Die zärtliche Tochter

Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Ihr Trick”


Setty Brückner, die einundzwanzigjährige Tochter der verwitweten Frau Oberstleutnant, die seit etwa vierzehn Tagen mit ihrer Mutter auf Kosten ihrer Tante Hanna hier in dem eleganten Badeort weilte, saß in ihrem Hotelzimmer, das sie glücklicherweise für sich allein bewohnte, nun wenigstens schon seit einer halben Stunde mit nackten Beinen und mit nackten Füßen, die in zierlichen kleinen Pantoffeln steckten, vor ihrem Schuh- und Strumpfkoffer und überlegte immer wieder: was für Schuhe und namentlich was für Strümpfe ziehst du nur an, damit die Augen dieses Herrn Benno Langenheim, der seines fabelhaften Geldes wegen mit solcher Ungeduld im Hotel erwartet wird, nachher bei seiner Ankunft auch gleich mit Wohlgefallen auf dir und deinen schlanken Gliedern ruhen, vorausgesetzt, daß die ihm nicht zu schlank sind, denn die Geschmäcke der Männer sind ja namentlich in der Hinsicht leider verschieden. Sogar sehr leider!

Natürlich, stärkere Formen als ihre Beine sie hatten, konnte sie ihnen bei dem besten Willen nicht geben, selbst dann nicht, wenn es unbedingt nötig gewesen wäre, um diesen Herrn Benno Langenheim gleich von vornherein, wenn er an ihr vorbei die Treppen hinaufstieg, für sie und ihren tadellosen schlanken, aber keineswegs auch zu schlanken Wuchs einzunehmen. Doch die seidenen Strümpfe hatten es ja nun einmal glücklichrweise an sich, daß deren verschiedene Farben die Glieder verschieden stark erscheinen ließen. Schwarze machten ganz schlank, beinahe so schlank wie hellgraue und wie hellgrüne. Weiße machten dicke, plumpe Wadenbeine, dunkelrote auch ziemlich starke, während ein helles Rosarot sehr zarte, feine Linien hervorzauberte. Die lila machten etwas stramme Beine, die lachsfarbenen dagegen beinahe schlanke Elfenglieder. So hatte jede Farbe ihre Eigentümlichkeiten, und in ihrem Strumpfkoffer war jede, aber auch jede Nuance vertreten, und als sie nun bei der Qual der Wahl zu keinem Resultat gelangen konnte, das schon deshalb nicht, weil zu dem Kleid, das sie nachher anziehen wollte, alle Strumpffarben gleich gut paßten, wurde sie ihrem Vetter Hans Heinrich, dem sie alle diese Schätze verdankte, beinahe etwas böse. Aber trotzdem dachte sie nun für einen kurzen Augenblick gern an ihn zurück, und ganz deutlich sah sie ihn in Gedanken vor sich, mittelgroß, kaum größer als sie selbst, schlank und geschmeidig, der Typus des ehemaligen preußischen Leutnants, der auf allen Gesellschaften und auf allen Bällen das Entzücken der jungen Mädchen bildete, bis er ihnen des Nachts, nach Schluß der Gesellschaft, in ihren Träumen erschien.

Trotzdem Hans Heinrich ganz wesentlich älter war als sie, waren sie beide immer sehr gut freund miteinander gewesen. Ja, als er heil und unversehrt aus dem Krieg zurückkehrte, hatten sie stark miteinander geflirtet, und sie hatte es ihm gern erlaubt, daß er sie bei jeder Gelegenheit küßte, und sie hatte ihn erst recht bei jeder Gelegenheit wiedergeküßt, denn irgendwie mußte sie sich ihm doch dafür dankbar erweisen, daß auch er da draußen im Felde sein Leben und seine Gesundheit täglich für sie alle in der Heimat auf das Spiel setzte. Und außerdem hielt er sich nur vorübergehend bei seinen Eltern, die mit den ihrigen in derselben Stadt wohnten, auf, denn auch für ihn galt es, sich nach dem Zusammenbruch und nach der Auflösung des Heeres baldmöglichst eine neue Stellung zu suchen. Und da, kurz bevor er von ihr Abschied nahm, um nach Berlin zu gehen, wo er durch einen Zufall einen guten Posten bei einem großen industriellen Unternehmen gefunden hatte, sagte er eines Abend, als sie, ihn küssend, auf seinem Schoße saß, zu ihr: „Du, Setty, ich habe es mir überlegt, und ich will dir eins versprechen. Wenn ich in Berlin vorwärtskomme und dort gut verdiene, will ich meinerseits mein Teil dazu beitragen, daß du dich immer hübsch anziehen kannst, und da ich weiß, wieviel Wert du mit Recht auf hübsche Strümpfe und Schuhe legst, werde ich in der Hinsicht fortan für dich sorgen. Ein Mann, ein Wort.”

Mit heissen Küssen hatte sie ihm gedankt, namentlich, nachdem er noch erklärend hinzugesetzt, daß er ihr natürlich nur seidene Strümpfe und nur Lackschuhe schenken würde, denn baumwollene oder gar wollene Strümpfe und dicke Regen- oder Winterwichsstiefel zu schenken oder als Geschenk von ihm anzunehmen, wäre ihrer beide unwürdig. Und da hatte sie ihm, das aber natürlich nicht ihretwegen, sondern nur um seiner selbst willen, von ganzem Herzen und mit vielen Worten gewünscht, daß alle seine Zukunftshoffnungen auch in Erfüllung gehen möchten, denn er sei ein so reizender, lieber Mensch, daß gerade er, er viel mehr als irgendein anderer, es verdiene, daß er fortan stets alle Taschen ganz dick voller Banknoten habe. Und dann hatte sie ihm unter vielen Küssen gestanden, wie dankbar, nein, wie schrecklich, furchtbar unaussprechlich dankbar sie ihm sein würde, wenn er ihr später wirklich zuweilen ein Paar hübsche seidene Strümpfe oder ein Paar hübsche Schuhe schicken würde. Und damit er es auch nicht vergäße, schrieb sie ihm mit vielen heißen Küssen ihr Fußnummer in das Gedächtnis.

Wenige Tage später schlug für sie beide die Abschiedsstunde, und dann war es Hans Heinrich über alles Erwarten schnell gelungen, sich in seiner neuen Stellung eine glänzende Position zu schaffen. Sein Chef war, wie er es ihr schrieb, mit ihm ganz außerordentlich zufrieden und stellte ihn in seinem Riesenbetrieb bald auf einen anderen Platz, der ihm ein bedeutend erhöhtes Einkommen brachte, und von diesem hatte er eines Tages für sie in Berlin die ersten Einkäufe gemacht. Und ein so großes Paket kam für sie an, daß sie ihren Augen nicht traute, als sie es auspackte, denn was er ihr da schickte, reichte mindestens für ein paar Jahre. Aber trotzdem sandte er ihr nach einigen Monaten abermals ein neues, wenn auch nicht ganz so großes Paket, und auch jetzt noch, wenn er in irgendeinem Schaufenster etwas besonders Hübsches und Apartes an Schuhen und Strümpfen sah, dachte er an sie und machte ihr damit immer eine ganz, ganz große Freude, die aber natürlich noch viel größer gewesen wäre, wenn ihre Eltern und wenn, seitdem ihr Vater gestorben, ihre Mutter nicht jedesmal gescholten und weder Hans Heinrich noch sie verstanden und nicht immer wieder erklärt hätten: „Statt dieses Tandes, den du doch in Jahr und Tag nicht auftragen kannst, sollte Hans Heinrich dir lieber das bare Geld geben, oder noch besser, wenn er so verliebt in dich ist, wie es den Anschein hat, sollte er dich heiraten.”

Aber an eine Heirat mit ihr dachte Hans Heinrich, so gern sie selbst ihn auch geheiratet hätte, leider nicht eine Sekunde, schon weil sie Vetter und Cousine waren. Aber sie hätte ihn trotzdem sehr gern genommen, schon um dadurch der häuslichen Misere und den ewigen Klagen ihres Vaters zu entgehen, der seit seiner Verabschiedung nichts anderes tat, als über die Republik und über alles, was die neue Zeit mit sich brachte, zu jammern und zu stöhnen, bis ein Schlaganfall eines Tages seinem Leben ein frühzeitiges Ende machte.

Aber das fing das Elend erst recht zu Hause an, denn die Witwenpension, die die Mutter bezog, langte trotz der gelegentlichen Teuerungszulagen natürlich weder vorne noch hinten, und je höher die Preise für die Lebensmittel und für alles andere wurden, desto mehr hieß es, sich einzuschränken, so daß sie sehr bald in die bitterste Not geraten wären, wenn nicht Tante Hanna, eine entfernte Verwandte ihres verstorbenen Vaters, plötzlich ihr gutes Herz entdeckt und sich ihrer angenommen hätte.

Tante Hanna, die in glänzenden Verhältnissen lebte, schickte reichlich und anscheinend auch sehr gern, bis dann auch sie zu jammern und zu stöhnen begann. Wie so viele Frauen, hatte auch sie, um ihr Vermögen zu vergrößern, an der Börse spekuliert. Zuerst mit sehr gutem Erfolg, bis der unausbleibliche Rückschlag kam, der ihr große Verluste brachte. Und diese Verluste mit der Vermögensabgabe und den hohen Steuern ließen allmählich auch Tante Hanna anfangen, in ihren Briefen zu jammern und zu stöhnen, zwar nicht darüber, daß sie sich nicht mehr satt essen und daß sie sich nur noch alle acht Tage ein Stück Fleisch kaufen könne, nein, das nicht, aber Tante Hanna schrieb doch, daß sie sich manche Einschränkung und Entbehrung auferlegen müsse, die sie noch vor kurzem, als ihre Börsenspekulationen so glänzend gingen, für ganz unmöglich und undenkbar gehalten hätte. Damals wäre sie in der glücklichen Lage gewesen, sich jeden, aber auch jeden Wunsch erfüllen zu können, aber heute lägen die Verhältnisse auch für sie leider ganz anders. So habe sie letzthin, um nur eins anzuführen, darauf verzichten müssen, sich den wahrhaft blendend schönen Hut zu kaufen, den sie vor einiger Zeit in dem Schaufenster des elegantesten und größten Berliner Hutgeschäftes gesehen habe. Der Hut wäre ein Märchen aus Tausenundeiner Nacht gewesen, keine Feder, kein Reiher, kein Nichts, nur Hauch, Duft, Seide und Fasson, und verhältnismäßíg gar nicht mal so fürchterlich teuer, denn er habe nur achtzehntausend Mark, natürlich tausend, nicht hundert, gekostet, aber trotzdem hätte sie das leider für ihre Verhältnisse zu hoch gefunden, und wenn sie, Setty und ihre Mutter, glaubten, daß es in Berlin keine Hüte für achtzehntausend Mark und darüber gäbe, irrten sie sich sehr, und die Hüte müßten in dem Geschäft auch so teuer sein, damit alle reichgewordenen Schieberfrauen damit prahlen könnten, daß sie ihre Hüte selbstverständlich nur bei der Firma kauften. Würde das Geschäft die Preise um die Hälfte oder um noch mehr heruntersetzen, müßte es nach zweiundsiebzig Stunden den Laden zumachen, dann kaufte kein Mensch dort mehr, denn damit, einen Hut zu zwei- oder dreitausend Mark zu tragen, könne doch keine reichgewordene Frau renommieren.

Und im Anschluß an diese philosophisch-pessimistischen Hutbetrachtungen hatte Tante Hanna in ihrem Brief zum erstenmal ihrerseits mit ganz großen schwarzen Brillengläsern in die Zukunft gesehen und der Befürchtung Ausdruck gegeben, es würde ihr zu ihrem aufrichtigsten Bedauern auf die Dauer wohl nicht möglich sein, in der bisherigen Weise weiter für sie beide zu sorgen, denn wenn sie auch gern bereit wäre, ihren lieben Verwandten manches Opfer zu bringen, und wenn sie das auch schon dadurch bewiesen hätte, daß sie sich den Achtzehntausendmarkhut nicht kaufte, ganz ohne Hut könne sie natürlich auch nicht gehen, am allerwenigsten in Berlin. Aus diesen und aus anderen Gründen müsse sie leider, leider sagen, daß sie sehr bald so viel wie bisher nicht mehr werde helfen können, aber trotzdem denke sie nicht daran, nun gleich ihre hilfreiche Hand von ihnen zu ziehen, sondern sie werde weiter helfen, bis sie, Setty, einen reichen Mann geheiratet habe, und sie, Tante Hanna, würde alles tun, was in ihren Kräften stände, damit sie den bald bekäme. Zu dem Zweck stelle sie ihnen für eine Reise in ein Bad, das sie sich selbst aussuchen könnten, einen Betrag zur Verfügung, der es ihnen beiden erlaube, in dem allerersten und teuersten Hotel standesgemäß zu leben. Auch die Kosten für die Anschaffung der neuen Kleider und für das, was sonst noch nötig wäre, nähme sie auf sich, sie würde sich in keiner Weise lumpen lassen, und auf zwanzig- oder dreißigtausend Mark mehr oder weniger solle es ihr nicht ankommen. Das sei dann aber auch das letzte, was sie täte und was sie tun könne, und sie setze es deshalb als selbstverständlich voraus, daß sie, Setty, ihrerseits alles tun würde, was nur irgend in ihren Kräften stände, um einen reichen Mann zu bekommen. Und sie sei ferner fest davon überzeugt, daß ihre liebe Mutter ihr dabei helfen würde.

Dazu hatte sich die Mutter, als sie beide zuzusammen Tante Hannas Brief gelesen, auch sofort mit tausend Freuden bereit erklärt, aber Setty hatte abgewinkt: „Nein, lass' nur, Mutter, die Sache mache ich schon, wenn ich überhaupt einen Herrn kennenlernen sollte, der für mich als Mann in Frage kommt, lieber alleine. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe immer die Empfindung, als wenn die Mutter, selbst wenn sie noch so gut aussieht, auf den Freier etwas abstoßend wirkt, schon weil er sich dann ganz unwillkürlich sagt: so oder so ähnlich wie die Mutter wird das Mädel, um das du dich heute bewirbst, später einmal selbst aussehen, und es ist nicht klug, Mutter, einen Freier durch solche Gegenüberstellung daran zu erinnern, daß man überhaupt einmal alt oder wenigstens älter und weniger hübsch wird. Ebensowenig wie der Herr, der da wirbt, nicht daran denkt, ja, wie der sogar ganz bestimmt nicht daran glaubt, daß er jemals alt wird, seine Haare verliert und einen Schmerbauch bekommt, ebenso will er auch nicht wissen, daß das Mädel seiner Wahl nicht immer zwanzig, oder wie alt es sonst ist, bleibt. Und schließlich hat der Herr doch auch nicht gleich seinen alten, von der Gicht oder von einem Schlaganfall heimgesuchten Vater bei sich, damit seine spätere Braut sich den ansehen und sich dabei beständig sagen kann: so also wird dein Arthur oder dein Fritz auch eines schönen Tages aussehen. Ich meine, je alleiner ein junges Mädchen auf Bräutigamschau ausgeht, desto eher findet sie auch einen Mann. Die Gegenwart einer Mutter schadet da viel eher, als daß sie hilft, schon weil die Tochter sie natürlich nicht beständig in alle Einzelheiten ihres Eroberungsplanes einweihen kann und weil sie da fortwährend Gefahr läuft, daß die Mutter ihre fein angelegten Pläne zerstöre, oder daß sie die, wenn auch völlig unbewußt, durchkreuzt.”

In diesem Sinne hatte sie damals lange auf die Mutter eingesprochen und ihr auseinandergesetzt, daß sie sich von der Badereise nur dann einen Erfolg verspräche, wenn die Mutter ihr eidlich geloben würde, ihr bei der Durchführung des Tricks, den sie sich da ausdenken wolle, um ihren späteren Mann einzufangen, völlig freie Hand, und beinahe hätte sie auch gesagt, völlig freie Beine zu lassen, denn welche Rolle bei dem Männerfang in der heutigen Zeit die Beine spielten, war ja bekannt. Das hatte sie erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit an ihrer Freundin Käthe erlebt. Die was alles andere als hübsch, die war sogar beinahe häßlich, dabei mehr als dumm. Man konnte mit ihr nur über die banalsten und über die gleichgültigsten Dinge sprechen, und zuweilen nicht einmal das. Dazu kam, daß die Käthe lispelte, und wenn sie in der Hinsicht ihren besonders guten Tag hatte, spuckte sie etwas beim Sprechen, so daß man gut daran tat, sich nicht zu dicht an sie heranzusetzen, aber das Mädel hatte trotzdem eine wahrhaft glänzende Partie gemacht. Und warum? Weil sie ein Paar Beine besaß, die in jedem Mann, der nicht aus Holz war, den Wunsch und die Begierde erregen mußte, die sein eigen zu nennen. Aber so schön Käthes Beine auch waren, am allerschönsten wirkten sie in braunseidenen Strümpfen und in hohen, braunen Schnürstiefeln, und deshalb war es Käthes Trick, sich, wenn das Wetter es irgend erlaubte, nur in diesen auf der Straße zu zeigen. Das war ihr Trick, den sie selbst zugab, und von dem sie immer ganz offen erklärte: „Auf den wird schon eines Tages irgendeiner hineinfallen, denn ganz ohne daß wir mit irgendeinem Trick irgendwie nachhelfen, geht es nun einmal nicht.”

So stand es auch für sie längst fest, daß sie später einen Trick anwenden werde und müsse, um einen Mann zu bekommen. Aber auf einen derartig plumpen und abgeschmackten Beintrick, wie ihre Freundin Käthe ihn gebraucht hatte, würde sie für ihre Person verzichten, und das konnte sie auch, denn sie hatte ja noch andere körperliche Reize, um diese ins Treffen zu führen, und sie besaß doch auch ihren scharfen Verstand, ihr keineswegs gewöhnliches Wissen und ihr frisches, lustiges Wesen. Welcher Art ihr Trick sein würde, wußte sie damals, als die Reise beschlossen wurde, noch nicht, und das war auch sehr gut, denn sie hätte es für ganz falsch gehalten, sich von Anfang an auf einen bestimmten zu verbeißen und den mit ihren anderen Sachen als etwas Fertiges in ihren Koffer hineinzupacken. Das Weitere und das Nähere mußte sich später ergeben, später, wenn es erst soweit war, wenn sie wußte, welchen Mann sie, wenn sie den Ausdruck gebrauchen durfte, „betricken” wollte, und dann mußte sie sich für den den richtigen Trick ausdenken, denn einer schickte sich natürlich nicht für alle.

Viel wichtiger war damals im Augenblick die Frage gewesen: In welches Bad reisen wir? Die Kosten spielten dank Tanta Hannas Freigebigkeit ja glücklicherweise keine Rolle, aber es galt zu überlegen, ob ein teures Modebad für ihre Zwecke auch das praktischste sein würde, wenn sie nicht vielleicht gleich den Verdacht aufkommen lassen wollte, sie wäre nur dort, um sich einen Mann zu suchen. Wenigstens mußte einer von ihnen beiden, entweder die Mutter oder sie selbst, sehr gewissenhaft die Kur betreiben, damit sie mit gutem Gewissen erzählen könnten, sie hätten das Bad nur aufgesucht, weil ihr Hausarzt unbedingt auf den Gebrauch des Brunnens und der Bäder bestanden hätte. Ja, einer von ihnen beiden mußte die Kur durchmachen, und da sie selbst dazu nicht die leiseste Lust verspürte, schon um dadurch nicht täglich ein paar Stunden zu verlieren, die sie für andere, wichtigere Zwecke besser gebrauchen konnte, und mit Rücksicht daruf, daß Tante Hanna sehr bald ihre Hilfe ganz einstellen würde, auch praktischer benutzen mußte, blieb weiter nichts übrig, als daß ihre Mutter krank wurde, den Brunnen trank und die Bäder nahm. Das hatte auch den großen Vorteil, daß die Mutter dadurch für zwei oder drei Stunden des Tages gezwungen wurde, unsichtbar zu bleiben. Und hoffentlich würden die Bäder sie so angreifen, daß sie auch sonst wenig Lust fand, sich viel um sie zu kümmern und sie auf Schritt und Tritt zu begleiten.

Aber so ganz einfach war es nicht gewesen, die Mutter, die sich einer beneidenswerten Gesundheit erfreute, dahin zu bringen, daß sie die Rolle der Kranken übernahm, denn etwas abergläubisch, wie sie leider war, fürchtete sie, den Zorn der Götter dadurch heraufzubeschwören, daß sie sich krank stellte, ohne es zu sein, und sie glaubte, daß der Himmel ihr zur Strafe dann wirklich hinterher Gicht, Podagra und Rheumatismus bescheren würde. Und vor allem, was Rheumatismus hieß, besaß die Mutter von jeher eine fürchterliche Angst. Aber wenn die sich auch noch so sehr mit ihren ganz gesunden Händen und Füßen dagegen sträubte, es half ihr alles nichts, sie mußte sich fügen, denn sie, Setty, erklärte ihr kategorisch: „Entweder tust du, wie ich will, oder wir reisen überhaupt nicht, und dann kannst du sehen, wie du fortan für uns beide mit deinem Geld, ohne Tante Hannas Unterstützung, auskommst.”

Daß sie das nicht könne, sah die Mutter glücklicherweise ein, ohne daß sie, Setty, es erst nötig gehabt hätte, ihr in der Hinsicht gut zuzureden, und so begannen sie bald mit den Reisevorbereitungen, die zunächst darin bestanden, daß die Mutter krank wurde, weil sie das mit Rücksicht auf ihre Bekannten ganz einfach werden mußte, damit die auch an die absolute Notwendigkeit einer Badereise glaubten und etwa nicht hinterher, wenn sie als die Braut eines mehrfachen Millionärs zurückkam behaupteten, das Ganze wäre von Anfang an weiter nichts als eine mit allen Schikanen der Neuzeit ausgerüstete Verlobungsexpedition gewesen. So durften die Leute schon um ihrer kranken Mutter willen nicht reden, denn die war krank, oder sie stellte sich, richtiger gesagt, ganz fürchterlich krank. Sie ging sogar auf der Straße ganz langsam und schwerfällig an Stöcken, und auf diese gestützt, mußte die Mutter allen klagen, daß sie bei dem besten Willen und bei den Preisen nicht wisse, woher sie die Mittel für eine Badereise, die Tante Hanna in Wirklichkeit längst geschickt hatte, nehmen solle. Wenn nicht ein Wunder geschähe, könne sie nicht an eine Reise denken, obgleich sie ganz deutlich fühle, daß es bald mit ihr zu Ende ginge, wenn sie nicht endlich einmal etwas Ernstliches für ihre Gesundheit täte. Und das allerschlimmste sei, daß sie nicht einmal allein reisen könne, der Arzt bestände unbedingt darauf, daß sie ihr Kind mitnähme, aber die Haare auf ihrem Kopf sträubten sich, wenn sie nur daran dächte, was das koste, was das koste! Bis sie dann eines Tages erzählen konnte, eine entfernte Verwandte habe sich ihrer erbarmt und ihr die notwendigsten, aber auch nur die allernotwendigsten Mittel zur Verfügung gestellt, denn die seien so knapp bemessen, daß sie nicht wüßten, ob sie dritter Klasse würden fahren können oder ob sie nicht die vierte würden benutzen müssen. Da sähe man es einmal wieder, wie wenig Herz und Liebe und Verständnis man bei seinen reichen Verwandten fände, wenn man in Not sei.

Die Mutter log auf Settys Veranlassung ihren sämtlichen Freundinnen und Bekannten alle Kaffeetassen voll, damit in ihren Kreisen kein schadenfrohes Jubelgeheul angestimmt würde, wenn sie, Setty, später unverlobt aus dem Bad zurückkäme, und damit niemand es auch nur argwöhne, eine Verlobung sei der Zweck der ganzen Reise gewesen. in der Hinsicht konnten sie gar nicht vorsichtig genug sein, schon damit es später nicht etwa hieß: Ach die Setty Brückner! Seht euch die mal an, die ist nicht einmal in einem Badeort, obgleich sie sich dort doch sicherlich die größte Mühe gegeben hat, fortgegangen. Mit der ist die Mutter auch dort sitzengeblieben, wie ein Kaufmann mit einem alten Ladenhüter, den er neu augearbeitet und neu aufgebügelt in das Schaufenster gelegt hat. Und dabei wird die Setty natürlich, soweit es ihre bescheidenen Mittel erlaubten, auch noch Kleiderluxus getrieben haben.

Aber gerade das nicht zu tun, hatte sie sich fest vorgenommen, obgleich sie dazu, dank der Freigebigkeit Tante Hannas, in der Lage gewesen wäre, doch sie hielt das nicht für klug und richtig. Zog sie sich sehr elegant an und erschien sie womöglich jeden Tag in einem neuen Kleid, würde sie dadurch entweder den Anschein erwecken, reich zu sein, und diese Täuschung konnte dann ihren späteren Verlobten mit Recht sehr verstimmen, oder es würde sie in den Verdacht bringen, sich in der Hauptsache deshalb so hübsch und elegant anzuziehen, um dadurch die Aufmerksamkeit der Männer derartig zu fesseln, daß einer für immer an ihr hängenblieb. Das aber wollte und mußte sie vermeiden, und hübsch, wie sie war, gebrauchte sie auch solche Leimrute nicht. Ihr mittelgroßer, schlanker Wuchs, ihr hübsches Gesicht mit dem verführerischen Mund, den schelmischen dunkelbraunen Augen, ihr dichtes dunkles Haar, ihre gerade feine Nase, ihre hübschen kleinen Ohren und ihre gesunden blendend weißen Zähne würden ohnehin genügen, um die Aufmerksamkeit der Herren zu erregen. Und deshalb wollte sie sich keineswegs auffallend oder übertrieben elegant kleiden, sondern einfach, aber trotzdem natürlich geschmackvoll, schon um ihrem späteren Mann von Anfang an zu beweisen, daß sie sich selbst mit bescheidenen Mitteln mit Geschmack zu kleiden verstände, und daß sie das selbstverständlich erst recht tun würde, wenn sie später nach der Hochzeit seine großen Mittel zur Verfügung hätte, denn die Männer liebten es ja nun bekanntlich einmal, wenn ihre Frauen sich gut anziehen, schon weil die sich in ihrer Eitelkeit immer einbilden, ihre Frauen dächten dabei wirklich nur an sie, während die in Wahrheit dabei doch nur, aber auch nur an sich selbst denken, weil sie sich meistens nicht eingestehen wollen, daß sie sich nur oder doch in der Hauptsache für einen Mann anziehen, der aber nicht ihr Mann ist. Und das war, wie eine verheiratete Freundin ihr einmal erklärt hatte, auch sehr gut, denn wenn eine Frau sich nur für ihren Ehemann anziehen würde, käme sie überhaupt nicht dazu, sich jemals hübsch zu kleiden.

Ach, die Männer, und namentlich die Ehemänner, waren ja so dumm und so eitel, aber das war, wie dieselbe Freundin ihr weiter auseinandersetzte, auch sehr gut, denn nur dumme Männer brächten das Kunststück fertig, verliebt zu sein und verliebt zu bleiben. Kluge Männer hätten andere Interessen, und die durchschauten ihre Frauen auch sehr bald, obgleich auf der anderen Seite gerade die klügsten Männer sich von ihren Frauen am leichtesten einen Ring durch die Nase ziehen und sich von der ganz nach ihrem Willen leiten ließen.

Es waren etwas verworrene Gedanken gewesen, die die Freundin äußerte, und aus denen ihr selbst nur so viel hervorzugehen schien, daß es wohl schwer, wenn nicht fast unmöglich war, den ganz richtigen Mann zu bekommen, den Mann, mit dem man wirklich glücklich wurde und mit dem man glücklich blieb. Aber schließlich heiratete man wohl auch nicht, um glücklich zu werden, sondern nur um einen Mann zu haben und um versorgt zu sein, denn das, was man sich als Backfisch nach den Bällen oder in schwülen Frühlingsnächten von seiner späteren Ehe und von ihm, dem Herrlichsten von allen, zusammenträumte, ging ja doch nicht in Erfüllung.

Und im weiteren Verlauf des Gespräches hatte die Freundin sie gefragt: „Sag'mal, Setty, woran liegt es nur, daß du immer noch nicht verheiratet bist? Selbst junge Mädchen, die viel weniger hübsch sind als du und die ebenfalls kein Vermögen besitzen, haben schon längst einen Mann, warum bekommst du keinen?”

Diese Frage war nach ihrer ehrlichsten Überzeugung eine bodenlose Taktlosigkeit gewesen, denn ebensowenig wie man zu einem Buckligen sagt, bitte, erklären Sie es mir, warum haben Sie eigentlich einen Buckel, andere Leute haben doch auch keinen, fragte man ein hübsches junges Mädchen, warum es noch keinen Mann habe, denn daß es schon längst einen hätte, wenn es dabei auf es allein ankäme, war ja klar. Und außerdem hörten sich die Worte der Freudin so an, als sei sie mit ihren einundzwanzig Jahren schon so hornalt, daß sie jeden Gedanken daran, auch ihrerseits noch einmal das Hochzeitsbett besteigen zu dürfen, getrost aufgeben könne.

Deshalb hätte sie der Freundin auch am liebsten die Tür gewiesen, aber glücklicherweise kannte die ihren Vetter Hans Heinrich und wußte, daß sie dem, wenn auch gerade keine stürmische Leidenschaft, so doch ein warmes Interesse entgegenbrachte. Deshalb konnte sie sich mit ihrer unglücklichen Liebe zu Hans Heinrich herausreden und das Märchen erzählen, sie hoffe noch immer auf ihn, und sie habe noch nie einen anderen kennengelernt, der ihr auch nur annähernd so gut gefalle und in dessen Nähe und in dessen Gesellschaft sie Hans Heinrich vergessen habe. Und dann war ihr glücklicherweise in demselben Augenblick wieder ein Wort eingefallen, das sie einmal irgendwo gelesen, das sich ihr eingeprägt hatte und das da lautete: Der Mann ist der Rahmen für das Bild seiner Frau. Und im Zusammenhang damit hatte sie der Freundin entwickelt, warum gerade sie bisher noch an keinem anderen Mann Gefallen gefunden habe und so leicht auch an keinem Gefallen finden würde, eben weil sie noch keinen passenden Rahmen für ihre eigene Erscheinung habe finden können. Das sei viel schwerer, als man leichthin glaube, denn wie wahr das Wort sei, würde einem erst klar, wenn man in aller Ruhe darüber nachdenke, wenn man sich einmal auf den Gesellschaften und auf der Straße die verschiedenen Ehepaare ansähe und jedesmal von neuem darauf achte, wie wenig Mann und Frau in den meisten Fällen äußerlich zueinander paßten, entweder sei er zu groß oder sie zu klein, er zu stark oder sie zu dünn, er zu blond oder sie zu dunkel, oder sonst stimme etwas nicht. Und es müsse da alles, auch alles stimmen, schon damit dritte, namentlich wenn sie ein jungen Ehepaar zusammen sähen, sich nicht im stillen fragten: Nanu, wie konnte denn der Mann sich in die Frau, oder noch schlimmer, wie konnte die hübsche Frau sich nur in den Mann verlieben? Gewiß, die Liebe machte blind, aber gerade die Blindheit hielt nicht an, und wenn er oder sie eines Tages wieder sehend würden, war das Unglück fertig. Dann nahm er sich entweder eine Geliebte, oder sie schaffte sich einen Hausfreund an, und so was gehörte sich doch eigentlich nicht.

Darin, daß sich so etwas wohl wirklich nicht gehöre, hatte die Freundin ihr beigestimmt, und im Anschluß daran hatten sich beide lange darüber unterhalten, wie traurig es sei, daß in der Ehe die Liebe so selten anhielte, und dann waren sie sich darüber einig geworden, daß das einzig und allein die Schuld der Männer wäre, weil die ihre Frauen, wenn sie heirateten, entweder gar nicht oder nur zu einem Bruchteil liebten, denn Männer könnten nur in den allerseltensten Fällen wirklich lieben, die wären meistens nur verliebt, und diese Verliebtheit ginge natürlich vorüber, sobald die Sinne ihre Befriedigung gefunden hätten.

Und das hatten sie beide ekelhaft gefunden, bis sie dann doch, die eine auf Grund ihrer ehelichen Erfahrungen, die andere auf Grund dessen, was sie so gehört und was sie selbst darüber dachte, wieder zu der Erkenntnis kamen, daß es auf der anderen Seite sicher auch sein Gutes habe, daß die Männer gerade so wären, wie die Natur sie geschaffen hätte, und daß es sicher auch seine Schattenseiten haben würde, wenn ein Mann mehr Liebe mit in die Ehe brächte, als Verliebtheit.

Und im Anschluß daran waren sich beide darüber einig geworden, daß im Gegensatz zu dem Mann eine junge Frau ihrem Angetrauten nur, aber auch nur Liebe und gar kein Verliebtsein entgegenbrächte, daß die nur, aber auch nur, oder wenigstens zu dreiviertel lediglich mit dem Herzen liebe, und daß alles andere bei ihr erst in zweiter Linie käme. Und sie hatten daran den etwas künstlichen und gewaltsamen Satz geknüpft: Ein Mann heiratet in seiner Frau nichts anderes als eine neue Geliebte, er heiratet die nur, weil er sie ohne den Weg zum Standesamt, wie man so schrecklich sagt, nicht bekommen kann, die junge Frau aber erheiratet sich in ihrem Mann lediglich den Geliebten ihrer Seele und ihres Herzens.

Läger als eine Stunde hatte die Freundin bei ihr gesessen, um sich mit ihr über die Liebe und über die Ehe zu unterhalten, und erst als die endlich wieder gegangen war, hatte sie sich gesagt: Wie unglücklich muß die arme Henny sein, daß es ihr ein solches Bedürfnis war, sich einmal derartig über die Liebe im allgemeinen und damit, wenn auch nur indirekt, über ihre eigene Ehe auszusprechen.

Ja ja, die Ehe! Die war wohl noch etwas ganz anderes als ein Lotteriespiel, bei dem man in den meisten Fällen eine Niete zog. Vielleicht hatte die Butterfrau recht, die jeden Sonnabend vom Land zu ihnen kam und die einmal in der Küche im Gespräch mit dem Mädchen das von ihr zufällig erlauschte Wort sprach: „Seien Sie bloß vorsichtig mit dem Heiraten, Fräulein, und drängeln Sie nicht zu ungeduldig, daß Sie rankommen. Das tut Ihnen hinterher nur leid, denn in der Ehe fällt man mit seiner Liebe entweder auf die Honigseite oder auf einen Kuhfladen, aber meistens leider Gottes nicht auf die Honigseite.”

Sie selbst aber wollte, wenn sie einmal heiratete, mit ihrer Liebe nur auf die Honigseite fallen, hatte es wenigstens damals noch gewollt, und das war der Hauptgrund, weshalb sie unverheiratet blieb. Es lag ihr nicht, sich nur deshalb mit List und Tücke einen Mann einzufangen, um in der Zeitung, durch das Versenden der Karten und auf jede nur mögliche Weise bekanntzugeben und damit zu prahlen: Ich bin verlobt. Die meisten taten wirklich, als wenn das Verlobtsein und das damit verbundene Geküsse und Geknutsche die Hauptsache wäre, oder die bildeten sich allen ernstes ein, daß im Gegensatz zu den meisten Ehen auf der Welt in ihrer eigenen Ehe von der ersten bis zur letzten Stunde das Geküsse und Geknutsche anhalten würde.

Sie selbst aber wußte aus der Ehe ihrer eigenen Eltern, daß es nicht immer so blieb, wie es war, daß oft schon eine Kleinigkeit, ein unüberlegtes Versprechen oder sonst eine an sich ziemlich unbedeutende Veranlassung das Glück zerstören oder wenigstens so trüben konnte, daß man es selbst dann, wenn man es noch so fleißig probierte, nie wieder ordentlich blank bekam.

Und daran, daß das Glück ihrer Eltern so früh in Scherben ging, war sie schuld, nein, sie nicht, sondern der Vater, aber nein, in erster Linie doch wohl die Mutter, obgleich sie natürlich alle nichts dafür konnten, daß sie selbst ein Mädel und kein Junge geworden war, wie es sich ihr Vater in der Zeit, in der sie erwartet wurde, so sehnsüchtig wünschte, daß ihre Mutter eines Tages zu ihm sagte: „Fritz, versündige dich nicht, denn wenn dein Wunsch nicht in Erfüllung geht und wenn es ein Mädel wird, kannst du es ja gar nicht liebhaben.”

„Ich könnte es nicht liebhaben? Auffressen vor Liebe würde ich es, wie man so sagt,” hatte der Vater erwidert und hinzugesetzt: „Mir wünsche ich, daß es ein Mädel wird, um deinetwillen aber hoffe und bete ich, daß ein Knabe kommt.”

Den Widerspruch hatte die Mutter nicht verstanden und um eine nähere Erklärung gebeten, aber der Vater hatte sie mit den Worten verweigert: „Wenn ich dir die eines Tage geben muß, wirst du die immer noch früh genug erfahren.”

So hatte sich die Mutter geduldet und das Nähere erst gehört, als sie, Setty, auf die Welt gekommen war, und als es sich darum handelte, ihr einen Namen zu geben. Die Mutter hatte sie Hildegard taufen lassen wollen, der Vater aber hatte erklärt: „Das Mädel bekommt den Namen Setty und nur den einen, bei dem wird es auch gerufen werden.” Und als die Mutter ihn verständnislos ansah und ihn fragte, wie er denn nur auf den verrückten Namen komme, den sie noch nie gehört habe, und als sie sich weigerte, ihrem Kind den zu geben, hatte der Vater erwidert, er sei durch einen Schwur, den er einer Sterbenden geleistet, gezwungen, das erste Mädel, das ihm in seiner Ehe geboren würde, zur Erinnerung an die Tote Setty zu nennen, und selbst dann, wenn seine Frau das Gegenteil von ihm verlangen solle, würde er sein Wort einlösen, wenn gleich er gerne zugebe, daß er es wohl eigentlich nicht habe geben dürfen, aber er hätte es trotzdem geben müssen, um dem jungen Mädchen, das ihm vor vielen Jahren sehr nahegestanden habe und das bei der Geburt eines toten Kindes selbst sein Leben gelassen, das Sterben zu erleichtern. Und der Vater hatte mit den Worten geschlossen: „Nun wirst du verstehen, warum ich so leidenschaftlich wünschte, das Kind möchte ein Junge werden. Deinetwegen, liebe Frau, damit ich es nicht nötig hätte, mein Versprechen zu halten.”

Klirr — klirr — klingeling — da war das Glück der Eltern oder wenigstens das der Mutter in Scherben gegangen und hatte sich auch nie wieder ordentlich kitten lassen, denn ganz konnte sie es ihrem Mann nie verzeihen, daß sie ihrem ersten Kind, das auch noch dazu das einzige blieb, einen Namen geben mußte, der sie immer wieder an jene andere erinnerte, die ihm auch schon ein Kind, wenn auch nur ein totes, geschenkt habe, bevor sie selbst durch ihn Mutter wurde.

Was da vorlag, warum ihre Eltern, wenn auch nach außen hin im besten Einvernehmen, so doch mehr nebeneinander als miteinander lebten, warum die beiden nicht wirklich glücklich miteinander waren, erfuhr sie selbst erst nach dem Tode des Vaters, denn da hatte die Mutter ihr auf ihre Bitten hin alles erzählt, und bei der Gelegenheit erfuhr sie auch erst, daß sie den seltsamen Namen Setty, über den sie sich so oft schon gewundert, gar nicht einer inzwischen verstorbenen Verwandten, sondern einer füheren Freundin, die Mutter hatte mit sehr häßlicher verächtlicher Betonung gesagt, „einer früheren Geliebten” ihres Vaters verdankte.

Als modernes junges Mädchen hatte sie das wahnsinnig pikant gefunden, auf jeden Fall war sie nicht imstande gewesen, daraus dem Vater im stillen auch nur den leisesten Vorwurf zu machen, und doch schien die Mutter das angenommen zu haben, denn die hatte sie gebeten, dem Toten deswegen nicht noch nachträglich zu zürnen und ihm auch weiterhin das beste Andenken zu bewahren. Der Tod sühne jede Schuld und der arme Vater habe schon bei Lebzeiten schwer genug unter dem Versprechen, das er der Sterbenden gegeben, gelitten.

Um so schlimmer, Mutter, wenn du ihm trotzdem seinen Jugendstreich nicht verziehen hast und nicht verzeihen konntest, hätte sie der Mutter beinahe erwidert, aber sie behielt die Worte für sich, denn die Mutter hätte sie ebensowenig verstanden, wie sie die begriff. Wie hatte die dem Vater deswegen jahraus, jahrein zürnen und nur deswegen kalt und ohne Liebe an seiner Seite dahinleben können? Na, so viel wußte sie damals gleich, wenn ihr eigener Mann ihr später nie etwas Schlimmeres zu beichten hatte, würde sie ihm deswegen ihre Liebe ganz bestimmt nicht entziehen, sie würde ihm deshalb auch keine Vorwürfe machen, sondenr ihm einfach erklären: „Hugo, Heinrich, Peter, oder wie du sonst immer heißt, deswegen mache dir nur nachträglich keine Sorgen, und wegen einer Geschichte, die so weit zurückliegt, wollen wir uns nicht die Gegenwart verderben.”

So würde sie zu ihrem Mann sprechen und gesprochen haben, wenn sie ihn liebte, und gerade sie wollte und würde doch nur aus Liebe heiraten.

Anders aber lag die Sache natürlich, wenn sie, gerade sie, eines Tages weniger aus Liebe und mehr aus Vernunftsgründen heiratete und heiraten mußte und wenn ihr Heinz, ihr Carl, ihr Emil, oder wie er sonst immer hieß, ihr dann mit einem solchen Geständnis kam. Auch da würde sie ihm deswegen selbstverständlich nicht zürnen und ihm deswegen auch keine Szene machen, das wäre ja schön dumm, denn je leichter sie die Sache nahm, je weniger Worte sie darüber verlor, um so dankbarer würde ihr Mann ihr deswegen sein, und die Männer hatten ja nun einmal glücklicherweise die Angewohnheit, daß sie sich, besonders wenn sie ein schlechtes Gewissen besaßen, ihren Frauen nicht nur mit Worten dankbar erwiesen, und für solche Beweise der Dankbarkeit mußte eine junge Frau, die in der Hinsicht ja immer jung blieb, stets empfänglich sein.

Aber erst mußte sie einen Mann haben, um ihm später sein etwaiges Schuldbekenntnis so oder so verzeihen zu können, sein Schuldbekenntnis, das aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso wie bei ihrem verstorbenen Vater nichts anderes sein würde als die Beichte eines Toren, denn um etwas anderes hatte es sich bei ihrem Vater nicht gehandelt. Wie hatte er, der doch sonst so klug war und der eine so große Menschenkenntnis besaß, nur so töricht sein können, der Mutter eine solche Beichte abzulegen? Das verstand sie auch heute noch nicht, und da sie den Vater sehr liebgehabt hatte und auch jetzt noch mit großer Liebe an ihm hing, tat es ihr seinetwegen so leid, daß er sich durch seine eigene Schuld ohne jede zwingende Notwendigkeit sein eheliches Glück zerstörte. Warum hatte er der Mutter nicht einfach erklärt: Gleich, als ich den etwas seltsamen Namen Setty zu erstenmal hörte, habe ich mich in den verliebt und mir gesagt, wenn du später erst verheiratet bist und wenn der Storch euch ein kleines Mädel bringt, wird es Setty getauft und nicht anders. Das ist mein aufrichtiger Wunsch und mein fester Wille und wenn du mich lieb hast, Frau, erklärtst du dich damit einverstanden, und wenn du es nicht tust, bitte ich dich so lange darum, bis du es tust.

Warum hatte der gute liebe Vater nicht so zu der Mutter gesprochen, dann wäre alles in der Ehe in der schönsten Ordnung geblieben, und wenn er sich allein keinen Rat wußte, warum war er da nicht zu ihr gekommen und warum hatte er sich ihr nicht anvertraut? Allerdings lag sie da ja noch in der Wiege und in den Windeln, und allzuviel hätte sie dem Vater damals wohl noch nicht raten können! Aber wie dem auch immer war, unvorsichtig, unklug und unüberlegt hatte der gute Vater auf alle Fälle gehandelt, als er der Mutter die Wahrheit gestand.

Aber die Männer hatten ja nun einmal die ihnen wohl angeborene Angewohnheit, gerade dann und eigentlich nur dann die Wahrheit zu sagen, wenn das in ihrem eigenen Interesse so unpraktisch wie nur möglich war, während sie sonst ihren Frauen gegenüber doch fast immer logen, oder richtiger gesagt, immer lügen sollten, denn das, was sie von den Männern wußte, kannte sie bisher nur aus den Erzählungen ihrer verheirateten Freundinnen, von denen die eine ihr einmal gelegentlich erklärte: „Weißt du, Setty, wer in der Ehe seinem Mann auch nur ein einziges Mal glaubt, ist eine Närrin. Trotzdem müssen wir Frauen aber natürlich dafür sorgen, daß die Männer uns beständig und unbedingt alles glauben. Um dieses hohe und schöne Ziel zu erreichen, gibt es aber nur ein Mittel: Eine Frau muß, wenn sie erst verheiratet ist, gleich vom ersten Tage an alles lügen, was sie nur sagt, denn nur die Wahrheit sagen, kann und darf man nicht und mal bei der Wahrheit bleiben und mal lügen, geht erst recht nicht, das gibt ein Kuddelmuddel, daß man sich da selbst sehr bald nicht mehr zwischendurchfindet, und dann würde man beständig auf einer Unwahrheit ertappt werden, weil man sich immer selbst widerspräche. Dieses Sich-widersprechen müssen wir aber den Männern überlassen, damit wir über sie die Obergewalt behalten, und für uns Frauen ergibt sich, wie schon gesagt, daraus die absolute Notwendigkeit, immer von der Wahrheit abzuweichen. Und glaube mir, Setty, je vollkommener eine Frau diese nicht immer leichte Kunst versteht und beherrscht, desto felsenfester ist ihr Mann davon überzeugt, daß gerade seine Frau auf der ganzen Welt nichts so haßt wie die Lüge.” Und halb lachend, halb ernsthaft hatte die Freundin geschlossen: „Die Männer sind ja alle so dumm, Setty, so entsetzlich dumm, aber der, den man selbst bekommt, ist merkwürdigerweise immer der Allerdümmste und der Aller­beschränkteste, und so traurig und beschämend das in vieler Hinsicht auch ist, auf der anderen Seite ist es trotzdem unser Glück.”

Wieviel Gespräche über die Ehe und über die Männer hatten die verheirateten Freundinnen nicht schon mit ihr geführt, gleichsam, als könnten sie keine bessere und verschwiegenere Vertraute als sie finden. Und wenn sie dann wieder allein war, hatte sie sich oft gesagt: So also sind die Männer, wenn sie die Gesellschafts­maske ablegen und sich zu Hause in ihrer wahren Natur zeigen. So also sind die Männer, und das ist die Ehe, die bei den Katholiken sogar als ein heiliges Sakrament gilt! Und so, wie deine Freundinnen sich dir gezeigt haben, entwickelt sich ein junges Mädchen, so, daß selbst du es kaum wiedererkennst.

Aber ob die Ehe und ob wirklich jede Ehe so war, wie die Freundinnen sie ihr schilderten? Darüber konnte sie erst ein Urteil fällen, wenn sie selbst verheiratet war, und selbstverständlich wollte auch sie heiraten, obgleich merkwürdigerweise kein Mann sie heiraten zu wollen schien, denn sie blieb sitzen, während alle ihre Freundinnen an den Mann kamen.

Woran lag das? Ganz bestimmt nicht nur daran, daß sie arm war, sondern die Hauptsache war wohl, daß sie sich nicht an der Männerjagd beteiligte, sie wollte sich keinen Mann einfangen, sie wollte nicht erobern, sondern erobert werden. Und ein ganz klein wenig Fatalistin, wie sie zuweilen war, hatte sie sich gesagt: Man kann sein Geschick und sein Leben nicht erzwingen, es kommt alles so, wie es kommen soll. Haben die Götter dir einen Mann zugedacht, bekommst du den auch, ohne daß du ihnen da in das Handwerk pfuschst und dir selbst einen aussuchst.

Und logischerweise hätte sie den Satz eigentlich dahin ergänzen müssen, daß sie sich weiter sagte: Haben die Götter aber beschlossen, daß du keinen Mann bekommen sollst, hilft es dir auch nichts, daß du dir, ihrem Machtspruch entgegen, mit aller Gewalt einen erzwingen willst.

Aber das auszusprechen oder auch nur zu denken, hütete sie sich, denn sie wollte heiraten und zwar bald, denn sie war doch schon einundzwanzig Jahre.

Und an ihrem letzten Geburtstag hatte sie es denn auch glücklicherweise eingesehen, so wie bisher ging es nicht weiter. Auf die Götter allein schien in der Hinsicht auch kein Verlaß zu sein, und nicht nur bis zu einem gewissen, sondern bis zu einem sehr bedeutenden Grade schien besonders ein junges Mädchen sein Geschick selbst in die Hand nehmen zu müssen, wenn es unter die Haube kommen wollte.

Aber als sie sich das an ihrem Geburtstag sagte und dementsprechend sehr enrgisch zu handeln beschloß, war es, da sie im Monat Mai auf die Welt kam, für die Wintersaison schon zu spät und für den Sommer waren die Verlobungs­aussichten im allgemeinen nicht sehr günstig, aber vielleicht machte sich die Sache trotzdem bei dem Tennisspielen oder bei einer Radpartie. An ihr sollte es jedenfalls nicht liegen, wenn sie auch im nächsten Winter noch als unverlobtes junges Mädchen auf die Bälle gehen mußte.

An ihrem Geburtstag hatte sie beschlossen, daß sie sich unter allen Umständen im Laufe ihres neuen Lebensjahres verloben und daß sie an ihrem nächsten Geburtstag womöglich schon verheiratet sein wolle. Jetzt aber lag die Sache für sie so, daß sie sich sehr bald und sehr schnell verloben mußte, und da war es wirklich ein Glück für sie, daß sie heute schon wußte, wer ihr späterer Verlobter und ihr späterer Mann sein würde, obgleich sie sich eigentlich gewünscht hätte, daß der mit Vornamen nicht gerade Benno hieß und auch den Namen Langenheim fand sie nicht sinnberückend schön. Aber auf den Namen kam es bei einem Mann ja nicht allzusehr an, obgleich andererseits auch der Name etwas den Rahmen für das Bild einer Frau, namentlich einer so hübschen und einer so eleganten, wie sie es später sein würde, bildete, denn selbst die schönste, schickste und eleganteste und begehrenswerteste Frau verlor jeden Reiz, wenn sie Frau Kußmaul oder so ähnlich hieß, und solche Namen gab es wirklich, die hatte sie letzthin in einer Zeitung gelesen.

Aber ihr Zukünftiger hieß glücklicherweise anders, Benno Langenheim, und unwillkürlich mußte sie nun plötzlich hell und übermütig auflachen, weil sie sich sagte: Was der wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er, während er in seinem Auto auf dem Wege hierhin ist, wüßte, daß er sich mit dir verloben soll und daß du in diesem Augenblick immer noch vor deinem Strumpf- und Schuhkoffer sitzt und darüber nachdenkst, was du für ihn anziehen sollst, damit seine Augen gleich von Anfang an Wohlgefallen an dir finden.

Allerdings, allzu gründlich hatte sie darüber wenigstens in der letzten halben Stunde, oder wielange sie sonst, eine Zigarette nach der anderen rauchend, ihren Gedanken nachhing, nicht nachgedacht. aber nun wurde es Zeit, sich wieder mit dieser wichtigen Frage zu beschäftigen, obgleich er vor vier Uhr nachmittags nicht im Hotel erwartet wurde und jetzt war es erst drei. Aber ebensogut wie er später eintreffen konnte, wenn er unterwegs eine Panne hatte, konnte er auch etwas früher kommen, obgleich der Hotelportier das in einem Gespräch, das er mit dem Direktor führte und das sie unten in der großen Halle, während sie so tat, als ob sie die Zeitung läse, absichtlich belauschte, für nicht sehr wahrscheinlich gehalten hatte. Und aus diesem Gespräch, in dem der schon lange im Hotel tätige Portier den neuen Direktor über den Gast, der erwartet wurde, aufklärte, hatte sie alles erfahren, was sie jetzt wußte, und das, was sie da zu hören bekam, hatte sofort den Entschluß in ihr wach werden lassen: Der wird geheiratet, und um dieses Ziel zu erreichen, darfst du nichts, aber auch nichts unversucht lassen. Und das schien sich bei diesem Herrn Benno Langenheim auch zu verlohnen, denn der war, wie der Portier erzählte, nicht nur ein auffallend hübscher, eleganter Mensch, sondern als der einzige Sohn seines Vaters, in dessen großen industriellen Unternehmungen er beschäftigt und an denen er beteiligt war, auch ein wahnsinnig reicher Mensch im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren. Ursprünglich war er Offizier gewesen und hatte sich im Felde eine Verwundung am linken Fuß geholt, namentlich aber in dem ein rheumatisches, zuweilen sehr schmerzhaftes Leiden, das ihn alljährlich veranlaßte, für einige Wochen hierher zu kommen, um die Bäder, die ihm jedesmal sehr halfen, zu gebrauchen.

Und als sie hinter ihrer Zeitung vergraben weiter auf jedes Wort achtete, das die beiden miteinander besprachen und als der neue Direktor, der es einem so reichen Gast gegenüber in keiner Weise an etwas fehlen lassen wollte, sich zu dem Zweck nach dem Wesen und nach den etwaigen besonderen Eigenarten des Herrn Langenheim erkundigte, erfuhr sie, daß er der einfachste, natürlichste und bescheidenste Mensch wäre, den man sich nur denken könne. Alles irgendwie Protzenhafte läge ihm vollständig fern. Es sei ihm in mancher Hinsicht sogar oft peinlich und verlegen, so reich zu sein, weil er dadurch neugierige und neidische Blicke auf sich lenke, und deshalb wäre ihm auch nichts unangenehmer, als wenn man von ihm irgendwelche besondere Notiz nähme oder ihn mit besonderer Auszeichnung behandle. Er drücke jedesmal den Wunsch aus, nichts mehr und nichts anderes sein zu wollen als einer der vielen anderen Kurgäste, und um nicht schon durch die Nennung seines Namens irgendwie die Aufmerksamkeit zu erregen, habe er sich ein- für allemal verbeten, ihn Herr Langenheim anzureden oder auch nur „guten Morgen, Herr Langenheim” oder etwas Ähnliches zu sagen. Ja, er habe erklärt, er werde nicht ein Atom schlechter schlafen, wenn man ihm anstatt „gute Nacht, Herr Langenheim” einfach „gute Nacht” wünsche.

Und als einzige besondere Eigenart hatte sie über ihn erlauscht, daß er nie den Fahrstuhl benutze und schon deshalb immer in der ersten Etage wohne, in der in jeder Saison dieselben drei Zimmer für ihn bereitstehen müßten. Darüber, weshalb Herr Langenheim nie mit dem Lift fuhr, hatte der Portier allerdings keine Auskunft zu geben vermocht, aber das Warum war ja auch ganz nebensächlich, und daß er keinen Fahrstuhl bestieg, war für sie außerordentlich angenehm und praktisch, da kam sie um so öfter in die Lage, ihm auf der Treppe zu begegnen, und jede Begegnung würde und mußte sie ihrem Ziel um einen, wenn auch noch so winzig kleinen Schritt näher bringen, denn sie mußte zu ihrem Ziel gelangen, und deshalb war es wirklich eine Fügung des Himmels, daß dieser Benno Langenheim kam, denn unter den Herren, die hier bisher die Kurpromenade belebten und die sich ihr hatten vorstellen lassen, war auch nicht einer, der als Ehemann ernstlich für sie in Frage kam, denn an irgendeiner Kleinigkeit hatte sie es bei jedem herausgefunden, daß er nicht mit Glücksgütern gesegnet war. Ja, die anderen Herren schienen sogar hierhergekommen zu sein, um selbst einen Goldfisch zu angeln, anstatt ihrerseits als Goldfische geangelt zu werden.

Sie aber brauchte einen ganz, ganz reichen Mann, denn wenn sie schon nicht einzig und allein aus Liebe heiraten konnte, wenn in der Hinsicht ihre Junge-Mädchen-Träume nicht in Erfüllung gehen durften, weil der Ernst der Zeiten und die Not des Lebens sie zwangen, darauf zu verzichten, wenn sie jetzt heiraten mußte, weil Tante Hanna fortan nicht mehr in der Lage war, sie und die Mutter in der bisherigen Weise zu unterstützen, dann mußte sie bei dieser Heirat hauptsächlich, nein, nur den Verstand sprechen lassen.

Sicherlich, das Zeugnis konnte sie sich der Wahrheit gemäß mit dem allerbesten Gewissen ausstellen, alles, was Berechnung hieß, lag ihrem Charakter und ihrem Wesen vollständig fern, und alles Berechnende war ihr einfach ekelhaft. Aber noch viel ekelhafter als das Berechnen war ihr das Rechnen, und wenn sie sich in der letzten Zeit vorgestellt hatte, sie solle und müsse fortan, wenn Tante Hanna erst ihre Hand und ihr großes Portemonnaie von ihnen gezogen, jeden Tag sitzen und überlegen, ob sie sich ihre Schuhe neu besohlen lassen und ob sie sich diese oder jene notwendige Kleinigkeit kaufen könne, ohne dadurch das häusliche Budget in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, gegen den die berühmten Trümmer von Karthago das reine Kinderspielzeug waren, oder wenn sie sich klarmachte, daß sie in Zukunft, ohne Tante Hanna Beihilfe, ihre Mutter erst eine Stunde und noch länger um jedes Fünfzigpfennigstück werde bitten müssen, um hinterher im allerbesten Falle doch nur ein Zehnpfennigstück zu erhalten, dann hatte sich alles in ihr dagegen aufgelehnt, und sie war zu der Erkenntnis gekommen, daß jedes Rechnen noch viel, viel schrecklicher sei als alles Berechnen.

Ja, diesen Benno Langenheim sandten ihr die Götter, und es war auch die höchste Zeit, daß er kam, denn da bisher, obgleich man schon seit vierzehn Tagen in dem teuren Badeort weilte, noch kein Freier am Horizont, geschweige denn in nächster Nähe aufgetaucht war, hatte die Mutter, deren Magen den Brunnen nicht vertrug und die von den anstrengenden Bädern so müde wurde, daß sie hinterher stundenlang schlief und dann des Nachts nicht mehr schlafen konnte, schon mehr als einmal gestreikt und erklärt: „Ich habe dieses Komödiespielen, das mich ganz krank und elend macht, satt,” und es hatte von mal zu mal größere Anstrengung und größere Überredungskünste gekostet, um die Mutter wieder an den Brunnen und in die Bäder zu bekommen. Nun aber hatte sie, als sie von Benno Langenheims bevorstehender Ankunft erfuhr, vorläufig für die nächsten vierzehn Tage jeden weiteren Streikgedanken aufgegeben, aber gleichzeitig hinzugesetzt: „Wenn du mir nach vierzehn Tagen nicht auf Ehre und Gewissen versichern kannst, daß es aller Wahrscheinlichkeit mit dir und diesem Herrn Langenheim etwas wird, packen wir unsere Koffer und reisen ab.”

Natürlich hatte sie sich bereit erklärt, nach Verlauf von zwei Wochen der Mutter auf Ehre und Gewissen wahrheitsgetreuen Bericht zu erstatten, schon weil die Mutter es gar nicht kontrollieren konnte, ob sie da auch bei der Wahrheit bliebe oder nicht, und sie war von Anfang an fest entschlossen, nicht bei der zu bleiben, wenn die Sache bis dahin für sie noch nicht ganz günstig stände, denn ganz so schnell, wie die Mutter es sich wünschte, würde es vielleicht doch nicht gehen.

Andererseits aber waren vierzehn Tage eine lange Zeit, besonders wenn man die von der ersten Minute an geschickt ausnutzte, und das zu tun, war sie felsenfest entschlossen. Und es war sicher sehr gut für sie, daß durch einen Zufall außer ihr kein anderes heiratsfähiges junges Mädchen, wenigstens kein anderes unverlobtes, im Hotel wohnte.

Das mußte und das würde ihr sehr zustatten kommen, erst recht, wenn sie so tat, als denke sie gar nicht daran, daß er jemals auf den Gedanken kommen könne und solle, sich in sie zu verlieben, und wenn sie ihm so deutlich, daß er nicht eine Sekunde an der Wahrhaftigkeit ihrer Gesinnung zweifeln konnte, bewies, daß ihr selbst jeder derartige Gedanke meilenweit entfernt lag.

Und um ihm von vornherein jeden derartigen Gedanken an sie zu nehmen, und dazu, ihn seinerseits in den Glauben hineinzuwiegen, sie denke auch absolut nicht an ihn, sollte und mußte ihr der Trick verhelfen, den sie sich für ihn ausgeheckt hatte.

Aber während sie sich nun eine neue Zigarette anzündete, gestand sie sich offen ein, eigentlich und uneigentlich konnte einem der Benno Langenheim, der so ahnungslos auf der Chaussee in seinem Auto angefahren kam, leid tun, daß er so eingefangen werden sollte, und unter anderen Umständen hätte er ihr auch totensicher leid getan, aber er bekam doch sie zur Frau, sie mit allen ihren äußeren und inneren Vorzügen und Reizen, und deshalb gebrauche er auch kein Mitleid, sondern alles andere, denn wie viele seiner Freunde und Bekannten würden ihn nicht später um sie beneiden, und wie viele würden nicht versuchen, sie ihm, wenn auch nur vorübergehend, abspenstig zu machen, um mit ihr einen kleinen lustigen, amüsanten und pikanten Flirt anzufangen. Daß sie jedoch für so etwas zu haben sein würde, hielt sie wenigstens im Augenblick für vollständig ausgeschlossen, aber die anscheinend ausgeschlossensten Sachen wurden ja später oft die natürlichsten und die einfachsten von der Welt. Wie alles andere, würde und mußte sich auch das im Laufe der Zeit entscheiden, aber ehe sie später einmal daran denken konnte, etwas zu ehebrechen, vorausgesetzt, daß sie das überhaupt je tun würde, galt es zunächst, zu heiraten, und darum hieß die Losung des Augenblicks einzig und allein: Rein in die Strümpfe! Denn ewig konnte sie hier doch nicht mit nackten Füßen und Beinen sitzenbleiben und ihren Gedanken nachhängen, während ihr zukünftiger Mann ihr mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit oder vielleicht noch schneller entgegengefahren kam.

So entschied sie sich jetzt auf gut Glück für ein Paar wunderhübsche lila Strümpfe, die nicht zu schlanke, aber auch nicht zu starke Formen machten und die auch sehr hübsch zu dem duftigen Kleid paßten, für das sie sich schon längst entschieden hatte. Auch tadellos frisiert war sie bereits, ebenso hatte sie sich schon am Vormittag geradezu wundervoll manikurt, so daß es nun keine zehn Minuten dauerte, bis sie für die erste Begegnung mit ihrem zukünftigen Gatten fix und fertig angezogen war.

Aber bis er kam, hatte sie immer noch Zeit, es war früh genug, wenn sie sich kurz vor vier an ihr Fenster, das nach vorn hinaus ging, stellte und aufpaßte. Da mußte sie das Auto ankommen hören und sehen, und sobald sie es kommen sah, würde sie ihr Zimmer verlassen und Benno Langenheim bis zu dem untersten breiten Absatz, an dem sich die große Haupttreppe nach rechts und links abzweigte, entgegengehen, aber nicht etwa, um ihn zu begrüßen, sondern um dort stehenzubleiben und um einen Brief zu lesen, den sie, wie er annehmen mußte, erst vor wenigen Minuten erhielt. Um ihn würde sie sich gar nicht kümmern, auch nicht zu ihm hinsehen, wenn er unmittelbar an ihr vorüberging. Das hatte noch viel Zeit, denn sie würde ihn im Laufe der nächsten Wochen ja noch oft genug zu Gesicht bekommen. Sie wollte nicht ihn sehen, sondern er sollte sie sehen, und zwar gleich, wenn er sich in Begleitung des Direktors anschickte, die Treppe hinaufzugehen. Bei ihren Füßen anfangend, sollte sein Blick an ihr und an ihrem verführerischen Wuchs hinaufgehen, deshalb mußte sie höher stehen als er, aber ihr Gesicht würde sie nicht gleich zeigen, sondern lediglich den Wuchs und das, was er da von ihr zu sehen bekam, sollte den Wunsch in ihm erwecken, baldmöglichst ihre Bekanntschaft zu machen.

Eine halbe Stunde konnte immer noch vergehen, ehe das Auto vorfuhr, so ging sie nebenan zu ihrer Mutter, weniger, um sich nach der umzusehen, als um ihr nochmals all die vielen Verhaltungsmaßregeln, die sie ihr in den letzten Tagen gegeben, zu wiederholen und um ihr eine Rede über das Wort zu halten: Zerstöre mir meine Kreise nicht, damit aus diesen Kreisen bald ein Ring wird, den ich mir an meinen linken Goldfinger stecken kann.

Die Mutter, eine hohe, schlanke, noch sehr gut aussehende Fünfzigerin, lag in ihrem Bett und jammerte und stöhnte, denn es ging ihr gar nicht gut. Der schwere Brunnen lag ihr wie ein Dutzend Ziegelsteine im Magen, und die Beine waren ihr von den anstrengenden Bädern so müde und so matt, als hätte sie Blei in den Gliedern. So schwur sie ihrer Tochter, alles genau zu befolgen, was diese ihr geraten habe, aber sie schloß mit den Worten: „Ich folge dir nur, Setty, um unmittelbar nach deiner Verlobung wieder gesund werden zu können, denn das sage ich dir, wenn du nicht spätestens innerhalb drei Wochen verlobt bist, kannst du mich hier begraben lassen. Für wirklich Kranke mag die Kur hier ja sehr gut und sehr schön sein, und ich sehe es ja auch täglich mit meinen Augen, wie gut sie den anderen tut. Aber ein gesunder Mensch, der seine Gicht und sein Rheumatusmusleiden nur heucheln muß, damit sein Kind einen Mann bekommt, geht dabei einfach vor die Hunde. Ich halte das wenigstens nicht aus, und die beiden Stöcke, auf die ich mich anfangs nur zum Schein stützte, sind mir jetzt unentbehrlich geworden, denn wenn ich selbst auch nur einhundertunddreißig Pfund wiege, ich glaube, jedes meiner Beine wiegt trotzdem allein seine drei Zentner, so schwer habe ich an denen zu tragen.”

Setty war im allgemeinen ein gutes Kind, und sie hatte ihre Mutter auch lieb, aber trotzdem rührte es sie nicht sonderlich, was sie da zu hören bekam, denn die Mütter waren nun doch einmal auf der Welt, damit sie ihren Kindern Opfer brächten. Und dieses Opfer würde sich noch dazu später, wenn sie erst den reichen Schwiegersohn hatte, in des Wortes wahrster Bedeutung bezahlt machen. Deshalb durfte die Mutter auch in der nächsten Zeit unter gar keinen Umständen wieder gesund werden, und deshalb meinte sie plötzlich: „Am besten wäre es, Mutter, wenn du noch kränker würdest, als du es bist, oder wenn du dich noch kränker stelltest. Deshalb darfst du auch nicht mehr an den Stöcken gehen, sondern —”

„Soll ich etwa auf Krücken humpeln?” unterbrach die Mutter sie erregt.

Setty dachte einen Augenblick nach, dann meinte sie gelassen: „Wenn du das könntest, wäre es sicher das klügste, aber das würde dir am Anfang wohl zu große Schmerzen in den Achselhöhlen verursachen, und die möchte ich dir ersparen. Deshalb wird es genügen, wenn du fortan in einem Rollstuhl sitzt, den einer der Badediener schiebt, den ich dann von Zeit zu Zeit ablöse. Weißt du, Mutter, so etwas macht immer Eindruck. Ein Kranker im Rollstuhl erregt nicht nur Aufsehen, sondern auch Mitleid, das letztere auch mit deren Angehörigen, besonders wenn es sich dabei um ein hübsches, lebenslustiges junges Mädchen handelt. Das Mitleid aber erweckt Interesse, Teilnahme und schließlich Liebe. Und nicht nur das, Mutter. Wenn Herr Langenheim sieht, wie ich geduldig neben deinem Rollstul hergehe, wie ich den zuweilen selbst schiebe, und wie ich nicht nur aus Berechnung, von der er ja nichts ahnt, sondern voller Teilnahme mich um dich bemühe, wird er sich sagen: Welch gutes Herz muß das Mädchen haben und welch treue fürsorgliche Pflegein sie ist. Auf so etwas fallen die Männer immer herein, Muter, denn die sind noch viel ängstlicher um ihre Gesundheit besorgt als die jungen Mädchen, schon weil sie mit dem Alkohol und dem Nikotin beständig auf ihre Gesundheit loswüsten. Und selbst verhältnismäßig junge Herren sehen sehr häufig die Zeit vor sich, in der sie alt und krank dasitzen und niemanden haben, der sich ihrer wirklich mit Liebe annimmt, und der sie um ihrer selbst willen pflegt. Daran wird Herr Langenheim unwillkürlich auch denken, wenn er mich täglich in meiner Rolle als zärtliche Tochter sieht. Wer kann es wissen, vielleicht wünscht er sich dann sehr bald, selbst krank zu sein, um sich eines Tages von mir pflegen lassen zu können. Na, und ist es erst so weit, dann ist von deinem Rollstuhl bis zu meiner Hochzeitskutsche nur noch ein ganz kleiner Schritt, denn bei passender Gelegenheit werde ich ihm schon vorkohlen, es gäbe für mich auf der ganzen Welt nichts Schöneres, als Kranke zu pflegen und als bei Tag und Nacht um die herum zu sein. Und ich werde ihm das schon so zu erzählen wissen, daß er es glaubt.”

Aus dem Bett heraus klang ein lautes schmerzhaftes Stöhnen, und dann meinte die Mutter: „Weißt du wohl, Setty, daß es mir gräßlich ist, dich so sprechen zu hören? Und wenn ich mir klarmache, daß du nicht nur im Scherz so redest, sondern im Ernst, daß du auch demgemäß handeln wirst, schäme ich mich tatsächlich, daß mein eigenes Kind sich einen derartigen Trick ausgedacht hat.”

Aber Setty lachte fröhlich auf, bevor sie meinte: „Mir wäre es, offen gestanden, auch lieber, wenn ich ohne jeden Trick und ohne jeden Schwindel an den Mann käme, aber das glückt in der heutigen Zeit wohl nur noch den wenigsten. Selbst die doch wirklich auffallend hübsche Toni Scheele hat, wie du dich erinnern wirst, nur dadurch einen Mann erwischt, daß sie zu Hause, wenn Herrenbesuch da war, an ihrem Gürtel beständig einen Schlüsselbund trug. Dadurch erweckte sie den Anschein, sich in der Wirtschaft um alles zu kümmern und alles unter Verschluß zu halten. Je leichter die Herren der Schöpfung ihr Geld für ihr eigenes Vergnügen außer dem Hause ausgeben, desto mehr verlangen sie bekanntlich, daß ihre Frauen mit ihren Vorräten in der Speisekammer und mit ihrem Wirtschaftsgeld ewig und drei Jahre reichen. Kurz und gut, die Toni hat es nur ihrem Schlüsselbund zu verdanken, daß sie einen Mann bekommen hat. Das war ihr Trick, und der beste Witz dabei ist, daß keiner der Schlüssel an dem Bund auch nur zu einem einzigen Schloß in der ganzen Wohnung paßte, denn das Schlüsselbund hatte sie einmal bei einem Spaziergang auf den Wällen gefunden, es aber nicht auf dem Fundbureau abgegeben, weil der Haken des Ringes, den sie später an ihrem Gürtel trug, so hübsch gearbeitet war, und weil es sich da um ein altes kleines Kunstwerk handelte.”

„Ich weiß, Setty,” stimmte die Mutter ihr etwas nervös und ungeduldig bei, „das hast du mir schon oft erzählt.”

„Aber anscheinend doch noch nicht oft genug,” erwiderte Setty gelassen, „sonst würdest du nicht so, beinahe hätte ich gesagt, nicht so beschränkt sein, dich meinetwegen schämen zu wollen und vielleicht gar von mir zu verlangen, daß ich mich im stillen wegen meines Tricks, den ich mir ausdachte, ebenfalls schämen sollte. Damit hast du nun allerdings bei mir ganz gewiß kein Glück, denn ich würde und werde mich nur schämen, wenn ich es nicht dahin bringe, daß ich mich mit Benno Langenheim verlobe.”

„Gott gebe, daß es dahin kommt,” erklang die klagende Stimme der Mutter.

Abermals lachte Setty fröhlich auf, bevor sie die Mutter tröstete und beruhigte: „Gott wird es schon geben, besonders, wenn ich ihm dabei nach besten Kräften helfe, und daß ich in der Hinsicht alles tun werde, was ich nur irgend vermag, darauf kann der liebe Gott sich so fest verlassen, wie er das sonst wohl nur auf sich selber kann. Nun aber habe ich bei dem besten Willen keine Zeit mehr für dich, Mutter. Spätestens in einer Viertelstunde muß das Auto hier sein, da habe ich jetzt Wichtigeres zu tun. Du selbst kannst noch ruhig etwas liegenbleiben, aber nachher muß du unbedingt aufstehen, damit wir zusammen zum Abendessen in den Speisesaal gehen, das heißt, du darfst natürlich nicht gehen, sondern du mußt auf deinen Stöcken kriechen und schleichen, schon damit ich mich ängstlich und voller Fürsorge um dich bemühen kann. Also auf Wiedersehen nachher, selbstverständlich erzähle ich dir gleich, wie die erste Begegnung verlaufen ist. Wenn du nicht darüber einschläfst, drücke uns beiden beide Daumen.”

Gleich darauf trat Setty wieder in ihr eigenes Zimmer und dort an das Fenster, um die Chaussee, die an dem Hotel vorbeiführte, zu beobachten. Am liebsten hätte sie sich mit einem Fernglas vor den Augen weit hinausgelehnt, aber das durfte sie natürlich nicht, denn sie mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß Benno Langenheim sie dann, wenn auch nur durch einen unglücklichen Zufall, bemerkte, und daß er sich, wenn er das Fernglas in ihrer Hand sah, sagte: Wie Kolumbus damals nach Land, so späht die da oben wohl nach dir aus?

Na, glücklicherweise konnte sie sich auch ohne Glas auf ihre scharfen Augen verlassen, und so blickte sie die weithin übersehbare Straße entlang, bis endlich, endlich, als ihre Ungeduld schon längst ihren Höhepunkt erreicht hatte, in weiter Ferne ein sehr großes und anscheinend sehr schönes Auto auftauchte, bei dessen Erscheinen sie sich sagte: Das ist er, das muß er sein, sonst hat dein lauter Herzschlag dich eben belogen und betrogen.

Für eine kurze Sekunde warf sie noch einen raschen Blick in den Spiegel, dann ergriff sie den Brief, den sie schon lange bereitgelegt hatte, verließ das Zimmer und lief, da sie auf dem Korridor glücklicherweise niemanden sah, schnell bis zur großen Treppe, damit sie bei der Geschwindigkeit der modernen Autos auch ja nicht zu spät käme, um die Treppe dann um so langsamer herunterzugehen, je mehr sie sich dem breiten Treppenabsatz, auf dem sie haltmachen wollte, näherte. Und als sie da war, wo sie sein wollte, blieb sie anscheinend ganz in die Lektüre ihres Briefes versunken stehen und lachte während des Lesens ein paarmal halblaut vor sich hin, als amüsiere sie sich bei der Lektüre königlich und als enthielte der Brief einen Witz nach dem anderen, während der in Wirklichkeit so stumpfsinnig und so langweilig war, daß sie sich, als sie ihn zum erstenmal gelesen, gesagt hatte: Wie bringt die Lili es nur fertig, dir einen solchen Bockmist zu schreiben und dafür auch noch das teure Porto auszugeben?

Nein, zum Lachen war das Geschreibsel wirklich nicht, aber sie lachte trotzdem hin und wieder fröhlich vor sich hin, weil sie wußte, daß sie ein sehr sympathisches und ein ansteckendes Lachen an sich hatte. Da fing Benno Langenheim vielleicht gleich an, mit ihr zu lachen, wenn er an ihr vorüberschritt.

Und nun hörte sie ihn im Gespräch mit dem Direktor die Treppe hinaufkommen, aber sie sah nicht auf, wie sie es auch nicht getan hatte, als sie die Autohupe vor dem Hotel hörte, als die Glocke des Portiers die Ankunft eines neuen Gastes meldete und dadurch den Direktor und das Personal zur Begrüßung und zum Empfang herbeirief.

Jetzt kam er! Aber an der Stimme, die nur ganz allmählich vernehmbar wurde, erkannte sie, daß er nur sehr langsam die Treppe hinaufstieg. Lag das an seinem Fußleiden oder daran, daß er solange wie möglich den hübschen und verführerischen Anblick, den sie ihm voller Absichtlichkeit bot, genießen wollte? Sie fürchtete das erstere, aber sie hoffte das letztere, und in dieser Hoffnung täuschte sie sich nach ihrer Überzeugung auch nicht, denn plötzlich erklang unmittelbar neben ihr die Stimme des Direktors: „Guten Tag, gnädiges Fräulein.”

Das sagte der natürlich nur, damit sie seinen Gruß erwidere, damit sie ihn und dabei auch seinen Begleiter ansähe und damit der, wenn sie den Brief sinken ließe, einen Blick in ihr Gesicht werfen könne, um sich davon zu überzeugen, ob das den Hoffnungen und Erwartungen entspräche, die er sich auf Grund ihrer hübschen schlanken Gestalt und ihrer hübschen Füße und Beine in der Hinsicht gemacht habe.

„Schönen guten Tag, Herr Direkor,” gab sie rasch, noch ehe die beiden an ihr hätten vorübergehen können, in liebenswürdigster Weise zur Antwort, aber sie ließ den Brief dabei nicht sinken, sondern sie blickte nur einen Augenblick zur Seite und sie sah dabei auch nur den Direktor an, ja sie brachte sogar das Kunststück fertig, ihre Augen so zu lenken, daß die seinen Begleiter gar nicht bemerken konnten.

Eine Sekunde später waren die Herren schon weitergegangen, um jetzt die weiter nach oben führende Treppe hinaufzusteigen, und da fühlte sie plötzlich ganz deutlich, wie Benno Langenheim sich nach ihr umsah, richtiger gesagt, wie er von seinem jetzt erhöhten Standpunkt auf sie herabblickte. Und nicht nur das, so leise das Wort auch gesprochen und so sicher sie es auch nicht hatte hören sollen, sie hörte es dennoch, wie er zu dem Direktor gewandt sagte: „Entzückend.”

Setty atmete so erleichtert auf wie ein Kandidat, der das Probeexamen glücklich bestanden und dem der strenge Examinator erklärt hat: „Ich glaube, Ihnen dafür garantieren zu können, daß Sie auch bei den späteren Prüfungen glänzend abschneiden werden,” und es kostete sie nicht geringe Überwindung, nicht unwillkürlich durch eine Bewegung zu verraten, daß sie das ihr gezollte Lob vernommen habe, und erst recht wurde es ihr nicht leicht, den langweiligen Brief ruhig weiterzulesen. Aber das mußte sie tun, denn es war doch sehr wahrscheinlich, daß Benno Langenheim sich noch einmal nach ihr umsah, und dann mußte sie natürlich noch dastehen, wo sie jetzt stand, und sie durfte ihn nicht auf den Gedanken bringen, sie habe nur seinetwegen mit dem Brief in der Hand bisher dagestanden, und das nur so lange, bis er an ihr vorübergegangen sei.

Am liebsten wäre sie gleich zu ihrer Mutter geeilt, um der zu erzählen, daß ihre Aktien günstig zu stehen schienen, nein, günstig ständen, aber das durfte sie auch nicht, schon damit nicht etwa auch der Direktor etwas argwöhnisch würde, wenn er sie nachher nicht mehr sah. So begab sie sich dieTreppe hinuner in die große Halle und setzte sich dort, in den Zeitungen und Zeitschriften blätternd, an einen Tisch, als nach einiger Zeit mit einemmal der Direktor, dessen Kommen sie tatsächlich überhört hatte, neben ihr stand, um sie [sic! vermutlich richtiger: sich! D.Hrsgb.] nach ihrem eigenen Befinden und nach dem ihrer Mutter zu erkundigen, um einige Bemerkungen über das schöne Wetter und ähnliche gleichgültige Dinge fallen zu lassen, bis er schließlich erzählte: „Frau Bankdirektor Kaufmann hat nun doch schon heute nachmittag zwei Uhr siebzehn abreisen müssen.”

Während der Direktor sie in der liebenswürdigsten Weise unterhielt, hatte Setty sich ein paarmal gefragt: Wie kommst du zu dieser Auszeichnung, und wie kommt es, daß der vielgeplagte Herr Direktor so viel Zeit für dich übrig hat? Dann aber fand sie des Rätsels Lösung, die ja allerdings auch nicht allzu schwer war. Herr Langenheim mußte sich mit ihm noch über sie unterhalten haben, und das Interesse, das der neue reiche Gast ihr entgegenbrachte, veranlaßte den Direktor nun, auch seinerseits besonders freundlich gegen sie zu sein. Aber trotzdem war es ihr ganz unverständlich, warum er ihr von der Abreise der Frau Bankdirektor sprach, denn die Dame kannte sie unter den mehr als zweihundert Gästen des Hotels weder vom Ansehen noch dem Namen nach.

Das erklärte sie dem Direktor jetzt auch, doch der meinte verwundert: „Aber vom Asehen müssen gnädiges Fräulein die Dame doch unbedingt gekannt haben, sie saß des Mittags und des Abends bei den Mahlzeiten an dem kleinen Tisch am Fenster, gegenüber dem Tisch, an dem gnädiges Fräulein mit der Frau Mutter speisen.”

Nun verstand sie! Was der Direktor ihr gesagt hatte, hieß auf deutsch: Herr Langenheim hat mich gebeten, ihn bei den Mahlzeiten möglichst in Ihre Nähe zu setzen, gnädiges Fräulein. Glücklicherweise ist der kleine Tisch am Fenster durch einen Zufall frei geworden, und dort wird nun der neue Gast sitzen, was ich dem gnädigen Fräulein hiermit in zartester und diskretester Weise zu verstehen gegeben habe.

Ja, nun hatte sie es verstanden, und wenn über ihre Person Aktien ausgegeben gewesen wären, würden die in diesem Augenblick an der Börse sicher ganz bedeutend gestiegen sein. Trotzdem meinte sie völlig gelassen und gleichgültig: „Ach, die Dame war die Frau Bankdirektor? Das habe ich bis zu dieser Minute noch gar nicht gewußt, denn wir sind mit ihr in keiner Weise in Berührung gekommen,” und mit schlauer Berechnung setzte sie hinzu: „Der Zustand meiner Mutter zwingt uns leider, ganz für uns zu bleiben und möglichst wenig Bekanntschaften zu machen. Ja, ich fürchte, es wrd damit noch schlimmer werden, denn es geht meiner armen Mutter leider gar nicht gut, die Bäder greifen sie sehr an.”

„Das ist der beste und untrüglichste Beweis dafür, gnädiges Fräulein, daß die Kur Ihrer Frau Mutter hilft. Die Wirkung der Bäder wird sich erst einige Wochen später zu Hause einstellen, und ich bin fest davon überzeugt, die Kur wird Ihrer Frau Mutter so gut tun, daß sie sich sehr bald wie verjüngt und wie neugeboren fühlt.”

„Hoffentlich,” stimmte Setty ihm bei, „einstweilen bereitet das Gehen meiner Mutter aber leider solche Schwierigkeiten, daß sie sich fortan in einem Rollstuhl von einem der Badediener fahren lassen muß, soweit ich den nicht selbst schiebe.”

„Von dem letzteren möchte ich doch aber dringend abraten, gnädiges Fräulein, diese kleinen Wagen sind nicht so leicht, wie sie aussehen, und es erfordert nicht nur Kraft, sonder auch Übung, mit ihnen umzugehen. Im übrigen tut es mir aufrichtig leid, daß die Frau Mutter, wenn hoffentlich auch nur für kurze Zeit, gezwungen ist, sich in einem Rollstuhl fahren zu lassen.”

Selbst wenn man ihr dafür den schönsten Perlenschmuck der Welt auf den Tisch gelegt hätte, Setty wäre nicht imstande gewesen zu erklären, wie sie das Kunststück fertig brachte, in diesem Augenblick in ihren hübschen Augen ganz große, echte Tränen schimmern zu lassen. Aber sie brachte das Kunststück fertig, und mit zuckenden, bebenden Lippen meinte sie: „Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Teilnahme, Herr Direktor, mir selbst ist es natürlich furchtbar, daß meine arme Mutter sich jetzt fahren lassen muß, ganz besonders, wo gerade sie früher so gut zu Fuß war. Stundenlang sind wir sonst immer zusammen spazierengegangen, bis meine Mutter dann mit einemmal so krank wurde, daß sie hierher mußte und —”

Bisher war der Direktor die Liebenswürdigkeit selnbst gewesen, nun fing er an, wie Setty es deutlich bemerkte, nervös und unruhig zu werden, so daß er sich nicht nur nach dem Portier umsah, damit der ihn abriefe, sondern daß er, wie sie es im stillen darüber belustigt sah, beide Hände auf den Rücken legte und mit diesen seinem Angestellten telegraphierte: Holen Sie mich von hier fort, ich soll einmal wieder eine Krankheitsgeschichte anhören, und wenn ich mir die von jedem meiner Gäste erzählen lassen wollte, würde ich selbst krank werden.

Und dieses Mal mußte der Direktor seinem Portier dringend telegraphiert haben, denn kaum eine halbe Minute später trat der mit der Frage heran, ob er den Herrn Direktor in einer wichtigen Angelegenheit vielleicht einen Augenblick sprechen dürfe, und der trat einen so beschleunigten Rückzug an, daß sie an sich halten mußte, um nicht hell aufzulachen. Aber den Direktor länger festzuhalten, hätte keinen Zweck gehabt, sie hatte Gelegenheit gefunden, ihre Antrittsrolle als zärtliche, nur um das Wohl ihrer Mutter besorgten [sic! D.Hrsb.] Tochter zu spielen, und sie war fest davon überzeugt, daß Benno Langenheim spätestens, wenn er nachher einmal das Hotel verließ, sofort über alles unterrichtet werden würde.

Und daß er das war, sah sie ihm an, als er ihr und der Mutter bei dem Abendessen zum erstenmal schräg gegenübersaß und als sie es mehr erriet als bemerkte, daß er kaum einen Blick von ihnen beiden abwandte, während sie selbst nur ein einziges Mal und auch da lediglich ganz kurz und wie zufällig zu ihm hinsah. Doch das genügte ihr, um ihr zu beweisen, daß er mit seinem bartlosen energischen Gesicht, mit seinem dunklen Haar und seinen ebensolchen Augen sehr gut aussah, und daß er ausgezeichnet angezogen ging. Wenn der Mann wirklich der Rahmen für das Bild seiner Frau war, dann war er ein hübscher und geschmackvoller, vorausgesetzt, daß er mit seinem Rheumatismusfuß nicht humpelte und infolgedessen als Bilderrahmen nicht immer mehr oder weniger schief stand. Na, daraufhin würde sie ihn sich bei der nächsten Gelegenheit ansehen, obgleich dieser etwaige kleine Schönheitsfehler sie in ihrem Entschluß, ihn zu heiraten, nicht beeinflussen durfte. Heute abend mußte sie sich aber erst mal von ihm ansehen lassen, und damit er das auch in Wirklichkeit täte, spielte sie nun den zweiten Akt der zärtlichen Tochter, und sie tat es mit so gut berechneter, aber trotzdem mit so viel natürlich erscheinender Liebenswürdigkeit und Anmut, mit einem so zärtlich besorgten Ausdruck in ihren Augen, und um die Kranke gar nicht die Fürsorge merken zu lassen, die sie ihr widmete, mit einem so reizenden Lächeln auf den Lippen, daß sie sich wiederholt im stillen sagte: Wenn Benno Langenheim Direktor einer großen Kinogesellschaft wäre, würde er dich nicht wegen deines Spiels, das er ja nicht ahnt und nicht durchschaut, sondern wegen deines natürlichen Charmes und wegen deiner so gar nicht gekünstelten Anmut todsicher sofort mit einer Bombengage als Star für seine Gesellschaft engagieren.

Und zum erstenmal kam ihr jetzt der Gedanke, ob sie nicht später vielleicht ihr Glück bei dem Kino versuche, falls ihr der da drüben als Ehemann aus irgendeinem Grunde durch die Lappen gehen sollte.

„Nun paß mal auf, Mutter,” flüsterte sie der plötzlich leise zu, „wenn wir nachher von Tisch aufstehen, wirst du bei dem Versuch, dich von deinem Platz zu erheben, mit einem zwar nur leisen, aber trotzdem hörbaren, unterdrückten Klagelaut auf deinen Stuhl zurückfallen. Ich springe sofort auf, um dir zu helfen, aber ich werde mich so stellen, als könne ich dich nicht allein auf die Beine bringen und werde mich hilfesuchend nach einem Kellner umsehen. Damit dann aber keiner kommt, müssen wir die Sache inszenieren, wenn keiner in der Nähe ist. Das überlasse nur mir. Anstatt des Kellners wird dann selbstverständlich Herr Langenheim auf dich zueilen und uns seine Hilfe anbieten, die wir zwar mit Dank ablehnen, die er aber trotzdem leisten wird. Er und ich werden dich zusammen durch den Saal führen, und wenn er es nicht eher tut, wird er sich mir spätestens morgen vorstellen, um sich bei mir nach deinem Befinden zu erkundigen. Das ist dann der Anfang unserer Bekanntschaft, und der Anfang ist bekanntlich immer das Wichtigste. Es kommt jetzt nur darauf an, daß du die Sache nachher geschickt machst. Wäre ich eher auf die Idee gekommen, hätten wir die oben in deinem Zimmer ein paarmal probieren können.”

Und als habe nicht sie der Mutter, sondern diese ihr etwas zugeflüstert, meinte sie gleich darauf ziemlich laut, damit Benno Langenheim es vielleicht höre: „Aber natürlich, Mutter, du weißt doch, ich erfülle dir jeden Wunsch mit tausend Freuden, und wenn das, was du mir eben sagtest, alles ist, was du auf dem Herzen hast, dann —” und da sie selbst nicht wußte, wie der Satz weitergehen könne, ergriff sie die Hand der Mutter und küßte sie zärtlich.

Eine kleine Viertelstunde später, als gerade zufällig im ganzen Saal kein Kellner zu sehen war, gab Setty das Zeichen zum Aufbruch: „Komm. Mutter, es wird Zeit, daß du wieder auf dein Zimmer gehst und dich hinlegst,” und als die sich nun von ihrem Platz erheben wollte, spielte sie ihre Rolle, nicht, um sich dadurch einen Schwiegersohn einzufangen, sondern um endlich wieder gesund werden und nach Hause fahren zu dürfen, so geschickt, und der leise Klageruf klang so echt, daß Setty sich sagte: Es ist nur gut, daß wir das nicht probiert haben, sonst wäre das vielleicht nicht so natürlich herausgekommen.

Dann aber sprang sie auf, und noch schneller als sie es erwartet hatte, stand Benno Langenheim neben ihr: „Wenn ich Ihnen meine Dienste anbieten dürfte, gnädiges Fräulein —”

Setty war so ängstlich um ihre Mutter besorgt, daß sie seine Worte natürlich überhörte. Ja, es wäre wohl sogar aufgefallen, wenn sie die, zumal er ein ziemlich leises Organ besaß, gleich gehört haben würde. Deshalb nahm sie auch in keiner Weise irgendwelche Notiz von ihm, sondern sie sah erst auf, als er ihr, auch ohne daß sie es ihm auf seine Frage hin besonders erlaubt hätte, behilflich war, die in ihrem Stuhl vor Schmerzen anscheinend ganz kraftlos in sich Zusammengesunkene zu stützen, und als sich dabei ihre Hände zufällig berührten.

Da erst sah sie ihn an, da merkte sie überhaupt erst etwas davon, daß jemand ihr behilflich war, und darüber machte sie ein derartig erstauntes, überraschtes und im ersten Augenblick auch beinahe erschrockenes Gesicht, daß er unwillkürlich verlegen wurde und sich bei ihr mit den Worten entschuldigte: „Nichts liegt mir natürlich ferner, gnädiges Fräulein, als mich aufdrängen zu wollen, aber da ich selbst noch eine Mutter habe —”

Daß seine Mutter noch lebte, fand sie im höchsten Grade überflüssig und in vieler Hinsicht auch sehr störend. Gewiß, sie war alles andere als herzlos und sie hatte sich stets bemüht, ein gutes Kind zu sein, aber allzuviel Zärtlichkeit der Mutter gegenüber lag ihr auch nicht. Doch dafür konnte sie nichts, das war Veranlagung. Deshalb kostete es sie jetzt auch täglich etwas Überwindung, in dieser Weise der Welt gegenüber beständig die zärtliche und besorgte Tochter zu spielen, aber das ging ja nun einmal nicht anders, da sie sich gerade diesen Trick ausgeheckt hatte, um durch den bald an den Mann zu kommen. Aber trotzdem an einer Mutter hatte sie mehr als reichlich genug, und deshalb hatte sie sich auch, so oft sie schon in ihrem jungen Leben an das Heiraten dachte, immer eine Ehe ohne eine zweite Mutter gewünscht, obgleich sie dabei gar nicht befürchtete, daß die ihr zugleich eine böse Schwiegermutter sein könne. Sie vertrat lediglich den Standpunkt: Je weniger Mütter, desto besser. Deshalb fuhren ihr seine Worte auch wie ein ziemlich großer Schreckschuß in die Glieder, so daß sie kaum auf all das hinhörte, was er ihr sonst noch erzählte, damit sie es begreife und entschuldige, daß er ihr seine Hilfe angeboten habe.

Dann aber nahm sie die dankend an, denn als sie ihre Mutter jetzt ein paarmal heimlich und leise in den Rücken gepiekt und ihr damit das Zeichen zum Aufstehen gegeben hatte, erklärte die jetzt plötzlich mit leiser Stimme: „Ich möchte in mein Zimmer und mich hinlegen,” und da Setty es voraussah, daß sie allein die Kranke nicht werde führen können, erlaubte sie es gern, daß er ihr half.

Setty stützte die Mutter zur Rechten, Benno Langenheim zur Linken, und so führten sie sie beide, begleitet von den teilnehmenden Blicken der anderen Gäste, zum Saal hinaus bis zum Fahrstuhl, wo sie sich voller Anmut bei ihm bedankte. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, er hätte sie noch weiter begleitet, aber da er nun einmal den Fahrstuhl nicht benutzte, mußte sie ihn verabschieden, bevor er sich verabschiedete, und deshalb meinte sie, während sie ihm die Hand reichte: „Sie waren sehr, sehr liebenswürdig und im Namen meiner Mutter und in meinem eigenen danke ich Ihnen vielmals herzlich Herr —?”

Offiziell hatte sie ja keine Ahnung, wer er war und wie er hieß, deshalb durfte sie auch nicht zu Ende sprechen, sondern sie mußte ihren Satz mit einem stummen Fragezeichen schließen. Und das tat auch seine Schuldigkeit, denn sich höflich verbeugend, sagte er: „Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, daß ich es bisher verabsäumte, mich den Damen vorzustellen” und nach einer abermaligen kurzen höflichen Verbeugung: „Benno Langenheim.”

Gleich darauf traten die Damen in den Fahrstuhl, aber noch bevor der sich in Bewegung setzte, erkundigte er sich, dabei seine Frage nur an Setty richtend: „Würden Sie gestatten, gnädiges Fräulein, daß ich vielleicht in einer Stunde einmal bei Ihnen anfragen lasse, ob es Ihrer Frau Mutter besser geht?”

„Das wäre sehr aufmerksam von Ihnen, Herr Langenberg.”

„Verzeihung, gnädiges Fräuein,” unterbrach er sie, „mein Name ist Langenheim.”

Das hätte er ihr wirklich nicht zu sagen brauchen, und daß sie sich versprach, war selbstverständlich Absicht. Das sollte ihm beweisen, daß sie seinen Namen bis zu dem Augenblick, als er ihnen den selbst nannte, noch nie gehört habe, und daß der ihr vollständig fremd sei. Aber obgleich sie sich absichtlich versprochen, mußte sie so tun, als sei ihr der Irrtum, in dem sie sich befunden, außerordentlich unangenehm, deshalb brachte sie auch das Kunststück fertig, vor Verlegenheit zu erröten, während sie sagte: „Seien Sie mir, bitte, nicht böse, Herr Langenheim. Ich weiß, es gilt mit vollem Recht als sehr unhöflich, bei einer Vorstellung nicht genau auf den Namen zu achten, doch die begreifliche Sorge um meine liebe Mutter —”

„Es bedarf Ihrerseits wirklich nicht der leisesten Entschuldigung, gnädiges Fräulein,” fiel er ihr ritterlich in das Wort, dann wiederholte er seine Frage, ob er sich erlauben dürfe, sich später noch einmal nach dem Befinden der gnädigen Frau Mutter erkundigen zu lassen.

Setty überlegte sich den schwierigen Fall anscheinend sehr ernsthaft, ehe sie eine Antwort gab, dann aber meinte sie: „Wenn die Mutter nachher schlafen sollte, Herr Langenheim, wollen wir sie auch schlafen lassen, und es könnte sie stören, wenn jemand klopft, um danach zu fragen, wie es ihr geht,” bis sie gleich darauf hinzusetzte: „Wenn der Zustand meiner Mutter es nachher irgendwie erlaubt, komme ich selbst noch einen Augenblick in die Halle, um Ihnen als Dank für Ihre herzliche Anteilnahme Bescheid zu sagen.”

„Ja, bitte, tun Sie das, gnädiges Fräulein,” bat er sie noch mehr mit seinen Augen als mit seiner Stimme, und als der Fahrstuhl sich jetzt in Bewegung setzte, nickte sie ihm deshalb auch freundlich zu, und dieses ihr Nicken sollte ihm sagen: ganz bestimmt, ich komme.

Im stillen aber war sie von Anfang an fest entschlossen, nicht zu kommen, denn das wäre mehr als unklug, das wäre geradezu dumm von ihr gewesen. Er mußte auf sie warten, seine Ungeduld mußte sich von Viertelstunde zu Viertelstunde und schließlich von Minute zu Minute steigern, bis er ganz enttäuscht zu Bett ging, um dort noch lange wach zu liegen, an sie zu denken, und um endlich mit dem tröstenden Bewußtsein einzuschlafen: Na, morgen vormittag siehst du sie ja ganz bestimmt.

Sicherlich, da würde er sie wiedersehen, aber auch nicht so früh und nicht so schnell, wie er es erhoffte, und wenn sie sich dann sprachen, durfte sie auch nur fünf oder zehn Minuten Zeit für ihn haben, denn die Mutter wartete auf sie, und sie mußte ihm gleich erzählen, daß sie nur, aber auch nur gekommen sei, um sich bei ihm zu entschuldigen, weil sie sich gestern abend bei dem besten Willen nicht habe freimachen können. Hoffentlich habe er nicht zu lange, oder noch besser, überhaupt nicht auf sie gewartet. Die arme Mutter habe gestern noch schreckliche Schmerzen und eine entsetzliche Nacht gehabt, auch sie selbst wäre nur für ganz kurze Zeit in ihr Bett gekommen, abe sie sei ja noch jung und Kranke zu pflegen, sei nun einmal für sie das Schönste, was sie sich denken könne. Die Kranken ließen sich auch alle so gern von ihr pflegen, denn sie habe — nein, das durfte sie nicht sagen, das konnte arrogant und anmaßend klingen, wohl aber konnte sie hinzufügen: sie solle eine sehr weiche, leichte Hand besitzen, und es solle den Leidenden gut tun, wenn sie ihnen diese ihre Hand auf die schmerzenden Stellen lege. Und heiter auflachend, als glaube sie selbst nicht an diese ihre Heilkraft, mußte sie schließen: Das bilden sich die Kranken natürlich nur ein, aber der Glaube allein wirkt ja oft Wunder.

So würde sie morgen zu ihm sprechen, und so sprach sie auch zu ihm, als sie absichtlich erst gegen elf Uhr vormittags in die Halle kam, und als er ihr da gleich entgegeneilte, um sie zu begrüßen und um sie zu fragen, wie es ihr ginge. Über diese seine Aufmerksamkeit freute sie sich sehr, aber trotzdem hätte sie sich, als er ihr entgegenkam, darüber noch mehr gefreut, wenn sie bei der Gelegenheit nicht zum erstenmal festgestellt hätte, daß er bei dem Gehen den linken Fuß doch ziemlich stark nachzog. Ob er das immer tat oder nur dann, wenn ihn wie jetzt das Zipperlein plagte, wußte sie nicht, trotzdem gestand sie sich ein, daß er als ihr Mann wenigstens in der Hinsicht nicht ganz der passende Rahmen für ihre Erscheinung sein würde. Aber schließlich, ganz fehlerlos war in seinem Äußeren wohl kein Mann, einen Schönheitsfehler hatte schließlich jeder, nur daß merkwürdigerweise immer gerade der, den der eigene Mann besaß, für seine Frau der störendste war. Von dieser seiner hoffentlich nur vorübergehenden Humpelei aber abgesehen, war er sonst wirklich ein hübscher Mensch, gut gewachsen, mit einem offenen, freien, männlichen Gesicht und mit guten, treuen, dunklen Augen.

Dazu kam, daß er auch in seinem Wesen nett war, und daß er das war, erkannte sie sehr bald. Ebenso daß er sehr bescheiden war. Er sprach mit keiner Silbe von sich, so daß sie ihn schließlich nicht nur fragen konnte, sondern höflichkeitshalber auch fragen mußte, ob er lediglich zum Vergnügen hier sei, oder ob auch er, wonach er allerdings absolut nicht aussähe, die Kur gebrauchen wolle.

Das, was sie mit kluger Berechnung sagte, mußte ihm doch beweisen, daß sie bisher gar nichts von seinem körperichen Leiden bemerkte, und da die Männer nun alle einmal maßlos eitel waren, würde ihm das, was er aus ihren Worten heraushörte und aus denen auch heraushören sollte, glatt heruntergehen. Und das tat es auch, denn als sie ihn, auf seine Antwort wartend, ansah, meinte er, während ein glückliches Lächeln seinen hübschen Mund mit den gesunden Zähnen umspielte: „Nicht wahr, gnädiges Fräulein, wenn man es nicht weiß und nicht geradezu darauf achtet, fällt es gar nicht auf, daß ich den linken Fuß ein klein wenig nachziehe?”

Wenn sie ihn nicht hätte heiraten wollen und heiraten müssen, hätte sie laut und spöttisch aufgelacht. Die Männer waren weiß Gott unsagbar eitel! Das nannte er nun „ein ganz klein wenig!” Aber wenn sie sein Fußleiden hätte, würde er natürlich über sie gelacht und gesagt haben: Schade um das Mädel, es ist sonst so hübsch, aber es hinkt ja wie eine wackelnde Kommode auf drei Beinen, und damit ist es ein für allemal erledigt.

Aber so waren die Männer! Wenn ein junges Mädchen auch nur den kleinsten Silberblick hatte, hieß es gleich: Die schielt wie ein Bock! Wenn ein Mann aber schielte, daß er beständig gegen alle Ecken anrannte, weil es ihm bei dem besten Willen nicht möglich war, mit den Augen geradeaus zu gehen und geradeaus zu sehen, hieß es lediglich: Die Sehschärfe seiner sonst so hübschen Augen läßt leider etwas zu wünschen übrig.

Na, überhaupt die Männer! Aber trotzdem, haben und bekommen wollte sie auch einen, und so meinte sie mit dem ehrlich erstauntesten Augenaufschlag von der Welt: „Sie ziehen den Fuß etwas nach?” Und obgleich sie wußte, welchen, und obgleich er auch selbst erwähnt hatte, daß es der linke sei, erkundigte sie sich weiter: „In welchem haben Sie denn ein Leiden oder in welchem bilden Sie sich ein, eins zu haben?”

Darauf gab er ihr nun nochmals Auskunft und erzählte, wann und wie und wo er sich im Felde den Rheumatismus geholt, und schon, weil sie für derartige Krankheitsgeschichten nicht das leiseste Interesse besaß, fiel sie ihm, sbald sich ihr nur dazu Gelegenheit bot, mit der Bemerkung in das Wort: „Passen Sie nur auf, Herr Langenheim, die Bäder werden Ihnen sicher gut tun, und auch sonst wird es Ihnen hier sehr gut gefallen. Das Bad hat eine wundervolle Umgebung, herrliche Wälder, in denen man stundenlange Spaziergänge machen kann, und schon die prachtvolle Luft allein wird Ihnen helfen. Passen Sie auf, auch an Ihnen wird sich das Wort bewahrheiten: Wer einmal hier war, kommt immer wieder.”

„Aber ich war doch schon zu wiederholten Malen hier, gnädiges Fräulein,” klärte er sie auf, und auch da gelang es ihr so glänzend, die Überraschte und Erstaunte zu spielen, daß er es nie und nimmer geglaubt haben würde, wenn ihm in diesem Augenblick jemand gesagt hätte: „Das Mädel spielt Ihnen eine fürchterliche Affenkomödie vor, denn alles, was Sie ihr erzählen, weiß es schon längst.”

Nein, er hätte dem Schurken, der sie bei ihm zu verleumden versucht hätte, nie und nimmer geglaubt. Ihm sah man die Anständigkeit seiner Gesinnung, die nur ganz gemeine und ganz schlechte Menschen in solchem Falle Dummheit zu nennen wagen, an seinen Augen an und schon, weil er einen so anständigen, vornehmen Charakter hatte, blieb sie auf seine Bitten hin noch etwas bei ihm sitzen, obgleich es, wie sie ihm sagte, wirklich Zeit wurde, daß sie sich nach ihrer kranken Mutter umsah.

Fünf Minuten gab sie auf seine Bitten hin noch zu, fünf Minuten nach der großen Uhr, die über dem Platz des Portiers hing, aber so schwer es ihr auch wurde, nicht eine halbe mehr, denn sie mußte ihm beweisen, wie pünktlich und gewisenhaft sie sei, daß die Pflichterfüllung bei ihr allem anderen vorginge und daß sie unter allen Umständen auch ausführe, was sie sich vorgenommen. Als junges Mädchen durfte sie sich natürlich nicht selbst loben, wohl aber durfte sie ihm Gelegenheit geben, das zu tun, und wenn er sich bei der Gelegenheit ein falsches Bild von ihr machte, war das einzig und allein seine Schuld. Warum hatte er ihr gleich alles so ohne weiteres geglaubt? In der Hinsicht waren die jungen Mädchen viel vorsichtiger, schon weil die in solchen und ähnlichen Fällen die Absicht der Männer merkten und dementsprechend von dem, was die Männer sagten, gleich einen guten Teil abzogen.

Irgendein Weiberfeind sollte einmal gesagt haben: Wenn jeder Mann die Frau oder die Geliebte, mit der er zusammen lebt, ganz genau durchschaute, würde er vor Entsetzen entweder einen Herzschlag bekommen oder erst sie und dann sich totschießen, denn wenn schon das Wort wahr sei: Wer da in der Seele seiner Dienstboten lesen könne, würde nie den Mut haben, ihnen einen Auftrag zu erteilen oder auch nur eine Gefälligkeit von ihnen zu erbitten —, so wäre es erst recht doppelt und dreifach wahr, daß kein Mann seiner Frau auch nur einen Kuß geben oder gar einen solchen von ihr erbitten würde, wenn er immer wüßte, was sie im stillen über ihn denkt, und wie wenig sie sich in ihren Gedanken mit ihm, wieviel sie sich aber mit sich selbst — und mit anderen Herren beschäftigt.

Und eine Freundin hatte ihr einmal erklärt: Der Ehemann ist nur dazu da, um seine Frau von oben bis unten, und von außen nach innen so hübsch und so verführerisch zu kleiden, daß andere Männer ihre Freude daran haben, wenn sie sich in deren Gegenwart auszieht.

Setty wußte selbst nicht, wie ihr das alles plötzlich wieder einfiel, als sie sich von Benno Langenheim verabschiedet hatte und mit dem Lift nach oben fuhr, um sich nach ihrer Mutter umzusehen. Aber alle diese häßlichen Wahrheiten, falls es solche waren, verdankte sie lediglich ihren verheirateten Freundinnen, die sich nun einmal ein Vergnügen daraus machten, sie über die Ehe aufzuklären, weil sie wußten, daß es ihr Spaß machte, sich aufklären zu lassen. Daß es keinen Storch gab, wußte sie selbstverständlich schon seit dem Tage ihrer Einsegnung, nein, noch viel länger. Aber die Psychologie der Ehe oder wie sie das sonst nennen sollte, interessierte sie immer aufs neue. Doch soviel nahm sie sich in diesem Augenblick fest vor, wenn sie erst mit Benno Langenheim verheiratet war, wollte sie die Psychologie der Ehe allein weiterstudieren und jeden Umgang mit ihren verheirateten Freundinnen, ja auch jeden Briefwechsel mit ihnen aufgeben. Wenn sie glücklich wurde und es blieb, sollten die Freundinnen ihr dieses Glück mit ihren häßlichen Ansichten nicht zerstören, wurde aber auch sie unglücklich, dann würde sie erst recht jeden persönlichen und schriftlichen Verkehr mit ihren Freundinnen meiden, schon damit die ihr nicht triumphierend erklären konnten: Na, siehst du es jetzt selbst ein, Setty, daß wir recht hatten mit dem, was wir dir sagten, und wenn wir behaupteten, die Ehe wäre ein Hexenkessel, in dem alles mögliche siedet, brauset und zischt, nur nicht das Glück?

Nein, ihr etwaiges Leid wollte sie allein tragen, aber warum sollte gerade sie nicht glücklich werden? Sie hatte nach ihrer ehrlichsten Überzeugung alles, was nötig war, um einen Mann restlos glücklich zu machen, besonders wenn er sie glücklich machte, und warum sollte Benno Langenheim das nicht tun? Daß sie sehr bald an ihm seine schwache Seite entdecken würde, unterlag für sie keinem Zweifel, und hatte sie die erst gefunden, würde sie ihn schon nach ihren Wünschen zu leiten wissen, nur durfte er es nicht merken, daß sie ihn am Gängelband führte, oder wenn er es eines Tages doch merkte, mußte es für ihn zu spät sein, um sich noch nachträglich dagegen auflehnen zu können.

„Wollen gnädiges Fräulein bitte aussteigen?” unterbrach die Stimme des Liftpagen ihre Gedanken, denen sie, während sie nach oben fuhr, so nachgehangen hatte, daß sie das Halten des Fahrstuhls gar nicht bemerkte, und daß sie auch nicht wußte, wie lange der Page schon darauf gewartet haben mochte, daß sie ausstiege.

Jetzt tat sie es und trat bald darauf bei ihrer Mutter ein, um dieser von ihrer Unterhaltung mit Benno Langenheim zu erzählen und um ihren Bericht mit den Worten zu schließen: „Ich glaube, Mutter, es macht sich.”

Und nach und nach machte es sich wirklich. So oft sie fortan mit Benno Langenheim zusammentraf, merkte sie ihm immer deutlicher an, wie hell und freudig es bei der Begegnung mit ihr in seinen Augen aufblitzte, und sie sah, wie er ganz traurig wurde, wenn sie mitten in der schönsten Unterhaltung unter dem Vorwand, sich nach ihrer Mutter umsehen zu müssen, von ihrem Platz erhob und dann absichtlich nicht zu bewegen war, auch nur noch eine Minute zu bleiben. Auch seine Bitten, ihr diesen oder jenen Spaziergang zeigen zu düfen, schlug sie der Mutter wegen so lange ab, bis sie sich eines Tages sagte: Nun mußt du aber einmal mit ihm gehen, sonst glaubt er, du wolltest ihm dadurch, daß du überhaupt nicht mit ihm gehst, entgehen, und diesen durch nichts begründeten Verdacht durfte sie unter keinen Umständen in ihm wach werden lassen, am allerwenigsten jetzt, wo in den letzten Tagen ein anderes junges Mädchen mit einer Tante in ihrem Hotel aufgetaucht war, das beinahe, nein, das nicht, das aber ungefähr beinahe annähernd so hübsch war wie sie selbst.

So erzählte sie ihm eines Morgens, es ginge ihrer Mutter glücklicherweise etwas besser, so daß sie hoffe, sich am nächsten Nachmittag für einen Spaziergang mit ihm freimachen zu können. Aber um seine Ungeduld auf das Alleinsein mit ihr zu erhöhen, bekam die Mutter am nächsten Morgen, wie sie es ihm mit Tränen in den Augen berichtete, einen Rückfall, während sie selbst gehofft habe, daß es der nun endlich dauernd besser gehen möge.

Bevor sie sich ganz ihrem Schmerz überließ, hatte sie sich durch einen schnellen Blick davon überzeugt, daß außer dem Portier, der mit seinen Büchern beschäftigt war und der gar keine Zeit hatte, auch nur nach ihnen hinzusehen, sich niemand in der Halle aufhielt. Dazu kam, daß sie in einer Art Nische saßen. So konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen, ohne befürchten zu müssen, daß andere herzlose Menschen sie vielleicht im stillen auslachten und verspotteten, weil sie so dicht an das Wasser gebaut habe. Ja, sie konnte ruhig weinen und namentlich — und das war ja der Zweck der Übung — namentlich konnte und durfte sie es dulden, als er, wie er es eigentlich schon seit Minuten hätte tun sollen und können, nun ihre Hände ergriff, um die in den seinen zu halten, um die zärtlich zu streicheln und um ihr dabei immer wieder gut zuzusprechen: „Ihre Frau Mutter wird sich ganz bestimmt sehr schnell wieder erholen, gnädiges Fräulein. Wenn jemand zum erstenmal zur Kur hier ist, greifen die Bäder sehr an, da wühlen sie die Schmerzen zuerst viel mehr auf, als daß sie die lindern, aber das gibt sich, gnädiges Fräulein. Glauben Sie mir, es wird viel schneller besser werden, als Sie denken.”

„Glauben Sie wirklich?” fragte Setty mit tränenumflorten Blick und mit leiser, zitternder Stimme. Aber während sie das fragte, dachte sie: Hoffentlich hat der Kellner inzwischen der Mutter das große Filetbeefsteak mit Spiegeleiern und Bratkartoffeln, das ich auf Kosten von Tante Hanna bei ihm bestellte, auf das Zimmer gebracht, denn seitdem sie nicht mehr zu bewegen ist, Brunnen zu trinken, hat sie einen Heißhunger, der beinahe unanständig ist, sie holt jetzt mit dem Essen alles nach, was sie während des Brunnentrinkens versäumen mußte.

„Glauben Sie wirklich?” fragte Setty noch einmal, da er, anstatt zu antworten, ihr lediglich voll ehrlichster Anteilnahme ihre heute morgen mit Absicht ganz besonders sorgfältig manikurten Hände streichelte, bis sie das in ihrem Schmerz überhaupt erst jetzt bemerkte, um sie gleich darauf aus den seinen zu befreien, ohne aber das leiseste Wort darüber zu verlieren, daß er ihre Hände so lange in den seinen hielt. Ein vorwurfsvolles „Aber Herr Langenheim” oder ein ängstliches „Wenn das jemand sähe” hätte die leise träumerische Stimmung, die sie beide umgab, jäh zerrissen, und sie wußte aus den Stunden, in denen sie mit der Nähnadel in der Hand ihre Kleider und ihre Sachen in Ordnung hielt, wie schwer es war, zerrissene Dinge wieder zusammenzuflicken.

Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber, dann sagte er plötzlich und unvermittelt: „Wir haben uns nun schon so oft, wenn leider immer nur kurze Zeit, miteinander unterhalten und doch haben Sie mir eigentlich noch nie etwas aus Ihrem Leben erzählt, gnädiges Fräulein.”

Setty mußte sich Gewalt antun, um bei seinen Worten ganz ruhig und unbefangen zu bleiben, denn was er da eben sagte, war der Anfang vom Ende. Nun dauerte es nur noch Stunden, im schlimmsten Falle noch so viele, bis sie morgen mit ihm den Spaziergang machte, dann war sie verlobt, dann hielt er um sie an, und daß sie mit tausend Freuden ja sagen würde, war doch klarer als sonst irgend etwas auf der Welt.

Aber seine Äußerung bewies ihr auch, daß er entweder ein Idealist oder ein Dummkopf war, denn sonst konnte er sich doch von vornherein denken, daß sie ihm über sich nur das erzählen würde, was er gern von ihr hören wollte. Wie hatte doch einmal ein Weiser gesagt, der die Frauen kannte oder der sich wenigstens einbildete, sie zu kennen: Frage ein weibliches Wesen aus, und es wird ganz genau wissen, was es dir nicht antworten soll.

Und als sie nun auf seine erneute Bitte hin von ihrem Leben zu sprechen begann, erzählte sie nur das, was ihm lieblich in den Ohren klang. Sie sprach von der geradezu unbeschreiblich glücklichen Ehe, in der ihre Eltern miteinander gelebt hätten, bis ein leider allzu früher Tod den Vater abrief. Sie sprach davon, wie sehnsüchtig beide Eltern sich vom ersten Tage ihrer Ehe an als Kind ein Mädel, aber auch nur ein Mädel gewünscht hätten, und wie groß daher der Jubel gewesen wäre, als sie eines Tages auf der Welt erschien, um bald darauf bei der Taufe den ihm vielleicht etwas seltsam vorkommenden Namen Setty zu erhalten. Aber in den hätten der Vater und die Mutter, als sie ihn zufällig einmal in einem Buche lasen, sich beide gleich verliebt und sich gegenseitig erklärt: Wenn der Himmel unser Gebet erhört und uns ein Mädel schenkt, soll es Setty, aber auch nur Setty heißen.

Und auch sonst erzählte sie ihm vieles, nur hütete sie sich auch jetzt ängstlich, sich selbst zu loben. Das aber nicht, weil es da nicht viel zu loben gab, denn als modernes Mädchen konnte sie natürlich nicht kochen, verstand auch sonst von der Wirtschaft nichts, und was sie sich des Abends zusammennähte und -flickte, war auch nicht der Rede wert. Trotzdem hätte sie sich ja aber alle Fähigkeiten und Talente, die sie nicht besaß, mit Leichtigkeit andichten und ihm später während der Ehe, wenn er ihr da einmal ihre vielseitige Talentlosigkeit vorhalten sollte, die im Gegensatz zu ihrem Selbstlob stände, ja, da hätte sie ihm mehr als verwundert erklären können: „Aber Benno, wie ist es nur möglich, daß du mich damals in der Hotelhalle so falsch verstanden hast, denn ich habe gerade das Gegenteil von dem behauptet, was du heraushörtest. Allerdings warst du guter Junge ja an dem Morgen so wahnsinnig verliebt in mich, daß du auf das, was ich sagte, kaum acht gabst, daß du mich nur immer ansahst, aber trotzdem, daß du ein so unaufmerksamer Zuhörer wärest, habe ich dir doch nicht angemerkt. Ja, ja, in der Kunst der Verstellung seid ihr Männer groß.”

Es wäre ihr ein leichtes gewesen, ihren Mann später davon zu überzeugen, daß er sie ganz falsch verstanden habe, aber sie unterließ es, sich irgendwie zu loben, damit er ihr das Zeugnis ausstelle, sie sei mehr als bescheiden und sie gehöre zu jenen seltenen weiblichen Geschöpfen, die nie von ihren Talenten, ihren Kenntnissen und ihren Fähigkeiten sprächen. Und außerdem hätte es doch, wenn sie sich lobte, so aussehen können, als verfolge sie damit den Zweck, ihn einzufangen, und das wollte sie schon deshalb ganz bestimmt nicht, weil sie ganz deutlich sah, daß sie ihn bereits gefangen hatte. Jedes Wort zuviel konnte nur noch schaden, eine kluge und weise Zurückhaltung aber würde ihn nur noch verliebter machen, als er es ohnehin schon war.

So erhob sie sich denn auch bald darauf, um sich wieder nach ihrer kranken Mutter umzusehen und um von der im letzten Augenblick noch einmal mit so viel Liebe, Verehrung, aber auch mit solcher Sorge um ihre Gesundheit zu sprechen, daß er sie ganz gerührt ansah und ihr zum Abschied das Wort mit auf den Weg gab: „Welch selten guter, edler Mensch Sie sind, gnädiges Fräulein.”

Natürlich lehnte sie das voller Bescheidenheit ab. Aber als sie zu ihrer Mutter in das Zimmer getreten war, tanzte sie vor Freude und vor Übermut, so gut sie es vermochte, eine Tarantella und frohlockte: „Mutter, morgen abend bin ich verlobt, und dann kannst du allmählich anfangen, wieder gesund zu werden, aber natürlich nur ganz allmählich, sonst merkt er den Schwindel, ich wollte natürlich sagen, sonst durchschaut er meinen Trick, mit dem ich ihn mir gekapert habe. Ich bitte mir deshalb auch aus, daß du dich nun nicht etwa in der nächsten Woche gleich an dem Sportfest beteiligst und dich bei dem nicht als Schnelläuferin um den ersten Preis bewirbst, falls bis dahin die Mattigkeit und die Schwere aus deinen Gliedern ganz verschwunden sein sollte. Zehn Tage mußt du dich wenigstens noch in dem Rollstuhl fahren lassen, dann darfst du wieder damit anfangen, auf deinen Stöcken zu gehen. Na, aber das überlaß nur mir, ich werde dir schon jeden Morgen die nötigen Verhaltungs­maßregeln geben. Erst aber werde ich mich nun morgen nachmittag mal verloben.”

Und am nächsten Nachmittag machte sie ihren Verlobungsspaziergang, zu dem sie sich aber trotz des schönen Wetters absichtlich in keiner Weise besonders verführerisch anzog, denn das hätte ja so aussehen können als ob, und ein anständiges vornehmes junges Mädchen, das um seiner selbst willen etwas auf sich hält, vermeidet es nicht nur, einen Argwohn, sondern auch den Schein eines solchen auf sich zu lenken.

Dann gingen sie zusammen in den Wald, aber wenn sie ehrlich sein wollte, mußte sie sich eingestehen, daß sie eigentlich allein ging, denn er humpelte oder hinkte, oder wie sie es sonst nennen sollte, daß er den linken Fuß so schwer nachzog. Aber daß er das tat, hatte wenigstens heute sein Gutes, da würde er sie nicht allzu weit führen, sondern bald eine stille verschwiegene Bank zu finden wissen, auf der er ihr von seiner Liebe sprechen konnte. Und er mußte die Bank schon gestern nachmittag oder heute morgen gesucht haben, sonst hätte er die, zumal sie sehr abseits und versteckt lag, jetzt wohl nicht mit solcher Sicherheit gefunden.

Und als sie auf der Bank zusammensaßen, dauerte es auch keine fünf Minuten, bis er anfing, ihr von seiner Liebe zu sprechen. Er erzählte, wie er gleich bei seiner Ankunft von dem entzückenden Bild überrascht gewesen sei, das sie ihm, als sie oben auf der Treppe stand, ohne seine Nähe auch nur zu ahnen, geboten habe, und er gestand, daß er eine ganze Weile unten stehengeblieben sei und sich an ihrer Erscheinung, soweit sie ihm die geboten (also waren die lila Strümpfe doch die richtigen, dachte Setty), erfreut und berauscht habe, bis er an der Seite des Direktors die Treppe hinaufgestiegen wäre. Und im Vorübergehen habe ihr helles frohes Lachen bei der Lektüre ihres Briefs es ihm so angetan, daß er sich gleich bei dem Direktor nach ihr erkundigte und mehr als glücklich gewesen sei, als er hörte, sie würde mit ihrer Mutter noch längere Zeit hierbleiben. Und nicht nur das, er habe darum gebeten, ihm einen Tisch in ihrer Nähe zu geben, damit er sie bei den Mahlzeiten beständig sehen könnte.

Das weiß ich doch schon längst, warum erzählst du mir das alles, hätte sie ihm am liebsten zugerufen, statt dessen mußte sie sich überrascht und verwirrt stellen, und das gelang ihr so gut, daß ihr ein leichtes Rot der Verlegenheit in die Wangen stieg.

Und als er das bemerkte, fragte er mit leiser Stimme: „Sind Sie mir deswegen böse, gnädiges Fräulein?”

Es fehlte nicht viel, dann hätte sie ihn verständnislos angesehen, hell aufgelacht und ihm das Wort „Dussel” zugerufen. Doch da sie das nicht durfte, schüttelte sie nur leise den Kopf, während sie mit stiller Genugtuung feststellte, daß ihr das Blut noch stärker in die Wangen stieg.

Und dieses ihr Kopfschütteln tat seine Schuldigkeit, denn sie sah, wie er bei ihrem Zeichen: „Ich zürne dir nicht”, erleichtert aufatmete und wie das Glück in Gestalt eines leichten sonnigen Lächelns über sein Gesicht huschte, bis er gleich darauf fortfuhr, ihr weiter von seiner Liebe zu sprechen, die ganz plötzlich über ihn gekommen sei: „Und dabei habe gerade ich immer gezweifelt, daß es wirklich eine Liebe auf den ersten Blick gäbe, gnädiges Fräulein, und gerade ich habe es immer für ganz ausgeschlossen gehalten, daß ich so schnell daran denken würde, mir ein eigenes Heim zu gründen. Allerdings, zu gründen brauche ich es mir in gewissem Sinne nicht erst, es steht schon fertig für mich da, und meine Mutter wartet schon lange darauf, daß ich ihr eine Tochter zuführe.” Und er sprach davon, wie ihre rührende Liebe zu ihrer Mutter und die treue Fürsorge und die Pflege, die sie der immer erwiesen, ihn in erster Linie für sie eingenommen habe, weil er daraus am besten ersehen, welch guter, edler Mench sie sei. Ja, er habe die Kranke oft um die Sorgfalt, mit der sie, Setty, die umgeben, im stillen sogar beneidet und sich zuweilen gewünscht, er möchte selbst einmal krank werden, um sich dann von ihr pflegen lassen zu können.

Das solltest du dir auch wünschen, mein Jungchen, und daß du dir das wünschen würdest, habe ich vorausgesehen, dachte Setty, sagen aber tat sie: „Versündigen Sie sich nicht, Herr Langenheim, denn das höchste Gut, das ein Mensch besitzt, ist und bleibt seine Gesundheit.

Mit den Worten „das er besitzt”, hatte sie ihm Gelegenheit gegeben, ihr nun zu erzählen, was er außer seiner humpelnden Gesundheit sonst noch besäße, und was er ihr in der Hinsicht aufzählte, übertraf ihre kühnsten Erwartungen, so daß sie es ihm gern glaubte, als er zum Schluß davon sprach, er sei imstande, seiner Frau ein in jeder Beziehung glänzendes sorgenfreies Leben zu bieten, und als er sie endlich, endlich fragte, ob sie seine Frau werden wolle.

„Ich?”

Mit einem Gesicht, als wäre sie auf alles, aber auch auf alles, nur nicht auf diesen seinen Antrag vorbereitet gewesen, sah sie ihn erstaunt und fassungslos an, aber natürlich in keiner Weise ablehnend, sondern eher mit einem Ausdruck, der ihn ein klein wenig ermunterte.

Dann aber fragte sie plötzlich, sich wieder ihres Tricks erinnernd: „Und was würde aus meiner kranken Mutter werden, wenn ich wirklich Ihren Antrag nehmen sollte?” Und leise, fast unhörbar, mehr für sich selbst, als für ihn bestimmt, setzte sie hinzu: „Alles, alles hätte ich mir träumen lassen, aber nicht, daß wir beide, ich und Sie — ich — ich und du —”

Da, aus diesem nur ganz leise hingehauchten Du hörte er ja deutlich heraus, daß sie auch ihn liebe und daß sie einwillige, seine Frau zu werden.

Und ehe sie noch recht wußte, wie ihr geschah, hatte sie schon den Verlobungskuß auf ihren Lippen und einen geradezu herrlichen Verlobungsring mit kostbaren Steinen, den er für alle Fälle gleich mitgebracht haben mußte und den er blitzschnell aus der Westentasche hervorgezaubert hatte, auf dem Goldfinger der linken Hand.

Sie war verlobt! Gott sei Dank! Endlich! Nun war sie dem nicht mehr ausgesetzt, daß eine ihrer Freundinnen sie fragte: Wie kommt es nur, Setty, daß du nicht heiratest? Nun hatte sie einen Mann, sogar einen humpelnden, nein, sogar einen sehr hübschen, sehr reichen und sehr eleganten, dessen Name in der ganzen Industriewelt einen anerkannt guten Klang hatte, und der in der Lage war, seiner Frau ein in jeder Hinsicht sorgenfreies Leben zu bieten.

Es war erreicht! Und als könne sie das Glück, das so plötzlich und so völlig unverhofft über sie gekommen, immer noch nicht fassen, strich sie sich mit der rechten Hand über die Stirn und sprach leise vor sich hin: „Ein Traum, ein Traum — ein Märchentraum, aber hoffentlich nicht nur ein Traum.”

Glücklich und übermütig lachte er an ihrer Seite auf: „Warum sollte es denn nur ein Traum sein, Setty? Wir haben uns doch beide über alles lieb, ich dich, du mich —”

„Ja, ich dich,” unterbrach sie ihn und schmiegte sich zärtlich an ihn. Dann küßten sie sich, aber während sie sich küssen ließ und ihn wiederküßte, dachte sie: Das Zigarrenrauchen werde ich dir abgewöhnen. Zigarettenküsse sind ja ganz nett und pikant, aber Küsse, die nach Zigarren schmecken, sind ekelhaft.

Dann aber gedachte sie wieder ihrer kranken Mutter und fragte: „Darf ich aber auch die Mutter verlassen? Was wird aus der, wenn ich dir nun als dein Weib in deine Heimat folge?”

„Für die werde ich nach besten Kräften sorgen, Setty,” beruhigte er sie. „ich werde ihr, wenn du nicht mehr bei ihr bist und wenn sie dessen noch bedarf, die beste Pflegerin halten und auch sonst tun, was ich nur kann, damit alles für ihre Gesundheit geschieht, was nur möglich ist. Natürlich habe ich auch schon daran gedacht, sie zu uns zu nehmen, wenn wir verheiratet sind, damit du sie weiterpflegen kannst, aber zwei Kranke würden auf die Dauer wohl selbst dir, die du nichts Schöneres auf der Welt kennst, als dich den Kranken zu widmen, etwas zuviel werden.”

Nur ein wahres Glück, daß er den Gedanken, ihre Mutter mit in die Ehe zu nehmen, schon wieder aufgegeben hatte. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, daß sie ihren Trick, mit dem sie ihn sich erobert, nun auch noch in der Ehe weiter durchführen sollte. Und außerdem würde die Mutter, jetzt, wo sie verlobt war, ja nach und nach wieder gesund werden, nun würden die Bäder auch an ihr ihre Heilkraft beweisen. Von zwei Kranken, die sie weiterpflegen sollte, konnte also gar nicht die Rede sein, höchstens von einem, von ihm, aber von seinem Hinke- und Humpelfuß abgesehen, fehlte ihm ja glücklicherweise nichts, und für den brauchte er schließlich höchstens einen Masseur, aber nicht sie. Oder glaubte er, daß sie einen Massagekursus durchmachen und daß sie als seine Frau fortan täglich seinen Fuß kneten würde? Möglich war es, denn wenn eine ihrer vrheirateten Freundinnen recht hatte mit dem, was sie ihr einmal erzählte, verlangten die Männer von ihren Frauen zuweilen Dienstleistungen, die sie nicht einmal ihren Dienstboten zumuteten.

Aber als sie nun bei ihm sehr vorsichtig antippte, um zu erfahren, wen er mit dem zweiten Kranken meine, den sie voller Liebe pflegen und betreuen solle, kam es heraus, und da sah sie es leider zu spät ein, daß eine ihrer Freundinnen doch recht hatte, als die einmal behuptete, das Gemeinste, das Allergemeinste, was es auf der ganzen Welt nur gäbe, wären und blieben die Männer.

Denn plötzlich erzählte er ihr, und zwar zum erstenmal, solange sie sich nun doch schon kannten, ausführlich von seiner Mutter, an der er, wie er das selbst nannte, mit rührender Liebe hing, und da erfuhr sie, daß seine Mutter seit Jahren gelähmt und völlig des freien Gebrauchs ihre Glieder beraubt war. Und nicht nur das, das lange Kranksein, die traurige Gewißheit, nie wieder gesund zu werden, drückten auf ihre Stimmung. Am meisten aber litt sie darunter, daß sie nur bezahlte Pflegerinnen um sich habe, die jede, auch die kleinste Hilfeleistung einzig und allein des Geldes wegen täten, die ihr gar keine Liebe entgegenbrächten und die, wenn die arme Mutter einmal ein unfreundliches Wort fallen ließ, entweder gleich mit der Kündigung drohten oder eine Gehaltsaufbesserung verlangten. Schon deshalb habe die Mutter sich so lange gewünscht, er möge heiraten und ihr eine Tochter zuführen, die ihre Pflege übernähme, die sie mit Liebe umgäbe und der es ein Herzensbedürfnis sei, ihr wirkliche Liebe zu erweisen. Er selbst habe nie geglaubt, daß es ihm, noch dazu in der jetzigen Zeit, in der die meisten jungen Damen nur an Tanz und an sonstige Vergnügungen dächten, gelingen würde und gelingen könne, ein junges Mädchen zu finden, das würdig sei, seiner geliebten Mutter als Tochter zugeführt zu werden, und das mit tausend Freuden, weil es ihr ein Herzensbedürfnis sei, sich der Kranken annehmen würde. Da habe er ja aber sie, seine über alles geliebte Setty, kennengelernt, und alles, was er in seinen täglichen Briefen über sie nach Hause berichtet, habe seine Mutter in ihrer Überzeugung bestärkt, sie, Setty, sei diejenige, die sie sich schon so lange als Tochter wünsche, aber sie sei zugleich auch die richtige Frau für ihn, denn ein junges Mädchen, das in der Pflege der Kranken ihre schönste und heiligste Lebensaufgabe sähe, werde ihrem Mann erst recht in seinen gesunden Tagen als liebevollste Gattin treu zur Seite stehen.

„Wie schrecklich, wie namenlos entsetzlich,” stöhnte Setty auf, als er endlich schwieg, und die Tränen, die aus ihren Augen stürzten, waren so echt, wie sie noch nie so echte vergossen hatte, denn dieses Mal weinte sie um ihrer selbst willen, sie weinte über das, was ihr bevorstand, und über das, was sie sich da eingebrockt hatte.

Er aber glaubte, ihre Tränen gälten dem Leid seiner Mutter, und nur das Mitleid mit der ließen ihre Tränen so unaufhaltsam fließen.

Voll der zärtlichsten Liebe zog er sie an sich und küßte sie immer wieder, während er ihr zwischendurch zurief: „Wie gut du bist, und wie danke ich dem Himmel, daß er mich dich finden ließ.”

Er küßte sie, und sie küßte ihn, schon weil ihr nichts anderes übrigblieb, wieder, so schwer ihr das auch wurde, aber während sie das tat, schwur sie sich im stillen: Wenn sie vielleicht durch einen Zufall bald Witwe werden, oder wenn sie sich bald, nachdem ihre Zukunft finanziell sichergestellt, scheiden lassen sollte, und wenn sie dann wieder auf den Männerfang ausging, dann wollte und würde sie sich einen anderen Trick ausdenken, und zwar einzig und allein einen solchen, mit dem sie nur ihn hineinlegte und nicht zum zweitenmal auch sich selbst.


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© Karlheinz Everts