Mein militärisches Glaubensbekenntnis

von Frhr. von Schlicht

in: Die Laterne, No. 35, Herausgeber: Dr. Alexis Schleimer
Verlag: Gesellschaft für gewerbliche Unternehmungen m.b.H., Berlin W
Verantwortlich für Redaktion: Telesfor Szafranski (1)

Von jeher hat es Leute gegeben, die noch weniger als garnichts zu thun haben, und es ist eine bekannte Thatsache, daß solche Leute eben auf allerlei Thorheiten verfallen. So hat sich denn kürzlich ein unbeschäftigter Europäer hingesetzt, hat die Feder, mit der er nicht recht umzugehen weiß, in die Hand genommen und hat einen Aufsatz geschrieben, der sich gegen die Tendenz meiner militärischen Plaudereien und Skizzen wendet. Der Artikel ist so thöricht, daß es sich nicht lohnt, ihn hier wiederzugeben; außerdem war der Verfasser so feige, seinen Namen nicht zu nennen, und schließlich erschien der Aufsatz in einem Blatt, das in den weitesten Teilen unseres schönen Vaterlandes selbst dem Namen nach gänzlich unbekannt ist. So könnte ich über den Aufsatz, der mich beschuldigt, die Armee anzugreifen und ihre Institutionen lächerlich zu machen, ruhig zur Tagesordnung übergehen, wenn nicht einige andere Blätter den Artikel nachgedruckt und wenn sich nicht daraus kürzlich eine kleine Preßfehde, die sich mit mir beschäftigt, entwickelt hätte.

Wäre ich Julius Stettenheim-Wippchen, so würde ich sagen: ich benutze mit Freuden diese Gelegenheit, um die Redaktion um einen Vorschuß zu bitten und die Feder dann in die Tunke zu tunken, aber einesteils bin ich nicht Stettenheim, auch noch nicht siebzig Jahre und schließlich ist die Sache denn doch zu ernst, um sie im scherzenden Ton zu behandeln. Sagen wir also lieber: ich benutze mit Freuden die mir von der Redaktion dieses Blattes gebotene Gelegenheit, mich einmal öffentlich über mein militärisches Glaubensbekenntnis zu äußern. Und da ist es unerläßlich, daß ich von meiner eigenen Person und von meiner Dienstzeit spreche.

Wie so viele Andere wurde ich Offizier, weil ich nicht wußte, was ich sonst werden sollte. Mein Mathematiklehrer erklärte mir eines Morgens, es sei nie daran zu denken, daß ich das Abitur bestehen würde, so lange ich nicht die Gleichungen mit zahllosen Unbekannten begriffen hätte, und da ich einsah, daß diese schöne Stunde der Erkenntnis nie für mich schlagen würde, ging ich als weiser Mann dem Examen aus dem Wege - ich habe es hinterher oft genug bereut.

Von der Prima des Gymnasiums ging ich schleunigst auf den Kasernenhof einer kleinen Garnison, und da ich im Mai eintrat, zu einer Zeit, in der weder Einjährige noch Rekruten exerzierten, wurde ich ganz allein ausgebildet. Und ich muß schon sagen: schon während dieser Zeit bildete sich bei mir mein Urteil über den Dienst, das sich in den zwölf Jahren, die ich der Armee angehört habe, immer mehr und mehr befestigte. Ich bin zwölf Jahre Soldat gewesen, aber ich will offen bekennen: gern war ich es nie. Vielleicht lag das daran, daß mir schon als Fähnrich jede Freude am Dienst genommen wurde. Als ich eintrat, war ich ein schmächtiger junger Mensch von neunzehn Jahren mit einer keineswegs militärischen Figur: meine Haltung, mein Gang, mein etwas hohles Kreuz, kurz, mein Äußeres erschwerte die Ausbildung sehr. "Mit der Instruktion geht es ja, Fähnrich", meinte mein alter Sergeant Fricke, wenn ich ohne große Schwierigkeiten begriff, was voll Korn, fein Korn und gestrichenes Korn bedeutete, mit der Bildung ging's, nicht aber mit dem Exerzieren: mein Parademarsch war nie schön und wenn "stillgestanden" kommandiert war, ließ meine Haltung stets zu wünschen übrig. Mein Sergeant sah ein, daß ich mir die größte Mühe gab, daß ich aber trotzdem so blieb, wie die Natur mich geschaffen hatte, und war infolgedessen nachsichtig; mein Hauptmann und mein Leutnant aber dachten über diesen Punkt anders. Viel Liebenswürdigkeiten habe ich als Fähnrich nicht zu hören bekommen, im Gegenteil, manch böses Wort, sodaß selbst die Unteroffiziere und die Mannschaften Mitleid mit mir hatten und mir halfen, wo sie nur irgend konnten. Ich bin kein böser Mensch, aber meinem Hauptmann habe ich heute noch nicht verziehen, wie schlecht er mich behandelte. Kein Wort des Lobes, der Aufmunterung, nur Tadel, Tadel, und zwar unverdienter Tadel, denn meine Schuld war es doch nicht, daß ich nicht vorschriftsmäßig gewachsen war. Und damals schon wurde in mir der Glaube wach, der im Laufe der Zeit zur Gewißheit wurde: wir exerzieren nicht für den Krieg, wir exerzieren für die Parade. Jetzt wird ja zwar auf die Schießausbildung ein großer Wert gelegt, aber der Parademarsch wird darüber nicht vergessen, und für den Leutnant ist die Hauptsache, daß er einen guten Parademarsch macht und eine tadellose persönliche Haltung besitzt. Oh, diese persönliche Haltung! Selbstverständlich kommt es auch auf die geistigen Fähigkeiten an, selbstverständlich - aber ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß diese allein nicht genügen, um den Offizier eine glänzende Karriere machen zu lassen, und ich könnte diese Behauptung durch viele Beispiele illustrieren. Ich sah schon manchen tüchtigen Offizier frühzeitig den Abschied bekommen, lediglich weil seine Haltung nicht militärisch genug war. Und den Grund hierfür habe ich nie einsehen können, sehe ihn auch heute noch nicht ein; es will mir nicht in den Sinn, daß Jemand nicht kommandierender General oder Regimentskommandeur werden soll, lediglich weil er schlecht gewachsen ist. Wir legen zu viel Wert auf Äußerlichkeiten, wir werden mit der Zeit zu sehr Paradetruppe, vielleicht nicht zu unserem Besten.

Hier möchte ich mitteilen, womit ich eigentlich hätte beginnen müssen: Wenn ich an unseren militärischen Verhältnissen Kritik übe, wenn ich mich über manches lustig mache, manches verspotte, hin und wieder auch einmal etwas geißele, so geschieht das lediglich, weil ich die Armee liebe. Und nur einen Menschen, den man lieb hat, macht man auf seine Schwächen aufmerksam - so geht es mir mit dem Militär. Ich war ungerne Soldat, aber ich bin doch stolz darauf, Offizier gewesen zu sein. Unser Heer hat vielleicht keinen größeren Verehrer als mich und nie ist es mir jemals in den Sinn gekommen, an den beiden Grundpfeilern unserer Armee, der Disziplin und der Subordination rütteln zu wollen. Gehorsam muß sein, blinder Gehorsam, und im Interesse der Disziplin ist nach meiner Ansicht die Einführung der zweijährigen Dienstzeit kein Schritt zur Besserung. Die Disziplin ist nicht mehr so, wie sie war, und auch der alte militärische Schneid ging verloren - natürlich ist das nur meine subjektive Ansicht, aber ich glaube, daß ich mit der Ansicht nicht allein dastehe. Alle anderen Nationen beneiden uns um unser Heer, das unerreicht dasteht: sein Ruf ist begründet und steht felsenfest. Die Armee ist über jedes Lob und über jeden Tadel erhaben. Wie ist es da nur möglich, daß man mir allen Ernstes zumutet, ich untergrabe absichtlich das Ansehen des Heeres - wie kann man meinen Arbeiten nur einen solchen Wert beilegen ? Und vor allen Dingen, wie kann man meinen Arbeiten eine solche Absicht zuschreiben ? Wer das thut, der verkennt mich ganz und der kennt die Armee nicht: mein Humor und meine Satire sind nicht imstande, Schaden anzurichten, sie sollen es vor allen Dingen auch garnicht: sie sollen nur die Schäden zeigen, an denen wir kranken, sie sollen die wunden Stellen zeigen - sie zu heilen ist die Aufgabe Anderer. Und wenn ich meiner Satire nach Ansicht Mancher vielleicht zuweilen einen etwas zu freien Lauf lasse, dann geschieht es, nicht wie Viele meinen, weil ich durch den Dienst verbittert bin (was absolut nicht der Fall ist), sondern weil das, was ich dann gerade schildere, stärkere Farben verlangt. Ich habe die Armee sehr lieb und gerade deshalb thut es mir um sie leid, daß vieles so ist, wie es ist. In meinen zahlreichen Skizzen und Büchern habe ich, bei aller Liebe zu dem Heer, zu zeigen versucht, woran es krankt; ich weiß, ich bin dabei oft rücksichtslos vorgegangen, aber ich wurde dabei stets von der besten Absicht geleitet. Man hat mir oft gesagt: "Schildern Sie nicht beständig die Schattenseiten des Militärs - Sie können sie ja doch nicht ändern." Das mag ja sein, aber ich würde gegen meine Überzeugung schreiben, wenn ich anders schreiben würde. Ich habe zwölf lange Jahre hindurch mit offenen Augen und mit offenen Ohren auf dem Kasernenhof gestanden, ich bin mit zahllosen Offizieren der verschiedensten Waffengattungen in den verschiedensten Garnisonen zusammengetroffen und habe aufmerksam zugehört, wenn die Herren mir ihre militärischen Erlebnisse schilderten - ich habe sehr viel Licht, aber auch sehr, sehr viel Schatten gefunden.

Ein sehr lieber Freund, ein alter Offizier a.D., sagte mir kürzlich: "Ich lese alle Ihre Sachen, aber ich verstehe sie nicht - Zustände, wie Sie dieselben schildern, sind mir ganz fremd." Und wie er, so sprechen fast alle alten Offiziere, diejenigen, die schon vor zehn oder zwanzig Jahren in den Ruhestand traten. Die jüngere Generation aber spricht anders, die stimmt mir bei, wie zahllose Zuschriften, die ich meist von feuchten Liebesmählern erhalte, mir beweisen. Das ist der beste Beweis dafür, daß die Armee sich in den letzten Jahren sehr, sehr verändert hat: es herrscht ein ganz anderer Geist, es weht ein ganz anderer Wind. Und der Wind weht sehr scharf, zu scharf manchmal. Und das ist nicht gut. Ein alter General sagte mir einmal im Manöver, als ich neben ihm ritt: "Wenn ich des Abends schlafen gehe, stelle ich stets einen Cylinder neben mein Bett, denn heutzutage weiß man nie, ob man am nächsten Morgen nicht als Civilist erwacht." Das Wort ist ebenso charakteristisch wie wahr: je höher der Offizier steht, auf ebenso wackligeren Füßen steht er. Ich könnte Dutzende von Beispielen anführen, wo tüchtige Offiziere wegen einer Bagatelle ganz plötzlich den Abschied bekamen. Die Furcht vor der Verabschiedung ist das Schreckgespenst, das hinter jedem Offizier steht. Schon mit Rücksicht auf seine finanzielle Lage will ein Jeder es möglichst weit bringen, und um dieses Ziel zu erreichen, thut er aus Furcht vor einer frühzeitigen Verabschiedung so vieles, was er sonst nicht thun würde: er opfert seinen Glauben, seine Überzeugung, seine eigene Persönlichkeit. Er thut nicht im Interesse des Dienstes, was er will, was er für richtig und ratsam hält, sondern er thut lediglich, was befohlen ist, auch wenn es mit seiner eigenen Ansicht im direkten Widerspruch steht. Aus selbstbewußten Menschen werden Maschinen, die mechanisch thun, was sie sollen - sie müssen es thun -, thun sie es nicht, dann thun es Andere - dann ist aber für sie kein Platz mehr da. Und in weiterer Folge entsteht hieraus das Kriecher- und Strebertum. Die Zahl Derer, die dem Vorgesetzten nach dem Munde reden, die da dienen und Bücklinge machen, nur um lieb Kind zu werden und um dadurch noch im Dienst zu bleiben und zu avancieren, mehrt sich von Jahr zu Jahr.

Und das ist im Interesse der Armee nicht gut. Augenblicklich herrscht einmal wieder das Zeitalter der Besichtigungen - der ganze Dienst ist darauf zugeschnitten, daß bei den Besichtigungen gut abgeschnitten wird. Der Hauptmann, der Major oder wer es sonst ist, muß gut abschneiden. Der höhere Vorgesetzte kommt doch lediglich, um sich davon zu überzeugen, was der Untergebene kann, und wenn dieser dann "schlechte Geschäfte" macht, dann steht das Urteil des Vorgesetzten fest. Es wird viel zu viel Wert auf die Leistung eines einzelnen Tages gelegt - ein Tag entscheidet häufig über Sein oder Nichtsein. So wird lediglich auf die Besichtigungen hingearbeitet, die Steckenpferde der Vorgesetzten sind bekannt, der Eine legt hierauf Wert und der Andere darauf. Und was verlangt wird, wird gemacht, gemacht wird Alles - die Hauptsache ist ja, daß die Besichtigung gut verläuft. Man arbeitet also gewissermaßen nicht an der Ausbildung der Armee, sondern man arbeitet für seine eigene Existenz.

Und auch das ist im Interesse der Armee nicht gut. Und noch so vieles Andere ist nicht gut: nicht in letzter Linie die kolossale Unselbständigkeit, die heutzutage künstlich großgezogen wird. Der Oberst spricht dem Major hinein, wenn der sein Bataillon exerziert, der Major redet dem Hauptmann beständig hinein, wenn dieser mit seiner Kompagnie exerziert, und der Hauptmann läßt seine Leutnants ihre Züge nicht selbständig exerzieren, sondern exerziert sie am liebsten ganz allein, weil die Leutnants es nach seiner Meinung doch nicht richtig machen und weil er doch den höheren Vorgesetzten gegenüber der allein Verantwortliche ist. Gewiß muß eine Kontrolle seitens der Höheren bestehen und ausgeübt werden, aber sie darf nicht so gehandhabt werden, wie es heute geschieht - so wie man es jetzt macht, wird den Unteren die Freude und die Liebe am Dienst genommen. Der Leutnant sagt sich nicht ohne Grund: was hat es für einen Zweck, irgend etwas anzuordnen; sobald mein Hauptmann kommt, ist ja doch alles, was ich gemacht habe, mehr oder weniger Unsinn. Und die Unselbständigkeit, die auf dem Kasernenhof großgezogen wird, zeigt sich auch bei den Felddienstübungen, und sie wird sich vielleicht einst im Kriege bitter bestraft machen. Die künstlich großgezogene Unselbständigkeit ist im Interesse der Armee um so mehr zu beklagen, als das Reglement besonders hervorhebt, die Selbständigkeit der Führer nach Möglichkeit zu fördern, zu schützen und zu mehren. Bei einer Armee wie der unserigen bedarf es nicht der ausdrücklichen Betonung, daß unsere höheren Offiziere nicht absichtlich gegen die Bestimmungen des Reglements verstoßen - wenn sie ihren Untergebenen fortwährend auf der Pelle sitzen, so geschieht dies lediglich infolde des jedem Wesen innewohnenden Selbsterhaltungstriebes. Die Furcht vor der Verabschiedung ist auch her das punctum saliens. Früher gab es eine Majorsecke - heutzutage können schon alte Oberleutnants, mit denen sich aufzuhalten nach Ansicht der Höheren keinen Zweck hat, kaltgestellt werden: man verabschiedet sie nicht gerade, aber man kommandiert sie zu einem Bezirkskommando oder zu einem ähnlichen Posten, wo sie kein Unheil anrichten können, sich finanziell verschlechtern und keine Aussicht mehr haben, jemals Karriere zu machen; in die Front kommen sie nicht wieder zurück.

Und noch viel, viel trauriger als die Unselbständigkeit, die ich oben zu charakterisieren versuchte, ist die Unselbständigkeit, in der sich jeder Untergebene jedem Vorgesetzten gegenüber befindet, sobald dieser den Degen zíeht oder zu sprechen beginnt. Gewiß, "das Maul muß gehalten werden", und die Armee könnte sich einbalsamieren lassen, wenn da jeder sagen könnte, was er wollte, wenn er dem Vorgesetzten ins Wort fallen und mit ihm diskutieren würde. Gehorsam muß sein, blinder Gehorsam, aber ich finde, daß der Untergeben sich heutzutage zu sehr in der Gewalt des Vorgesetzten befindet. Ein Mann kann, lediglich weil er Oberst oder Hauptmann ist, einem Untergebenen, einem Hauptmann oder einem Leutnant das Leben zur Hölle machen. Auch für die Wahrheit dieser meiner Behauptung könnte ich Dutzende von Beispielen anführen. Noch kürzlich saß ich mit einem jungen Kavallerieoffizier bei einer Flasche Sekt, aber selbst der Champagner vermochte ihn nicht heiter zu stimmen. "Was haben Sie denn nur ?" fragte ich. Da stieß er einen greulichen Fluch aus und schalt auf seinen Oberst: "Seitdem wir den haben, ist bei uns die ganze Liebe und Freude am Dienst zum Teufel. Unser bester Rittmeister hat bereits seinen Abschied genommen, zwei weitere haben ihn bereits eingereicht, am liebsten gingen wir Alle." Ein Untergebener ist dem Vorgesetzten gegenüber ein willenloses Werkzeug, der Höhere kann mit dem Untergebenen schalten und walten, wie er will: er kann ihm Dienst ansetzen, daß ihm der Atem ausgeht, er kann körperliche Anstrengungen, körperliche Leistungen verlangen, die über seine Kräfte hinausgehen, und er kann ihm Dinge sagen, Dinge, die dem, der sie anhören muß, die Röte der Scham in die Wangen treiben. Ich denke eben an einen alten Regimentskameraden, der, als er noch Leutnant war, eines Abends zu mir kam und vor Wut über seinen Hauptmann weinte. Ich riet ihm, sich zu beschweren, aber ein Offizier beschwert sich eigentlich nie, denn schließlich sind doch alle Offiziere Kameraden und außerdem lag auch hier, wie fast immer, kein direkter Anlaß zu einer Beschwerde vor: das ist ja eben das Traurige, daß ein Vorgesetzter seinen Untergebenen bis auf das Blut peinigen kann, ohne Grund zu einer Beschwerde zu geben. Wenn der Vorgesetzte sich aller Schimpf- und Scheltworte enthält, wenn der Hauptmann beispielsweise seinen Leutnant nicht direkt den Vorwurf der Faulheit oder einen ähnlichen Vorwurf macht, der einer persönlichen Beleidigung gleichkommt, dann ist der Leutnant machtlos, dann muß er alles einstecken, was ihm gesagt wird. Und nicht nur dem Leutnant geht es so: ich habe Stabsoffiziere vor rücksichtslosen Regimentskommandeuren zittern sehen. Das macht böses Blut, viel mehr böses Blut, als man glaubt und ahnt. Und auch das ist im Interesse unserer schönen Armee nicht gut.

Nun wird man mir vielleicht entgegnen, daß Zustände, wie ich sie auf dem knappen, mir zur Verfügung stehenden Raum schilderte, Ausnahmen sind, daß es nicht überall so ist, daß es doch auch Vorgesetzte giebt, die ihre Untergebenen gut behandeln, die in ihm die Liebe zum Dienst wachhalten und sie zu stärken verstehen. Gewiß ist das der Fall, das unterschreibe ich mit Freuden - aber die Zahl der Ausnahmen, die ich schildere, ist größer, als man ahnt. In meinen Skizzen habe ich mich bemüht, nicht nur die Schwächen zu geißeln, sondern auch zu zeigen, worin sie bestehen. Und wohlverstanden: ich mache nie einem Einzelnen einen Vorwurf; ich verarge es einem armen Hauptmann, der zu Haus Weib und Kind hat und keinen Groschen Privatvermögen mehr besitzt, garnicht so sehr, wenn er brutal um seine Existenz kämpft, wenn er seine Offiziere häufig sehr schlecht behandelt, lediglich um gute Resultate zu erzielen und noch im Dienst zu bleiben. Von oben herab wird ein mächtiger Druck nach unten ausgeübt, die Anforderungen werden immer größer - was früher in drei Jahren geleistet wurde, soll jetzt in zwei Jahren geschafft werden - unter dem Druck von oben leiden Alle und ein Jeder drückt auch seinerseits wieder nach unten. Es herrscht keine Ruhe mehr bei der Ausbildung der Truppe, es ist ein Drängen und Hasten nach einem augenblicklichen Erfolg, man hat kaum Zeit aufzuatmen; wenn die eine Exzellenz fort ist, dann schon ist die andere in Sicht; es ist ein beständiger Kampf um die eigene Existenz, jeder ist sich selbst der Nächste; was liegt dem Oberst daran, ob sein Hauptmann den Abschied bekommt, wenn er selbst nur General wird ? Leider steht mir in diesem Augenblick das statistische Material nicht zur Verfügung, aber von Jahr zu Jahr mehrt sich die Zahl der Offiziere, die unter der Einwirkung der augenblicklich herrschenden militärischen Zustände nicht nur körperlich, sondern auch geistig erkranken.

Nicht die Armee geißle ich mit meinen Skizzen - die steht dazu viel zu hoch, sie steht meinem alten Soldatenherzen dazu viel zu nahe - wohl aber versuche ich, die Art und Weise, in der augenblicklich der Dienst gehandhabt wird, zu geißeln, und ich bemühe mich, zu zeigen, daß die augenblicklich bemerkbare Nervosität in der Armee Schuld ist an den herrschenden Zuständen. Ich hoffe, daß nicht alles so bleibt, wie es ist, und wenn meine Hoffnung in Erfüllung ginge, dann wäre das gut für die Armee.

Frhr. von Schlicht

 

(1) (Frhr. von Schlicht (= Wolf Graf von Baudissin) hat zusammen mit T. Szafranski im Jahre 1900 das Bühnenstück "Eine gute Idee" verfaßt.


© Karlheinz Everts zurück