Was ist das?

Militär-Humoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Was ist los?” und
in: „Der stumme Kerl”


Auf dem Kasernenhof herrscht reges Leben und Treiben. Vor drei Wochen sind die Rekruten eingestellt worden und mächtig wird an ihrer Ausbildung gearbeitet; aus einem dummen Menschen, der selbst, wenn er Heu und Stroh in den Taschen hat, nicht weiß, was rechts und links ist, einen Soldaten zu machen, ist nicht so leicht, wie die Sache aussieht. Damit, daß die Leute in den bunten Rock gesteckt werden, der ihnen nie paßt, der entweder zu groß oder zu klein ist, ist es allein nicht gethan, sie müssen viel, viel lernen, ach und sie begreifen so schwer — mancher erlernt es nie, was von ihm verlangt wird und viele leider Gottes noch später.

Zwei Wochen sind die Rekruten damit beschäftigt gewesen, ihre Glieder gelenkig zu machen, sie haben mit den Füßen, den Beinen, den Armen, dem Kopf und zuweilen auch, wenn sie sicher waren, daß es keiner sah, mit den Augen gerollt — es hätte nicht viel gefehlt und sie wären, ohne vom Harz etwas anderes als den Harzer Käse in ihrem Leben gesehen zun haben, als echte Harzer Roller in den Käfig gesperrt worden.

Seit acht Tage ist nun, nachdem die Leute ungefähr eine Ahnung davon bekommen haben, wozu, warum und weshalb sie die verschiedenen Gliedmaßen besitzen, zu den mit Recht so unbeliebten Gewehrgriffen übergegangen.

Eifrig sind die Mannschaften damit beschäftigt, in die Geheimnisse des ewig schönen „Gewehr über — Gewehr ab” einzudringen.

Von allen Beschäftigungen, die es auf der Welt giebt, ist das Griffekloppen die zweit langweiligste, die schlimmste ist das Postenstehen.

Die jungen Rekruten aber sind zu dieser Einsicht noch nicht gekommen. Seit der Stunde, da sie zum ersten Mal Dienst thaten, hat der Unteroffizier auf sie eingeredet: „Jungs, gebt Euch Mühe — eigentlich muß ich ja Sie zu Euch sagen, also, meine Herren, geben Sie sich Mühe, daß Sie bald das Gewehr in die Hand bekommen, dann fängt das schöne Leben erst an, dann macht es erst wirklich Freude, Soldat zu sein.”

Sie haben sich Mühe gegeben, und wie die kleinen Kinder fragen: „Mutter, ist morgen immer noch nicht Weihnachten?” haben sie jeden Abend ihren Korporal gefragt: „Herr Unteroffizier, bekommen wir morgen noch nicht das Gewehr?”

„Noch nicht,” hatte dann die Antwort gelautet, „noch seid Ihr dessen nicht würdig.”

Ach, und mit solcher Ungeduld sehnten sie den Tag herbei, an dem es ihnen endlich Freude machen sollte, Soldat zu sein — bisher hatten sie nur die Schattenseiten des militärischen Lebens kennen gelernt. —

Endlich war der große Tag gekommen, aber die Hoffnungen, die sie in denselben gesetzt, hatten sich nicht erfüllt, sie fanden sogar, daß der Dienst jetzt noch unangenehmer sei als früher und sie verwünschten den Erfinder des Pulvers nach allen Richtungen der Windrose, denn ohne Pulver gäbe es ja auch keine Flinten.

Alle Flüche, Klagen und Seufzer vermochten aber an der traurigen Thatsache des „Griffe­kloppen­müssens” nichts zu ändern.

Nachdem die Leute am Vormittag sich schon vier Stunden eingehend mit dem Griff „Gewehr über — Gewehr ab” beschäftigt haben, setzen sie jetzt am Nachmittag die geistreiche Beschäftigung mit erneuten Kräften fort.

Der Mann, der den Nachmittagsdienst erfand, müßte noch einmal totgeschlagen werden, mit einem Tod hat er seine Schuld nicht gesühnt.

Ist der Dienst am Vormittag schon fürchterlich, so ist er nachmittags einfach entsetzlich, ach noch viel mehr, er ist einfach, um sich die Haare auszureißen und alle fünf Minuten einen Selbstmord zu begehen. Der Herr Lieutenant hat im Kasino gefrühstückt und dann einen dormus, ein kleines Schläfchen, gemacht, und der Unteroffizier ist, soweit der Dienst es ihm gestattet, dem edlen Beispiel seines Vorgesetzten gefolgt, wie er ja überhaupt stets bemüht sein soll, es diesem in allen Dingen gleich zu thun. Der Mensch ist bekanntlich nie müder, als wenn er aufwacht — so steht der Herr Lieutenant mit seinen Unteroffizieren am Nachmittag gähnend auf dem Kasernenhof und alle Augenblicke sehen sie nach der Uhr, ob es immer noch nicht vier ist, ach, sie haben absolut gar keine Lust, absolut nicht!

Die Leute aber haben noch weniger Lust — denen liegen die dicken Erbsen mit Speck noch unverdaut im Magen, auch sie sind schön faul und träge, am liebsten lägen sie auf ihren Betten und träumten von der Anna und der Minna, der holden Fee, die sie mit Butter versorgt.

Aber nach dem, was man am liebsten thäte, geht es in der Welt selten, beim Militär nie, da muß man sich mit dem schönen Wort zu trösten wissen:

„Indessen denn is ärgerlich,
Indessen denn, denn helpt dat nich.”

Und eingedenk dieses schönen Spruches stehen die Rekruten auf dem Kasernenhof und üben Griffe, immer dasselbe: „Gewehr über — Gewehr ab — Gewehr über — Gewehr ab.”

Schön sind die Griffe nicht, die die Leute machen, das kann kein Mensch finden, der Her Korporal am wenigsten.

„Jungens,” schilt der Unteroffizier, „das ist nichts, das ist gar nichts, was Ihr da macht, darin ist kein Schneid, kein Murr! Ein Blinder sieht es Euch auch ohne Brille an, daß Ihr nur mit den Händen greift, das ist falsch, ganz falsch, mit der Seele müßt Ihr greifen, mit der Seele und dem Gemüte, dann erst entsteht die wahre Poesie.”

Aber es ist unendlich schwer, Seele und Gemüt, besonders wenn man beides nicht besitzt, in einen Gewehrgriff hineinzulegen, mit und ohne Poesie ist die Sache unendlich prosaisch.

Die Worte des Unteroffiziers haben denn auch so gut wie gar keinen Erfolg, die Griffe bleiben genau so schlecht, wie sie waren, und wie eine geknickte Lilie geht der Korporal vor der Front seines Gliedes auf und ab.

„Ich will lieber gar nicht hinsehen, was die Kerls sich da für eine Hosennaht zusammen­greifen, denn wenn ich das sehe, ärgere ich mich halbtot und ich habe mich heute für meine paar Groschen weiß Gott schon genug geärgert.”

Er will nicht hinsehen, ganz bestimmt, er will nicht, aber er thut es doch, die Versuchung ist zu groß und das in ihm vorhandene Pflichtgefühl trägt den Sieg davon.

Er sieht hin und plötzlich bleibt er vor Schrecken gebannt stehen: seine Augen werden groß und starr, die Spitzen seines Schnurrbartes fangen an zu zittern, die Haare sträuben sich auf seinem Kopf und er fühlt, wie die Mütze sich höher und höher hebt. Die Finger der Hand krümmen sich und wie er jetzt dasteht, sieht es aus, als wenn er sich auf jemand stürzen will.

Die Rekruten sehen es mit Schrecken und Grausen, wer ist der Unglückliche, der den Zorn des Gewaltigen erregt hat? Sie zittern und beben und denken: „Gleich naht sich das Malheur —”

Aber ihre Befürchtungen sind unnötig, der Unteroffizier ist seiner Erregung Herr geworden: das Rollen der Augen hört auf, die Schnurrbart­spitzen zittern nicht mehr, die Finger der rechten Hand strecken sich und langsam, aber sicher nimmt die Mütze wieder ihren vorschriftsmäßigen Sitz ein: durch eine schnelle Handbewegung überzeugt der Korporal sich davon, daß die Kokarde auch genau über der Nase sitzt.

Dann erst ruft er: „Der Meier bleibt stehen, das übrige hier rum, marsch — marsch —”

Der Befehl wird ausgeführt, Meier alleine bleibt stehen, ihm ahnt nichts Gutes, sollte er das Karnickel sein?

Da ertönt die Stimme des Unteroffiziers: „Seht Euch einmal den Meier an, aber recht genau.”

Sie thun es, viel Schönes ist an ihrem Kameraden nicht zu entdecken. Als er geboren wurde, waren die Grazien gerade auf längere Zeit beurlaubt und sie dachten auch nicht daran, sich an seiner Wiege vertreten zu lassen, so blieb ihm die Schönheit und die Anmut versagt. Es war eine traurige Gestalt und die Uniform diente gerade nicht dazu, sie vorteilhafter aussehen zu lassen. Der Anzug paßte nicht ganz, die Stiefeln waren wenigstens fünf Centimeter zu lang, die Beinkleider, vielfach geflickt und in allen möglichen Farben schimmernd, reichten etwas über die halbe Wade, die Rockärmel waren viel zu kurz und der Kragen so eng, daß die Haken nicht zugemacht werden konnten. Der Helm, der ihm viel zu groß war, tanzte auf seinem Haupte hin und her, wie ein Ruderboot auf dem stürmischen Ocean.

Immer noch ruhten die Augen der ganzen Korporalschaft auf dem Unglücklichen, dessen Wangen sich dunkel färbten.

„So,” sprach der Unteroffizier, „Herr Meier, nun machen Sie noch einmal, was Sie eben gemacht haben.”

Und artig wie es sich für kleine Kinder und Soldaten eignet und gebührt, nimmt Meier wieder „Gewehr über und Gewehr ab”, etwas anderes hat er ja schon seit heute morgen um acht Uhr nicht gethan.

Er macht den Griff, er macht ihn zum zweiten und zum dritten Mal und er schickt sich eben an, die Flinte zum vierten Mal auf die linke Schulter zu schieben, da fragt der Unteroffizier: „Meier, was ist das?”

Meier schweigt, er weiß nicht, worauf sich die Frage seines Vorgesetzten bezieht, er weiß nicht, was mit dem „was” gemeint ist.

Der Unteroffizier wendet sich an die übrigen Leute der Korporalschaft. „Wißt Ihr, was das ist?”

Auch sie schweigen aus demselben Grund wie Herr Meier.

„Gut so,” lobt der Korporal, „was ich nicht weiß, dürft auch Ihr nicht wissen, und ich weiß nicht, was das ist, was der Meier da macht. Meier, Herr Meier, wollen Sie nun endlich die große Güte und Liebsnwürdigkeit haben, mir zu antworten?”

Und mit stockender, zitternder Stime sagt Herr Meier: „Das ist ,Gewehr über und Gewehr ab', Herr Unteroffizier.”

Der Korporal macht das erstaunteste Gesicht von der Welt: „Wirklich? Das habe ich noch gar nicht gewußt, wissen Sie, ich diene nun schon bald neun Jahr und so einigermaßen kenne ich den Griff auch. Ich habe immer geglaubt, er sähe ganz anders aus, habt Ihr das nicht auch geglaubt?”

„Zu Befehl, Herr Unteroffizier,” brüllt der Chor der Rache.

„Gut so,” lobt der Korporal, „na, Meier, da hörst Du es ja, mein Söhnchen, das war gar nicht der Griff ,Gewehr über — Gewehr ab', das war ein ganz anderer Griff, welcher es war, kann ich Dir allerdings auch nicht sagen, denn den Griff gab es bisher gar nicht auf der Welt, den hast Du Dir erst erfunden. Einzubilden darauf brauchst Du Dir aber nichts, mein Junge, Griffe haben wir genug in der Armee und einer ist immer schöner als der andere, Deine Erfindungen haben wir nicht nötig — weiter üben.”

Eine halbe Minute später kloppt die ganze Korporalschaft wieder Griffe. Wie Hans Huckebein, der Unglücksrabe, steht Herr Meier in der Front und schielt bald nach rechts, bald nach links, er will sehen, wie die Kameraden es machen, um zu lernen.

Ihm ist ganz traurig zu Mut, täglich hat er nun stundenlang „Gewehr über, Gewehr ab” genommen — seine linke Schulter ist von dem Einsetzen des Gewehres grün, gelb und blau. „Eure Schulter muß aussehen wie ein Regenbogen so bunt,” hat der Unteroffizier gesagt, „sonst habt Ihr Euch nicht angestrengt.”

Er hat sich Mühe gegeben, seine Schulter ist bunter als bunt und nun hört er plötzlich, daß der Griff, den er geübt hat, gar nicht „Gewehr über, Gewehr ab” war.

Er ist ein viel zu guter Soldat, um nicht alles zu glauben, was die Vorgesetzten sagen, so denkt und grübelt er denn so lange mit seinem geringen Unterthansverstand über die Worte des Korporals nach, bis er eines Tages wegen temporärer Geistesstörung ins Lazarett aufgenommen werden muß. Die Ärzte können nicht klug aus ihm werden, er ist sonst ganz verständig, aber er behauptet ständig, der Griff „Gewehr über” sei gar nicht „Gewehr über” und mit ihm fragen sich die Doktoren: „Was ist das?”

Selbst die einfachsten Fragen zu beantworten, ist manchmal mit einer gewissen Schwieigkeit verbunden.

An einem der letzten Tage im Manöver war es. Se. Excellenz, der kommandierende Herr General, wohnte den Übungen bei, und die Subordination, bekanntlich das unangenehme Gefühl, das den Untergebenen in der Nähe der Vorgesetzten beschleicht, war daran schuld, daß vom Divisions­kommandeur bis herab zum jüngsten Hauptmann sich alles in einer gewissen Aufregung befand. Wenn man Pech hat, kann man sich im Manöver unsterblich blamieren und das ist für diejenigen nicht gut, die da hoffen „die Trupfen” dereinst gegen den Feind führen zu können. Die einzigen, die sich nicht aus ihrer Ruhe herausbringen ließen, waren die Herren Lieutenants, denen sind die höchsten Vorgesetzten die liebsten: die geben sich mit derartig subalternen Wesen, wie ein Sekond- oder ein Premierlieutenant es ist, gar nicht ab.

An der Spitze der endlos langen Marschkolonne versammelte der Führer sämtliche Offiziere, um seine Befehle auszugeben. Er wollte, daß jeder, auch die Unterführer, auf das genaueste über die Stellung des Feindes, über die eingelaufenen Meldungen und über seine — des Führers — Ansichten orientiert sei, damit ein jeder im Rahmen des Ganzen handeln und wirken könne, damit jeder Irrtum ausgeschlossen sei. Aus diesem Grunde hatten auch die Herren Lieutenants zu der Befehlsausgabe, zu der sonst nur die Berittenen gerufen werden, erscheinen müssen und freudige Gefühle hatten sie bei der Nachricht nicht durchdrungen. Der Weg war weit, der bis zur Tete der Marschkolonne führte und er wurde dadurch nicht kürzer, daß man sich sagte: „Du mußt den Weg auch wieder zurückgehen und sobald die Kolonne antritt, mußt Du ihn zum dritten Mal machen.”

Soldaten haben nun mal eine Aversion gegen das Gehen — lieber tausend Schritt zu wenig, als einer zu viel, ist ihr Wahlspruch.

Trotzdem aber mußten die Lieutenants an die Tete wandern und bei der Befehlsausgabe zugegen sein: daß sie nicht aufpaßten, ist zu selbstverständlich, als daß ich es ausdrücklich hervorzuheben brauche.

Zwei Stunden später war die Schlacht in vollem Gange und unter den Augen Sr. Excellenz, des kommandierenden Herrn Generals, verrichtete man Wunder der Tapferkeit — im Manöver tapfer zu sein, ist ein billiges Vergnügen.

Da kam auf schaumbedecktem Pferd ein Adjutant herangesprengt, von weitem schon hörte man seine Stimme, was rief er? „Das Vaterland ist in Gefahr?” Es klang so ähnlich und nach der Eile, mit der er heransauste, mußte man auf diesen Ruf gefaßt sein. Er rief aber nur: „Die rechte Flanke ist in Gefahr.”

Alle atmeten bei dieser Nachricht erleichtert auf, die meisten freuten sich sogar, „denn,” so sagten sie sich, „wenn wir in der Front und in der Flanke gleichzeitig angegriffen werden, sind wir bald tot und dann ist das Gefecht für heute zu Ende.”

Und das Schönste an jedem Manövertag ist das Frühstück, das man nach beendeter Schlacht in seinem Quartier einnimmt — darauf freut sich jeder Mann.

Der Führer aber hatte noch keinen Hunger, wenigstens wollte er das dadurch, daß er sich ohne weiteres schlagen ließ, Sr. Excellenz nicht verraten und so traf er denn Vorkehrungen, die gefährdete rechte Flanke, fast hätte ich gesagt, das gefährdete Vaterland, zu schützen.

Der ehrenvolle Auftrag, die rechte Flanke zu schützen, wurde dem Hauptmann Aberg zu teil, der bisher mit seiner Kompagnie in Reserve gelegen hatte. Man hatte bisher ängstlich vermieden, ihn vor den Augen Sr. Excellenz in den Gang des Gefechtes eingreifen zu lassen, denn Hauptmann Aberg war gerade keine Stütze der Wissenschaft und seine Feinde behaupteten, er brauche im nächsten Krieg vor keiner Kugel Angst zu haben, durch das Brett, das er vor dem Kopf trage, ginge selbst das moderne Geschoß nicht hindurch.

Und Hauptmann Aberg glaubte das und war daher fröhlich und guter Dinge.

Mit seiner Kompagnie zog er von dannen, um den ihm gewordenen Auftrag auszuführen.

„Sie sind doch über die Sachlage genau orientiert, Herr Hauptmann?” rief ihm der Major nach, und er antwortete mit einem lauten: „Zu Befehl, Herr Major.”

„Das Verhalten des Feindes muß Ihnen Ihre Maßregeln diktieren,” rief der Herr Major dann noch, und wieder ertönte ein lautes: „Zu Befehl.”

Der Häuptling that so stolz und siegesgewiß, als wenn die Ausführung des Befehls für ihn eine kleine Kleinigkeit wäre. Sein „Zu Befehl” klang so sicher, daß seine Leute zuerst sich und dann ihn verwundert ansahen, sie kannten ihn und wußten ganz genau, daß er sie, wenn es einmal so weit käme, wohl zum Tode, aber nie zum Siege führen würde.

„Der Alte thut ja gewaltig groß,” meinte der Herr Sekond zu dem Premier, der aber kannte seine Pappenheimer ganz genau und sagte nur: „Abwarten.”

Und richtig, es waren noch keine fünf Minuten vergangen, da erschien der Häuptling plötzlich neben seinem ältesten Lieutenant: „Nicht wahr,” begann er, „ich brauche Sie nicht erst zu fragen, Sie sind doch über die Gefechtslage vollständig orientiert?”

Durch einen Zufall wußte der Herr Premier Bescheid, er hatte vorhin die Unterredung zwischen dem Kommandeur und dem Adjutanten angehört und sich auf der Karte orientiert, so hätte er mit gutem Gewissen „Zu Befehl” sagen können.

Aber das that er nicht.

„Deine Frage, mein sehr verehrter Herr Hauptmann,” sprach er zu sich in seinem tiefinnersten Innern, „beweist mir, daß Du wie gewöhnlich keine Ahnung hast. Du willst Dich nachher nur wieder auf meinen Rat verlassen, um mir, wenn die Sache schief geht, Vorwürfe machen zu können, nein, daraus wird nichts;” und so sagte er denn laut: „Ich bedaure unendlich, Herr Hauptmann. Ich stand heute morgen zu weit entfernt bei der Besprechung, um alles verstehen zu können, wenn der Herr Hauptmann so liebenswürdig sein wollten, mich aufzuklären —”

Da kam er aber schön an: „Herr,” donnerte von seinem Streitroß herab der Kapitän, „jetzt soll ich Sie aufklären, jetzt, wo wir jeden Augenblick angegriffen werden können, jetzt, wo von unserem Verhalten das Wohl und Wehe unseres ganzen Detachements abhängt? Herr Lieutenant, was denken Sie sich eigentlich dabei? Ihre Pflicht und Schuldigkeit wäre es gewesen, sich beizeiten zu orientieren, ich hätte nicht geglaubt, daß ich es nötig hätte, dies einem alten Premier sagen zu müssen. Ich reite jetzt voraus, um mich im Gelände umzusehen — sollten Sie inzwischen auf den Feind stoßen, so handeln Sie, wie es Ihnen richtig erscheint, wird es falsch, so müssen Sie die Folgen tragen.”

Und seinem Gaul die Sporen gebend. daß dieser quiekte und grunzte, jagte er im Galopp davon.

Verwundert sah ihm der Herr Premier nach: „Donnerwetter, für so schlau hätte ich ihn gar nicht gehalten: Davonzureiten und mir die Kompagnie vertrauensvoll in die Hand zu drücken, war entschieden der klügste Gedanke, den er in seinem bisherigen Leben gehabt hat. Glücklich der Mann, der die Verantwortung auf die Schultern eines anderen wälzen kann.”

Immer weiter marschierte die Kompagnie durch das Haidekraut, bständig in der Richtung, in der der Hauptmann vorausgeritten war: „einmal müssen wir den Alten doch wieder finden,” dachten die Leute und ihre Hoffnung täuschte sie nicht.

Vor einer roten Flagge, die dazu benutzt wird, eigene Truppen oder „den Feind” zu markieren, wenn die Anzahl der Mannschaften aus irgend einem Grunde nicht ausreicht, hielt der Hauptmann.

„Lassen Sie die Kompagnie halten.”

Der Befehl wurde ausgeführt.

„Lassen Sie die Leute Gewehr abnehmen und rühren.”

Auch dieser Aufforderung kam man nach, dann herrschte tiefe, erwartungsvolle Stille.

Lange, feierliche Pause.

„Ich bin begierig, wie diese Sache sich historisch entwickeln wird,” dachte der Herr Premier.

Da ertönte die Stimme des Herrn Hauptmanns: „Die Herren Offiziere.”

„Das heißt auf deutsch: „Hilf, Samuel, hilf,” dachte der Herr Premier, „er ist jetzt mit seinem Latein zu Ende.”

„Meine Herren,” begann der Häuptling, „bevor wir zur Ausführung des uns —”

„Des Dir,” verbesserte der Premier seinen Vorgesetzten im stillen —

„— gewordenen Auftrages schreiten, erscheint es mir nötig, daß wir uns zunächst eingehend orientieren.”

Wer weiß, wo er ist, braucht sich nicht zu orientieren, das ist ganz klar, so bewiesen seine Worte, daß er sich verlaufen hatte.

„Meine Herren, zunächst müssen wir uns darüber klar werden: was ist das?” und er zeigte auf die unmittelbar vor ihm stehende Flagge.

Der Herr Premier und der Herr Sekond dachten einen Augenblick nach, oder sie thaten wenigstens so und antworteten dann beide gleichzeitig wie auf Kommando: „Eine rote Flagge, Herr Hauptmann.”

Der Häuptling fühlte, daß seine Unterthanen ihn uzen, sich über ihn lustig machen wollten — einen Augenblick dachte er daran, ihnen grob zu werden, aber das ging nicht, er mußte sie bei guter Laune erhalten, damit sie ihn nicht ganz in Stich ließen.

So sagte er denn: „Ich stimme Ihnen ganz bei, meine Herren, aber diese Flagge muß irgend etwas bedeuten.”

„Das ist auch meine Ansicht,” bemerkte der Herr Premier, der ganz genau wußte, was die rote Flagge vorstellte: sie stellte den äußersten rechten Flügel der eigenen Stellung dar. Der Herr Premier schloß dies sehr richtig aus zwei sehr einfachen Sachen: erstens sah er ungefähr fünfzig Meter neben der Fahne einen Soldaten der eigenen Abteilung im Grase liegen und schlafen und zweitens war, soweit das Auge reichte, keine andere Flagge mehr zu entdecken.

„Meine Herren, zunächst müssen wir uns darüber klar werden, ob diese Flagge von uns oder vom Gegner ausgestellt ist, ob sie eigene oder feindliche Truppen bezeichnet?”

Der Herr Premier legte sein Gesicht in tiefernste Falten: „Allerdings, das zu erfahren dürfte von größter Wichtigkeit sein.”

„Meine Herren, wollen wir einmal die Karten herausnehmen und uns orientieren, vielleicht verschaffen wir uns dadurch Klarheit.”

Der Herr Premier sah seinen Hauptmann an: auf dessen Stirn perlte der Schweiß, den nicht nur die Hitze hervorgerufen hatte und etwas wie Mitleid und Mitgefühl regte sich in der Brust des Untergebenen, aber nur zu oft werden die guten Triebe im Keime erstickt, so auch hier.

„Wärest Du mir vorhin nicht grob geworden, ohne daß dazu eine Veranlassung vorlag, würde ich ein Wort mit mir reden lassen, aber so bedaure ich unendlich.”

Die Nase tief in die Karte gesteckt, fand man nach wenigen Minuten, wo man sich augenblicklich in Europa befand, aber damit war gar nicht genützt, denn die rote Fahne war auf dem Plan nicht verzeichnet und noch weniger stand vermerkt, ob Freund oder Feind dieselbe „aufgebaut” hatte.

Und die kostbaren Minuten schwanden dahin, die rechte Flanke war in Gefahr, jeden Augenblick konnte der Gegner angreifen und er stand hier unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, ob nach rechts oder links, nach vorne oder hinten. An dem ganzen Unglück war nur die rote Flagge schuld, wenn er nur wüßte, wem sie gehörte, wenn er nur einen Menschen gehabt hätte, der ihm Antwort gab auf die Frage: „Was ist das?” dann wäre alles gut gewesen! Wie sollte das enden?

„Zum Sturm Gewehr rechts, marsch, marsch —” und mit lautem Hurra stürzte der Feind, dem der Häuptling bisher mit konstanter Boshaftigkeit den Rücken zugekehrt hatte, auf die Flankendeckung.

„Herr Hauptmann, ich bitte um Aufklärung, was ist das hier?”

Um Himmels willen, der Kommandierende war da! Wo in aller Welt kam der her und gerade jetzt?

„Excellenz, Exccelenz,” stotterte der Hauptmann, „ich, ich, ich —”

„Nun?”

Die Excellenz war unheimlich ruhig.

„Excellenz, der Feind hat mich überrascht, ich war mit meinen Dispositionen noch nicht fertig, ich orientierte mich noch, ob diese rote Flagge eine freundliche oder feindliche sei.”

„Allerdings, jawohl, hm, hm,” machte Excellenz, „das zu wissen ist von Bedeutung; auf das einfachste Mittel, diese für Sie wichtige Frage zu lösen, scheinen Sie nicht gekommen zu sein. Wissen Sie denn nicht, Herr Hauptmann, daß in jeden Fahnenstiel der Truppenteil und die Nummer der Kompagnie, der die Fahne gehört, eingebrannt ist? Sind Ihnen die Regimenter bekannt, die zu Ihrer Division gehören, Herr Hauptmann?”

Das konnte der mit gutem Gewissen bejahen. „Dann war es doch also für Sie sehr einfach, Herr Hauptmann! Gehörte das Regiment zu Ihrer Division, so war es Freund, im entgegengesetzten Falle war es Feind. Vielleicht merken Sie sich diese einfache Lösung der schwierigen Frage für den Fall, daß Sie einmal wieder in eine ähnliche Lage kommen sollten.”

Aber der Häuptling kam nicht wieder in eine „ähnliche Situation”, er wurde bald nach dem Manöver Bezirksoffizier und als solcher hatte er noch oft, wenn geheimnisvolle Briefe ankamen, Gelegenheit, bevor er den Inhalt gelesen, zu fragen: „Was ist das?”


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© Karlheinz Everts