Eine Weihnachtslüge.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Badische Presse” vom 23.12.1911,
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 23.12.1911,
in: „Dresdner Neueste Nachrichten”, Unterhaltungsblatt, vom 24.12.1911,
in: „S. M. kommt!”


Das hätte der Oberst von Gottberg, ein aufrechter, sehr gut aussehender Fünfziger denn doch nicht gedacht, und das sagte er sich immer wieder im stillen. Gewiß, seine Frau hatte es ihm hoch und heilig versprochen, sich selbst und ihm den Weihnachtsabend nicht dadurch zu verderben, daß sie fortwährend um das einzige Kind, ihren Sohn Fritz, jammerte, der dem Fest hatte fernbleiben müssen. Gewiß, seine Frau hatte es ihm in die Hand gelobt, nicht zu klagen und zu weinen, aber daß sie ihr Wort hielt, begriff er nicht, denn sie war doch eine Frau und hatte ihr eigenes Kind über alles lieb. Aber sie klagte trotzdem nicht. Selbst als sie jetzt, nachdem die Bescherung vorüber war, mit ihrem Mann Hand in Hand vor dem brennenden Tannenbaum stand, selbst da sprach sie mit keiner Silbe von Fritz, aber das nicht allein, auch äußerlich verriet sie in keiner Weise, wie sehr sie gerade heute ihren Sohn entbehrte. Wie tapfer und standhaft sie ihm zuliebe ihren Schmerz verbarg und wie sie sich in der Gewalt hatte. Nur um ihn nicht zu betrüben, zeigte sie fortwährend ein leises, glückliches Lächeln und in ihren schönen, braunen Augen war nichts von Kummer zu lesen, im Gegenteil, vielmehr etwas von frohem, wenn auch verhaltenem Übermut.

Wie schwer mußte es seiner Frau werden, sich so zu verstellen, und aus diesem Mitleid mit ihr heraus packte ihn von neuem der Zorn und die Wut auf seinen Sohn, der sich selbst und den Eltern durch seinen Leichtsinn das Fest verdarb. Nicht sehen wollte der Vater seinen Sohn. In strengen Worten hatte er ihm verboten, nach Hause zu kommen und gleichzeitig hatte er an den ihm befreundeten Kommandeur des Regiments, dem Fritz angehörte, geschrieben und diesen gebeten, seinem Sohn unter keinen Umständen Urlaub zu gewähren, wenn dieser trotz des väterlichen Verbotes darum bitten sollte.

Ihnen allein hatte der leichtsinnige Schlingel die Feier gestört, denn die richtige Stimmung herrschte doch nicht, denn wozu hatte man einen Sohn, wenn er nicht einmal am Weihnachtsabend bei den Eltern war? Und aus diesem Gedankengang heraus stieß der Herr Oberst plötzlich einen lauten Fluch aus, daß seine Frau ihn ganz vorwurfsvoll ansah: „Aber Otto, wie oft hast du mir denn nicht schon gesagt, du wolltest nicht mehr fluchen?”

„Ich will es ja auch nicht,” stimmte der Gatte ihr bei, „aber ich muß. Ich denke fortwährend an den Bengel. Mußte der mir ausgerechnet acht Tage vor Weihnachten seine Schulden beichten? Konnte er damit nicht wenigstens bis nach Neujahr warten? Und was braucht der Junge überhaupt so viel Schulden zu machen, wenn ich ihm eine derartig hohe Zulage gebe?”

Mit einem gütigen Lächeln sah seine Frau ihn an: „Gib einmal der Wahrheit die Ehre, Otto, hast du als junger Leutnant nicht auch Schulden gemacht und hast du von deinem verstorbenen Vater nicht auch stets eine sehr hohe Zulage erhalten? Fritz ist eben dein Sohn und er ist dir ähnlich geworden.”

„Aber so ähnlich brauchte er mir denn doch nicht zu werden,” schalt der Herr Oberst, „und so viel ich weiß, — — wenn ich auch mit meiner Zulage nicht reichte, mit einer Schuldenlast von 10 000 Mark hätte ich meinem Vater nicht kommen dürfen.”

Wieder sah seine Frau ihn lächelnd an, dann fragte sie: „Hast du mir nicht einmal erzählt, du hättest deinem Vater eines Tages 25 000 Mark Schulden beichten müssen?”

Der Oberst biß sich ärgerlich auf die Lippen, dann sagte er: „Euch Frauen darf man aber auch weiß Gott garnichts erzählen. Entweder vergeßt Ihr alles oder Ihr behaltet gerade das, was Ihr nicht sollt.” Und dann fuhr er nach einer kleinen Pause fort: „Ich habe in den letzten Tagen viel über Fritz nachgedacht und zweierlei gibt es nur noch für ihn. Entweder muß er sich ehrenwörtlich verpflichten, nie wieder Schulden zu machen, oder wenn er das Versprechen nicht abgeben kann, dann muß er trotz der Abneigung, die er bei seinen 27 Jahren noch gegen die Ehe hat, heiraten. Eher wird der Junge nicht verständig. Gewiß, ich selbst habe früher auch anders darüber gedacht, aber je früher Fritz sich verlobt, desto besser ist es für ihn, und auch für meinen Geldbeutel, denn ewig hält er dieses Schulden­bezahlen nicht aus.”

Mit ganz glückstrahlenden Augen hatte seine Frau ihm zugehört und sie mußte an sich halten, um ihrer Freude nicht allzu deutlich Ausdruck zu verleihen. Jetzt war der Augenblick da, den sie den ganzen Abend hindurch herbeigesehnt hatte, nun konnte sie ihrem Mann die wenigstens für sie frohe Botschaft mitteilen, die sie schon den ganzen Abend beschäftigte, bis sich eine günstige Gelegenheit dazu bot. Jetzt war der Augenblick gekommen und lebhaft die beiden Hände ihres Mannes ergreifend rief sie: „Otto, ist das wirklich dein Ernst, was du da eben sagtest? Dann kann ich es dir ja gestehen, obgleich ich dir eigentlich heute die Laune nicht verderben wollte. Aber du wirst mir angemerkt haben, daß ich heute garnicht traurig bin, obgleich Fritz nicht bei uns ist. Jetzt sollst du auch wissen, weshalb ich trotz alledem so froh bin. Ich habe heute die Nachricht erhalten, Fritz ist bereits verlobt. Er hatte nicht den Mut gehabt, es dir mitzuteilen, da er ja deine Ansicht über eine Verlobung in seinem Alter kennt.”

„Aber verloben tut er sich natürlich trotzdem,” schalt der Oberst, dann aber sagte er: „Also der Fritz ist schon verlobt? Na, das ist wenigstens eine kleine Weihnachtsfreude, vorausgesetzt, daß das Mädel zu ihm paßt und daß sie reich genug ist, um sich von unserem Herrn Sohn heiraten lassen zu können.”

„Das letztere ist leider nicht der Fall,” gab die Frau Oberst zur Antwort, „denn nach allem, was Fritz mir andeutet, ist seine Ella ganz arm, sie wird kaum mehr als eine notdürftige Aussteuer mitbekommen.”

„Und da denkt der Junge an ein Heiraten?” brauste der Oberst auf. „Schulden machen und zum Überfluß auch noch ein armes Mädchen heiraten, nein, daraus wird nichts!”

Zärtlich lehnte seine Frau sich an ihn und sah voller Liebe zu ihm auf, dann fragte sie mit weicher Stimme: „Sag mal, Otto, hast du als junger Leutnant, obgleich du sehr viel Schulden hattest, nicht auch ein ganz armes Mädchen geheiratet?”

Der Oberst legte seinen Arm auf die Schulter seiner Frau und drückte sie an sich: „Ich habe dich geheiratet, weil ich dich liebte und weil ich den Teufel danach fragte, ob du arm oder reich seiest.”

„Und wenn Fritz nun auch so denkt,” bat seine Frau. „Ist das nicht viel ehrenhafter, als wenn er, ohne zu lieben, lediglich des Geldes wegen eine Frau nimmt? Fritz ist doch dein Sohn und wenn er eben so ehrenhaft denkt wie du, so kannst du ihm doch daraus keinen Vorwurf machen.”

Der Herr Oberst knurrte allerlei Unverständliches vor sich hin, dann meinte er: „Gewiß, eine vornehme Gesinnung ist sehr schön und für uns Offiziere sogar unentbehrlich, aber davon allein kann man nicht leben, und wenn ich dich damals heiratete, Liesel, ich konnte mir den Luxus gestatten, ich hatte einen sehr reichen Vater.”

„Und hat Fritz den nicht auch?”

Wieder blitzte der Schalk in ihren Augen auf, aber er merkte nichts davon. Mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und ab, bis er dann wieder vor seiner Frau stehen blieb: „Du hast Recht, Liesel, auch Fritz hat einen reichen Vater, aber meiner war, als ich dich heiratete, schon gestorben, ich aber lebe noch, und das, was wir fortgeben müßten, um den Hausstand unseres Sohnes zu begründen, würden wir entbehren, denn mit dem offiziellen Kommißvermögen ist es nicht getan. Das Wenigste, was Fritz später braucht, ist das dreifache dessen, was als das Notwendigste verlangt wird, und das gebe ich nicht her, denn ich will nicht, daß du dich später irgendwie einschränken solltest.”

„Und wenn ich es nun gern täte?” bat seine Frau.

Der Oberst stand in Nachdenken versunken da, so merkte er es garnicht, daß seine Frau von ihm fortging, um gleich darauf mit einer Photographie in der Hand zurückzukommen: „Sieh dir das Bild einmal an, Otto, Fritz hat es mir geschickt, hast du schon jemals ein so hübsches, liebes, junges Mädchen gesehen, wie dieses hier?”

„Dich, als du noch jung warst,” gab er schnell zur Antwort, dann aber betrachtete er voller Aufmerksamkeit das Bild, bis er endlich meinte: „Donnerwetter, das muß man dem Bengel lassen, einen verdammt guten Geschmack hat er. Diese Figur, dieses bildhübsche Gesicht, alle Hochachtung!”

„Nicht wahr?” stimmte seine Frau ihm schnell bei, dann fuhr sie rasch fort: „Und du solltest sie nun erst einmal in Wirklichkeit sehen, Otto, die ist sogar sehr viel hübscher und sie hat in ihre Wesen etwas so Bezauberndes, eine so weiche, zarte Stimme, und nun müßtest du ihr erst einmal in die hellblauen Augen sehen, du würdest entzückt sein, wie ich es bin.”

Voller Verwunderung hatte der Oberst seiner Frau zugehört, jetzt aber fragte er: „Sag mal, Liesel, woher weißt du denn das alles? Hast du die Braut denn schon gesprochen und hast du sie schon gesehen.”

Als hätte sie sich verplappert, legte die Frau Oberst ihre Hand schnell auf den Mund und ihren Mann anscheinend ganz erschrocken ansehend, bat sie: „Um Gotteswillen, Otto, sei mir nur nicht böse. Ich wollte es dir ja noch gar nicht sagen, sondern erst später, wenn du mit der Verlobung einverstanden bist. Ja, ich kenne Ella; die Braut unseres Fritz ist hier, sie ist heute Nachmittag angekommen, sie hat es vor Ungeduld zu Hause nicht mehr länger ausgehalten, sie hatte keine Ruhe, sie wollte dich sehen und sprechen und aus deinem eigenen Munde hören, daß sie nur deshalb unseren Fritz nicht heiraten darf, weil sie arm ist. Ich habe sie zu trösten versucht, ich habe sie aus dem Hotel mit hierher gebracht, sie sitzt drüben in meinem Zimmer und wartet voll Ungeduld darauf, daß ich sie zu dir bringen darf, und nicht wahr, ich darf sie dir bringen?”

Und ihren Mann völlig verdutzt dastehen lassend, eilte sie davon, um gleich darauf mit Ella zurückzukehren.

Der Herr Oberst, der früher ein großer Damenfreund gewesen war, hatte gewiß schon manchem hübschen, jungen Mädchen gegenübergestanden, aber als er nun die Braut seines Sohnes sah, da wußte er denn doch nicht, was er sagen sollte.

Herrgott von Bentheim, war das Mädel hübsch, die Augen und der kleine, bildschön geformte Mund und um diesen Mund ein glückseliges Lächeln. Keine Spur von Verlegenheit, nicht die leiseste Furcht, daß sie vor dem Vater ihres Fritz keine Gnade finden würde, stolz und aufrecht stand sie ihm gegenüber und das gefiel ihm.

Keiner im Zimmer sprach, schweigend sahen sie einander an, und je länger der Blick des Herrn Oberst auf dem jungen Mädchen ruhte, desto weicher wurde es ihm ums Herz, desto mehr Mitleid empfand er mit ihr, daß sie so schön und doch dabei so arm war. Wer anders konnte sie je heiraten als ein reicher Mann, und Fritz war reich, wenn er, der Vater, das Geld hergab. Schon um der Schönheit dieses jungen Mädchens wegen durfte er nicht hart und unerbittlich bleiben und so streckte er ihr denn plötzlich beide Hände entgegen.

Aber gerade, als er sie an sich ziehen wollte, stürmte Fritz in das Zimmer, ein hübscher, schlanker, flotter Offizier, dem die Uniform ausgezeichnet stand: „Vater, ich habe es ja gewußt, daß du Ellas Schönheit gegenüber nachgeben würdest, wie soll ich dir das danken?”

Der Oberst hatte Ella losgelassen und stand voll flammenden Zornes seinem Sohn gegenüber: „Du bist hier? Gegen meinen Willen, ohne die Erlaubnis deines Kommandeurs? Du hast es gewagt, trotzdem die Garnison zu verlassen?”

Beschwichtigend legte die Frau Oberst die Hand auf den Arm ihres Mannes: „Aber Otto, Fritz ist doch Offizier wie du, da würde er sich ein solches Vergehen, wie du es andeutest, doch niemals zuschulden kommen lassen.”

„Aber wie kommt er denn hierher?” fragte der Oberst, dessen erster Zorn bei den Worten seiner Frau schnell verraucht war.

„Ich konnte Ella doch nicht allein reisen lassen,” verteidigte sich Fritz,„da schrieb ich an die Mutter — — —”

„Und da schrieb ich an den Fritz,” fuhr die Mutter fort, „und teilte ihm mit, er solle nur kommen, ich würde es dir gegenüber schon verantworten. Und dann schrieb ich an den Oberst unseres Sohnes, du hättest ihn zwar gebeten, Fritz unter keinen Umständen Urlaub zu geben, aber ich bäte ihn, unter allen Umständen Urlaub zu gewähren, und ich täuschte mich in der Voraussetzung nicht, daß er für den Weihnachtsabend eher die Bitte eines Vaters abschlägt, als daß er den Wunsch einer Mutter nicht erfüllte. So ist Fritz doch zu uns gekommen und hat uns als schönstes Weihnachtsgeschenk eine Tochter in das Haus gebracht. Bist du nun mit uns allen zufrieden?”

Ja, das war er, aber das nicht allein, das Glück seiner Kinder stimmte ihn nach und nach so glücklich, daß er es bitter bereute, sich eine reiche Schwiegertochter gewünscht zu haben. Das wollte er wieder gut machen, soweit es nur irgend ging, und so erhöhte er denn im stillen fortwährend die Zulage, die er später dem jungen Paar geben wollte, bis dann plötzlich Ella, nachdem sie mit Fritz einen raschen Blick gewechselt hatte, ganz unerwartet sagte: „Lieber Vater, jetzt kann ich es dir ja auch gestehen, was ich zuerst auch Fritz verschiweg, denn jetzt weiß ich ja, daß du mich um meiner selbst willen liebst, aber ich bin gar nicht das arme Mädel, für das ich mich ausgab, ich bin reich, viel reicher als — — —”

Aber mitten im Satz hielt sie inne. Mit so großen, traurigen Augen sah der Oberst sie an, daß sie nicht weiter sprach, und der Ausdruck seines Gesichtes verriet eine solche Enttäuschung, einen solchen Kummer, daß sie plötzlich von ihrem Platz aufsprang und sich zärtlich an ihn schmiegte. Dann streichelte sie ihm voller Liebe die Wangen und mit weicher Stimme bat sie: „Bist du mir böse, Vater? Hätte ich es lieber nicht sagen sollen? Aber ich glaubte, du würdest dich vielleicht ein klein wenig darüber freuen. Bist du mir böse?”

Eine ganze Weile saß der Oberst schweigend da, dann sagte er endlich: „Wie sollte ich dir wohl böse sein? Ich bin nur traurig, daß ich euch beiden nicht mehr durch die Tat beweisen kann, wie lieb ich Euch habe. Mir ist, als wäre mir die ganze Weihnachtsfreude verdorben.”

Und das klang so traurig, daß Ella aufrichtiges Mitleid mit ihm empfand. Wie gut er war und wie lieb er sie haben mußte! Sie und ihren Fritz! Ihre Augen flogen zu ihm hinüber, abermals tauschten sie einen schnellen Blick des Einverständnisses, dann sagte sie voller Zärtlichkeit: „Und wenn es nun nicht wahr ist, Vater, was ich dir eben erzählte? Wenn ich das nur sagte, um zu sehen, ob dir eine reiche Schwiegertochter nicht vielleicht doch viel willkommener wäre als eine arme, bist du dann wieder glücklich, hast du dann wieder Weihnachten in deinem Herzen?”

Da zog er das schöne Mädchen voller Zärtlichkeit an sich und rief mit glückseliger Stimme: „Mein Kind, mein geliebtes Kind!”

Denn er wußte nicht, daß sie ihn erst in diesem Augenblick wirklich belogen hatte, um ihm seine Weihnachtsfreude nicht zu verderben.


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