnen ganz contre coeur ging. Am zweiten Tag hatte man nur noch mit geteiltem Interesse zugehört, am dritten Tag ließ sogar das Nicken der Schuster nach, und am vierten hörte überhaupt kein Mensch mehr zu, weil der Herr Oberst zu oft, zu lang und zu ausführlich sprach. Und außerdem waren sich alle darüber einig, daß der Kommandeur vieles redete, was nicht gestochen und gehauen war.

„Meine Herren", nimmt der Oberst nach einer langen Pause und einer noch längeren Einleitung jetzt das Wort, „ich hatte Sie in erster Linie heute zu mir gebeten, um eine Sache mit Ihnen zu besprechen, die mir von der allergrößten Wichtigkeit zu sein scheint."

Das sagte der Oberst von jeder Bagatelle – also geht der Versuch, seine Herren neugierig zu machen, erbarmungslos in die Brüche.

„Meine Herren, es handelt sich um eine Angelegenheit, die namentlich die Herren Leutnants betrifft."

Der Oberst streift seine Leutnants mit einem Blick, und der jüngste Leutnant, der erst vor wenigen Tagen sein Patent erhalten hat, zuckt unter diesem Blick zusammen und stellt sich in Positur. Aber in demselben Augenblick stößt ihn ein älterer Kamerad von hinten in die Kniekehlen, sodaß er wieder in sich zusammensinkt. „Nur nicht schustern, verstanden", flüstert ihm der Ältere zu, und wenn auch schweren Herzens, und wenn auch gegen seine Überzeugung, markiert auch der Jüngste Interesselosigkeit.

„Meine Herren", sagt der Oberst, „ich habe mit Erstaunen und mit Verwunderung gehört, daß hier im Regiment die militärischen Spaziergänge der Herren Leutnants gänzlich unbekannt sind. Ich bin da doch richtig unterrichtet?"

Fragend sieht der Herr Oberst sich um und der Etatsmäßige hält sich zu einer Entgegnung verpflichtet: „Doch wohl nicht ganz, Herr Oberst, die Herren Leutnants, natürlich nur die jüngeren, machen wöchentlich zweimal mit ihren Rekruten einen Spaziergang ins Gelände."

Über das Gesicht des Kommandeurs fliegt ein leises, überlegenes Lächeln. „Das meine ich nicht, Herr Oberstleutnant. Bei den Spaziergängen, die Sie erwähnen, führen die Herren Leutnants ihre Leute spazieren. Ich aber meine die Spaziergänge, bei denen die Herren Leutnants selbst spazieren geführt werden."

Es hätte nicht viel gefehlt, und ein älterer Oberleutnant hätte bei diesen Worten nach seiner Amme gerufen.

„Meine Herren, diese militärischen Spaziergänge, bei denen die Herren Leutnants von einem älteren Hauptmann oder von einem Stabsoffizier in das Gelände geführt werden, sind für die militärische Ausbildung der Herren von der allergrößten Wichtigkeit. Sie sind im Kleinen das, was für uns die taktischen Übungsritte oder die Generalstabsreisen bedeuten. Jedem Spaziergang wird natürlich eine Idee zu Grunde gelegt, und zwar möglichst so, daß sie für jeden der Herren einen kleinen Auftrag enthält. An Ort und Stelle im Gelände haben die Herren dann anzugeben, was sie zu tun beabsichtigen, und die Sache des Leitenden ist es natürlich, die etwaigen Fehler zu korrigieren." („Vorausgesetzt, daß er es kann", dachte ein Leutnant.)

„Meine Herren, ich halte es für meine Pflicht, diese Spaziergänge auch bei uns einzuführen. In meinem alten Regiment erfreuten sie sich der größten Beliebtheit, und auch hier werden sie sicher allgemeinen Anklang finden." („Ich liebe nur den Dienst, der ausfällt", dachte der freche Leutnant.)

„Meine Herren, ich weiß, daß die Herren Leutnants dienstlich sehr überbürdet sind, der militärische Spaziergang soll daher für Sie kein Dienst, sondern eine Freude und eine Erholung sein!" ("In der Theorie ist das sehr schön, aber wenn ich mittags totmüde vom Exerzieren komme und am Nachmittag noch stundenlang spazieren laufen soll, so weiß ich nicht recht, worin da die Freude besteht. Mann, mir scheint, Du bist nicht ganz klar, oder es müßte sein daß à conto der Spaziergänge der andere Dienst ausfällt.")

„Meine Herren, der andere Dienst darf natürlich nicht darunter leiden – – " („Na, da haben wir ja die Pastete.")

„Geeignetes Gelände finden wir ja in der nächsten Umgebung der Stadt. Es genügt vollständig, wenn wir ein kleines Stündchen weit hinausgehen." („Ein kleines Stündchen hin, ein kleines Stündchen her, und wenn wir Glück haben, nur zwei kleine Stündchen draußen – ich denke, das genügt.")

„Vorläufig, meine Herren, werden wir jede Woche einen Spaziergang unternehmen, und ich schlage dafür den Samstag Nachmittag vor, da sind die Herren ja sowieso dienstfrei." („Und der einzig dienstfreie Nachmittag wird uns genommen. Na, ich hänge mich nun aber bestimmt nächstens auf.")

„Meine Herren, den ersten militärischen Spaziergang werde ich selber leiten, Ort und Stunde des Rendez-vous werde ich noch befehlen. Ich darf wohl bitten, daß alle Herren zur Stelle sind, um zu sehen, in welcher Art und Weise ich die Sache geleitet zu sehen wünsche. Wir Berittenen reiten natürlich, meine Herren." („Und wir Leutnants können natürlich zu Fuß hinter Euren Roßschweifen herlaufen und uns die Pferdeäpfel vor die Füße werfen lassen.")

„Na, dann danke ich Ihnen, meine Herren!" („Bitte, bitte, gar keine Ursache, die Rede hättest Du Dir ruhig schenken können, ohne daß ich deswegen an gebrochenem Herzen gestorben wäre.")

Gleich darauf sitzen die Herren Leutnants im Kasino zusammen, ein Sturm der Entrüstung erhebt sich, und der freche Oberleutnant macht seinem Herzen Luft: „Militärische Spaziergänge – schon das Wort ist für einen erwachsenen Menschen deprimierend. Was soll ich sagen, wenn mein Sohn mich fragt, ob ich mit ihm spazieren gehen will? Da muß ich ihm antworten: Lieber Junge, verliere nicht die Achtung vor Deinem Vater, aber er kann nicht mit Dir spazieren gehen, weil er selbst spazieren geführt wird. Du kleiner Knirps machst ein dummes Gesicht und denkst, ja, das ist doch gar nicht möglich. Ich aber, Dein bei manchem Parademarsch geschliffener Vater, sage Dir, beim Militär gibt es alles, nur nicht eins: Selbständigkeit. Man tut nicht, was man will, sondern was man soll, und das Sollen steht mit dem Wollen immer im schroffsten Widerspruch, die Vorgesetzten sagen: aus angeborener Bockbeinigkeit der Untergebenen, die Untergebenen sagen: aus angeborener Niedertracht der Vorgesetzten. Eine Einigung ist da nie zu erzielen. An diesem Dilemma krankt man, so lange man lebt, und deshalb, mein Sohn, sei weise und höre auf Deinen Vater, der an seinem sterblichen Leib schon gar manche Unbill erfuhr und dessen Schädel sich noch immer nicht daran gewöhnen kann, daß seine Gedanken alle nichts wert sind. Höre auf Deinen Vater, spiele mit Soldaten, aber werde nie selbst Soldat, überlasse das den anderen, die da entweder nicht wissen, was sie tun, oder die derartig mit Leib und Seele für das Militär schwärmen, daß nichts im Stande ist, ihnen den Glauben zu rauben, das höchste Glück bestände darin, Soldat zu sein."

„So, nun trinken Sie mal", mahnte ein anderer Kamerad den Sprecher, „sonst reden Sie sich noch das schönste Kriegsgericht an den Hals. Und im Übrigen wissen Sie ja: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Die Sache wird vielleicht nicht so schlimm, wie sie aussieht." – – –

Am nächsten Samstag ist der erste militärische Spaziergang, fünf Kilometer vor der Stadt ist Rendez-vous, alles, was zwei und vier Beine hat, ist zur Stelle.

„Bitte, meine Herren, folgen Sie mir!" Der Herr Oberst setzt seinen Gaul in Bewegung, die anderen Rosse folgen, und hinter den Rossen folgen die Herren Leutnants.

&;bdquo;Aber bitte Ordnung, meine Herren, Ordnung, wie sieht denn das aus, wenn der Eine von Ihnen auf der rechten, der Andere auf der linken Seite der Straße herumirrt. Sie sind ja ausgeschwärmt wie ein Bienenschwarm – das verletzt mein militärisches Auge."

Und gehorsam formieren sich die Herren Leutnants zur Sektionskolonne.

Endlich hält der Herr Oberst sein Pferd an, und jeder der Herren Leutnants seine zwei Beine.

„Meine Herren, dieses Gelände ist geradezu ideal, einem Soldaten muß das Herz aufgehen, wenn er eine so prächtige Landschaft vor sich sieht."

Diese prächtige Landschaft besteht aus einem Stück Erde, dem absolut jede Naturschönheit fehlt, aber sie hat alles, was der Soldat braucht, um glücklich zu werden: gute Übersicht, freies Schußfeld, ein Défilée, Terrainfalten, tote Winkel und noch Verschiedenes mehr.

Der Oberst gibt die Idee aus: Der Feind kommt vom Norden. Die eigene Abteilung hat eine Bereitschaftsstellung eingenommen und ein kriegsstarker Zug (angenommen) ist unter Führung eines Leutnants (leider nicht angenommen) hierher an diesen Punkt, der, weil es der Oberst so will, ganz besonders wichtig ist, geschickt worden, um von hier aus das Vorgelände zu beobachten und etwaige kleine Abteilungen des Feindes zurückzuwerfen oder wenigstens so lange wie möglich aufzuhalten.

Dieser Auftrag ist nach der Auffassung des Herrn Oberst so einfach, daß auch der jüngste Leutnant, der als jüngster eo ipso auch der Törichtste ist, ihn verstehen muß. Und ebenso klar ist nach Ansicht des Kommandeurs, aber auch nur nach seiner, daß der Zugführer an einem Punkt, der ihm von der Natur extra für diesen Zweck geschaffen erscheint, einen Schützengraben aushebt.

Und um diese Antwort zu bekommen, ist das ganze Offizierkorps mobil gemacht.

Der Oberst wendet sich an einen der Herren: „Was tun Sie, nachdem Sie mit Ihrem Zug hier angekommen sind?"

Und prompt erfolgt die Antwort: „Ich kommandiere Bataillon – halt!"

Der Kommandeur wendet sich mit einem Achselzucken an den Zweiten: „Was tun Sie?"

„Ich kommandiere auch Halt."

„Und Sie?"

„Ich tue dasselbe."

Der Oberst wird etwas nervös: „Aber, meine Herren, das ist doch ganz selbstverständlich. Aber was tun Sie, nachdem Sie Halt kommandiert haben?"

„Ich kommandiere: Gewehr ab! Rührt Euch!"

Der jüngste Leutnant gibt diese Weisheit von sich, er glaubt seine Sache sehr gut gemacht zu haben, aber er erntet nur einen Blick, nur einen, aber der genügt.

„Meine Herren, Sie haben Gewehr abnehmen lassen, was tun Sie jetzt?"

„Ich kommandiere: Setzt die Gewehre zusammen!"

„Meine Herren, kommen Sie doch endlich auf den Kern der Sache. Was machen Sie mit Ihren Leuten, nachdem die Gewehre zusammengesetzt sind?"

Feierliche Stille. Niemand will der erste sein, der antwortet.

Da ertönt wieder die Stimme des jüngsten Leutnants: „Ich lasse die Leute wegtreten."

Der Oberst ringt die Hände, in den Händen aber hält er die Zügel, und so schneidet sein Gaul plötzlich die wahnsinnigsten Grimassen, dem ist plötzlich, als wenn ihm ein paar Zähne, die er sich noch bis in das hohe Alter hinein rettete, versetzt werden sollen: was vorne stand, nach hinten, was oben war, nach unten.

„Meine Herren, ich habe Ihnen die Situation klar und deutlich auseinandergesetzt. Sie haben hier den Angriff eines wahrscheinlich stärkeren Gegners zu erwarten. Sie sollen den Feind so lange wie irgend möglich aufhalten. Was werden Sie zu diesem Zweck zun?"

„Ich werde ihn beschießen."

Der Oberst krümmt sich: „Aber der Feind ist doch noch nicht da!"

„Da muß ich warten, bis er kommt."

Der Oberst nimmt sich die Mütze ab und trocknet sich den Schweiß von der Stirn.

Verwundert sehen sich nicht nur die Leutnants, sondern auch die Berittenen an: „Ich weiß garnicht, was der Kommandeur eigentlich will," flüstert ein Major dem anderen zu. „Denkt er etwa daran, hier einen Schützengraben auswerfen zu lassen? Über den Wert dieser Gräben gehen die Ansichten noch sehr weit auseinander, auch darüber, ob man sie überhaupt auswerfen soll, wenn man nicht die absolute Gewißheit hat, sie auch wirklich ausnutzen zu können, was will er nur?"

„Meine Herren, hier gibt es doch nur eins: Sie müssen einen Schützengraben ausheben lassen für stehende Schützen. Wo werden Sie denselben anlegen?"

Aus angeborener Naivetät zeigt ein Leutnant auf den am allerwenigsten geeigneten Punkt.

„Aber Herr Leutnant – – da doch nicht – – hier, wo ich jetzt mit meinem Pferd hinreite."

Er gibt in der Erregung seinem Gaul die Sporen, nur zwei Sprünge, und der Herr Oberst wäre an der richtigen Stelle, aber der Gaul hat es übelgenommen, daß man auf seine Zähne gar keine Rücksicht nahm, er keilt hinten aus und in großem Bogen fliegt der Oberst über den Hals, um gerade auf der Stelle niederzufallen, wo der Graben ausgehoben werden soll.

Es gibt ordentlich 'ne Dröhnung.

Alle eilen herbei, um die gestürzte Größe wieder auf die Beine zu bringen.

Der Herr Oberst rast, weil er sich blamierte, und er läßt seinen Zorn an seinen Untertanen aus: „Das kommt davon, wenn man die Herren mit der Nase auf den richtigen Fleck Erde stoßen muß! Meine Herren, ich kann nur sagen, mir ist noch nie etwas von so geringer Findigkeit vorgekommen, von dem Wesen der militärischen Spaziergänge haben Sie keine Ahnung, das muß ganz, ganz anders werden. Und infolgedessen bestimme ich, daß von jetzt ab nicht einmal, sondern dreimal in der Woche ein militärischer Spaziergang stattfindet."

Diesen Worten folgte nun noch eine lange Kritik, dann eilt man nach Hause, die Berittenen, mit Ausnahme dess Herrn Oberst, der es vorzieht, neben seinem Pferde zu gehen, in sausendem Galopp, die Herren Leutnants im Schritt. Trüben Blicks schauen die Leutnants in die Zukunft und es ist ihnen für heute nur ein schwacher Trost, daß wenigstens dieser erste militärische Spaziergang für den, der ihn entrierte, keine Freude und keine Erholung war.


Oben.jpg - 455 Bytes
zu Schlichts Seite

© Karlheinz Everts