Frankfurter Zeitung

Mittwoch, 9.Februar 1898


Es ging ein Säemann.

Von Freiherrn v.Schlicht

Vor mir lag ein erschreckender Haufen von Korrekturen, zum Überfluß mit dem dreimal unterstrichenen Vermerk „Eilt sehr!", und diese Worte waren wohl in erster Linie daran schuld, daß die Druckbogen schon seit drei Tagen unerledigt dalagen. Vom Militär her kenne ich das „Eilt sehr!" Da eilt alles, und das Unbedeutendste eilt schon deshalb am meisten, weil man sonst die Bagatelle inzwischen wieder vergißt. Heute aber wirklich wollte ich Ernst machen mit der Arbeit und hatte die Parole ausgegeben: Jeder, der mich stört, ist ein Kind des Todes! Das half. Wer sein Leben liebte, verhielt sich ruhig und überließ mich dem unbeschreiblich entsetzlichen Genuß der Korrekturbogen.

Da plötzlich an der Etagentür ein lautes Klingeln. Gleich darauf ein noch lauteres Gespräch auf dem Korridor. Dann öffnete mein Freund, der Rittmeister, die Zimmertür, und hinter ihm erschien meine „elegant möblierte" Witwe, bei der ich vorübergehend meinen Arbeitstisch aufgeschlagen habe. „Ich kann's nicht ändern, Herr Baron – wenn man nicht auf mich hört – ich habe keine Schuld, daß der Herr Baron nun doch gestört werden."

„So störe ich also wirklich?" Und mir die Hand reichend, ließ sich der Rittmeister a.D. in den Lehnstuhl fallen und sah sich suchend um. „Haben Sie nicht noch von den Zigarren, die Sie neulich aus Hamburg mitbrachten – ich meine die ganz großen?"

Ich erschrak: „Die wollen Sie doch nicht etwa hier zu Ende rauchen? Ich habe wirklich rasend zu tun."

Er ließ sich nicht beirren: „Wer hat das nicht? Kein Geld und zu viel Arbeit – – das ist ja nun einmal das allgemeine Feldgeschrei. Selbst die Leute, die nur Coupons schneiden, reden nicht anders." Er zündete sich die Zigarre an, die ich ihm anbot, und griff dann in die rechte Seitentasche seines weiten Jacketts: „Hier habe ich Ihnen etwas mitgebracht – nur deshalb komme ich zu Ihnen." Und vor mich hin legte er ein Buch: „Es ging ein Säemann", Roman von Bernhard Hoeft – las ich.

„Wer ist Bernhard Hoeft? *) Kenne ich nicht."

„Ich auch nicht, und das will viel sagen. Denn wenn das „Literarische Echo" alljährlich eine Umfrage erlassen würde, wer der eifrigste Leser in der Leihbibliothek ist, dann würde ich an erster Stelle genannt werden. Was soll man machen, wenn man als a.D. nichts mehr zu tun hat? Der eine schreibt Bücher – der andere liest sie – "

„Und der dritte kauft sie!"

Er klemmte sein Monokel ein und sah mich geringschätzig an: „Dichterwahnsinn", meinte er gelassen. Dann nahm er den Roman wieder zur Hand. „Den werden Sie lesen, und dann setzen Sie sich hin und schreiben Sie eine Kritik, das ist, mit Respekt zu sagen, Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit."

„Aber ich bin doch kein Kritiker – – – Kritiken sind nicht meine Sache."

„Dann schreiben Sie eine Militärhumoreske über das Buch – – ach so, das geht nicht – – " Einen Augenblick dachte er nach, dann meinte er: „Was Sie schreiben, ist Ihre Sache, dafür sind Sie Schriftsteller. Ich kann nicht mehr tun, als Ihnen die nötige geistige Anregung zu geben. Die haben Sie hier. Lesen Sie das Buch in Ihrer Eigenschaft als sogenannter gebildeter Mensch und Vater, – denn an Ihren Sohn müssen Sie bei dem Roman denken! Eins will ich Ihnen sagen: wenn ich das Buch vor zehn Jahren gelesen hätte, als meine Jungens noch so jung waren wie der Ihrige, dann hätte ich meine beiden Bengels anders erzogen und nicht ins Gymnasium geschickt. Ich hätte mir einen Hauslehrer gesucht, wie es in dem Roman der Richard Falck ist, der die jungen Seelen und Gemüter nicht nach Schema F dressiert, sondern der nach der Individualität seiner Zöglinge forscht und erst, wenn er diese kennt, sich an die Wissenschaften macht."

„In der Theorie ist das gewiß sehr schön – aber in der Praxis – "

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ach so – Pardon – ich glaubte, ich wäre zu Hause. Was Sie da sagen, ist doch Unsinn. Soll denn immer alles so bleiben, wie es ist? Nur, weil es so ist? Sollen denn die Art zu lehren und der Lehrstoff immer dieselben bleiben?"

Er schlug das Buch auf und las mir die Stelle vor, die in kurzer, charakteristischer Weise den Unterschied zwischen dem Einst und Jetzt kennzeichnet:

„Der wahre Bildungsweg geht über Hellas und Rom, Herr Kandidat – so war es stets, und so wird es bleiben. Tüchtige Griechen und Lateiner sind immer die Träger der wahren Bildung gewesen. Alles andere dient nur dem Tagesinteresse und hat auch nur einen Tageswert. Die Alten allein geben uns in der Flucht der Zeit den ruhenden Punkt. Sie schaffen Idealisten und mit und in diesen Werte der Ewigkeit. Sorgen Sie nur für tüchtige Griechen und Lateiner, Herr Kandidat."

Aber der widersprach: „Will's Gott, so will ich tüchtige, deutsche Männer erziehen, Herr Professor. Wer im Altertum lebt und webt, ist der Gegenwart entrückt. Das klassische Studium sollte mehr ein Mittel zum Kunstgenuß, nicht ein Selbstzweck sein. Dazu sind die Lehrbücher für die Jugend oft nur die engen Zellen in dem großen Gefängnis des Studiums, und ringsum bleibt die Natur, das herrlichste und weit aufgeschlagene Buch des Schöpfers, fast verschlossen und versiegelt."

Der Rittmeister klappte das Buch wieder zu: „Sehen Sie, das ist ganz meine Ansicht. Was der Mann da sagt, hat Hand und Fuß. Und wissen Sie, wie dieser Erzieher die Jugend Geschichte und Erdkunde lehrt: draußen in der freien Natur!"

„Nicht möglich," fragte ich erstaunt, und unwillkürlich dachte ich mit Schrecken zurück an meine Geschichts- und Naturgeschichtsstunden. Wie oft hatte ich die verwünscht, wie oft hatte ich mit dem Rohrstock zehn in die Hände bekommen – für jeden Finger nur einen, wie der Lehrer tröstend meinte, wenn ich die Geschichtszahlen nicht wußte und bei den verschiedenen Blumen die Anzahl der Staubgefäße nicht kannte. Und als ich endlich das Examen bestand, wußte ich von dem großen Zusammenhang der Geschichte dennoch so gut wie nichts und konnte im Wald kaum eine Buche von einer Eiche unterscheiden!

„Ja, denken Sie mal," fuhr der Rittmeister fort, „der geht mit seinen Jungens hinaus in den Wald, bei den Ruinen, bei den Hünengräbern, auf Feldern und Äckern, auf blühenden Wiesen erteilt er seinen Unterricht. Tagelang bummelt er mit ihnen draußen in der Natur herum. Er weiß durch seine Erzählungen das Interesse der Knaben zu erwecken und zu fesseln, um dann ihren Wissensdurst zu stillen. Das ist ein Lehrer, wie wir sie heute brauchen, damit unsere Kinder für die Gegenwart erzogen werden. An einer Stelle des Buches heißt es dem Sinne nach:

„Die Zukunft fordert Männer, die anders denken und handeln müssen als unsere Väter. Eine neue Zeit stellt neue Aufgaben, und ich möchte nicht das Werkzeug werden, das Geister in die Zwangsjacke der Vergangenheit steckt, möchte auch nicht mein Auge vor den bahnbrechenden Forderungen der Gegenwart verschließen."

Und Sie müssen selbst lesen, wie Richard Falck dem alten Grundsatz gegenübertritt: die Bosheit liegt bei jedem Kind auf der Lauer. Es kommt nur darauf an, sie am Ausbruch zu hindern, und dazu ist selbst gegen den kleinsten Fehltritt Strenge notwendig. Stundenlang könnte ich Ihnen aus dem Buche vorlesen, aber noch viel besser: Sie lesen es selbst. Wann wollen Sie es tun?"

„Sobald ich kann," gelobte ich.

„Schön, also noch heute."

Endlich ging er, und ich nahm die Korrekturen zur Hand. Aber vor mir lag auch der Roman. Und als aus Mittag Mitternacht geworden war, da lagen die sehr eiligen Korrekturen noch immer unerledigt – ich hatte den Roman zu Ende gelesen, die Geschichte des jungen Kandidaten Richard Falck, der, bevor er ein Pfarramt antritt, auf dem großen Gut der schönen und stolzen Witwe eine Stellung als Hauslehrer annimmt, um die beiden scheinbar unbändigen Söhne, an deren Wildheit schon die Kunst mancher Erzieher scheiterte, zu Menschen zu formen. Und ich las, wie es ihm gelingt, nicht nur das Herz der beiden Jungen, sondern auch das Herz und die Hand der Mutter für sich zu gewinnen.

Ich kann nur wiederholen, was ich dem Freunde sagte: ich habe kein Recht, Kritiken zu schreiben. Aber diesem Buche gegenüber möchte ich wenigstens sagen, daß alle Eltern, alle Lehrer, denen das Wohl und Wehe ihrer Kinder und das der heranwachsenden Jugend wirklich am Herzen liegt, das Buch nicht nur lesen sollen, sondern lesen und studieren müssen! Wie ich selbst, so wird auch mancher andere Vater, manche Mutter dann einsehen, daß sie ihren Kindern – wenn auch unbeabsichtigt – oft unrecht taten, und mehr als bisher werden sie sich Mühe geben, auf die Individualität ihrer Kinder einzugehen.

„Es ging ein Säemann" ist ein Erziehungsroman im besten Sinne des Wortes, aber zugleich auch eine ausgezeichnete Unterhaltungslektüre, spannend und fesselnd vom ersten bis zum letzten Wort, voll sinnigen Humors.

Die Haupthelden des Buches treten uns ebenso wie die vielen Nebenfiguren menschlich nahe, wenngleich sie vielleicht manchmal etwas zu klug, zu geistreich sprechen. Aber diese kleinen Fehler treten zurück hinter dem großen sittlichen und erzieherischen Wert des Buches.

Die Korrekturen sind noch immer ungelesen und werden es wohl auch morgen bleiben. Ich will den Rittmeister zu mir bitten und ihm dafür danken, daß er mir Gelegenheit gab, einmal nicht satirisch sein zu brauchen – – denn in dem ganzen Buche kommt nicht ein einziger „bunter Rock" vor.


*) „Es ging ein Säemann", Roman von Bernhard Hoeft, Verlag Heinrich Minden, Dresden und Leipzig.

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© Karlheinz Everts