Das Mädchen von vierzehn Jahren.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Die süssen kleinen Mädchen — wie sie lieben.”


Liesbeth, die auch Anna, Bertha, Dora oder sonst irgendwie heißen könnte, ist heute vierzehn Jahre alt geworden. Im Kreise der Freundinnen ist dieses große Ereignis mit unendlich viel Schokolade und mit der Vertilgung enormer Kuchenmengen gefeiert worden und von dem Augenblick an, da die letzte Freundin gegangen ist und Lina, das Stubenmädchen, innerlich fluchend und scheltend, daß sie nun soviel Teller und Tassen aufwaschen muß, das Geschirr in die Küche trug — von dem Augenblick an fühlt Liesbeth sich nun wirklich ganz erwachsen.

MIt dem vierzehnten Jahre beginnt die Entwicklung des jungen Mädchens, alles was vorher war, gehört der Kindheit und der Vergangenheit an.

Mit vierzehn Jahren ist das junge Mädchen erwachsen und nachdem die Freundinnen gegangen sind, feiert Liesbeth den Geburtstag noch einmal ganz alleine dadurch, daß sie in ihr Zimmer geht, die Tür hinter sich abschließt, damit sie auch ungestört bleibt und sich dann vor den großen Spiegel stellt.

Von dem Tage an, an dem es auf der Welt keine Spiegel mehr gäbe, würde das weibliche Geschlecht aussterben wie von einer schweren Seuche dahingerafft.

Die Eitelkeit ist das größte Gnadengeschenk, das der Himmel dem weiblichen Geschlecht bescherte und der Spiegel ist und bleibt für die Frauen die größte und wichtigste aller Erfindungen. Wie sollten die Frauen des Orients das abgeschlossene Leben in dem Harem ertragen, wenn sie den Spiegel nicht hätten, den Spiegel, der ihnen täglich und stündlich aufs neue sagt: „Du bist schön.”

Und der es ihnen auch dann sagt, wenn es nicht wahr ist. Eine Frau belügt sich vor dem Spiegel jeden Tag selbst, denn eine Frau kann nicht einen Tag leben, ohne sich nicht selbst zu belügen.

Wer daraus den Frauen einen Vorwurf macht, der weiß nicht, daß auch die Selbsttäuschung für die Frau ein Geschenk des Himmels ist. Wollten alle häßlichen Frauen sich wirklich für häßlich und alle verkrüppelten Frauen sich wirklich für verwachsen halten, so stiege die Zahl der Selbstmorde ins Ungeheuerliche.

Der Spiegel ist kein Schmeichler, sondern ein Tröster, der nicht das sagt, was er selbst empfindet, sondern lediglich das, was dem anderen zu hören wohltut.

Und so sagt er denn jetzt dem jungen Fräulein Liesbeth: „Du bist nicht nur hübsch, sondern sogar viel hübscher, als irgendeine deiner Freundinnen. Keine hat eine so hübsche schlanke Figur, keine so langes dichtes braunes Haar, keine so hübsche dunkle Augen mit auch nur annähernd so schönen Wimpern wie du, keine eine so feine zierliche Nase, keine einen so hübschen Mund mit so blendend weißen Zähnen und keine —”

Trotzdem Fräulein Liesbeth seit heute erwachsen ist, wird sie doch ein klein wenig rot und verlegen. Erst sieht sie sich nochmals schnell um, ob nicht vielleicht doch jemand durch die verschlossene Tür in das Zimmer getreten ist — nein, sie ist noch allein, keiner kann hören, was der Spiegel zu ihr spricht und so hört sie denn weiter zu, als er nun sagt: „Keine deiner Freundinnen hat so entzückend kleine Füße wie du, keine auch nur annähernd so schlanke schön geformte Beine. Du brauchst deswegen gar nicht rot zu werden. Du kannst den beinahe schon langen Rock gerne bis zu den Knien in die Höhe raffen, dann wirst du selbst sehen, daß ich recht habe.”

Unwillkürlich befolgt sie den Rat des Spiegels und freut sich über das Bild, das sich ihr da bietet.

Und im stillen vergleicht sie das, was sie da an sich selbst sieht, mit dem, was sie täglich an den Freundinnen sieht: Die eine hat zu lange, die andere zu plumpe Füße, die dritte hat zu starke Fesseln, die vierte hat Kannenbeine, die fünfte dies, die sechste jenes — nein, so schön gewchsen ist wirklich keine andere.

Sie betrachtet das Bild im Spiegel ohne jeden sinnlichen Gedanken, denn so erwachsen ist sie doch noch nicht.

Natürlich glaubt sie nicht mehr an den Storch, an das Märchen glauben ja selbst nicht einmal die Störche mehr, das ist ja Unsinn, aber während die Mutter oft in schlaflosen Nächten darüber nachdenkt, ob sie wirklich eine moderne Mutter werden und ihre einzige, reine und unverdorbene Tochter über alles aufklären soll und während die sich den Kopf darüber zerbricht, wie sie das anfangen soll, ohne ihrem Kinde die Keuschheit der Seele zu rauben, hat Liesbeth sich schon selbst lange aufklären lassen. Allerdings nur bis zu einem gewissen Grade, denn „alles” wußte die Freundin auch nicht und vor allen Dingen, alles wollte sie auch gar nicht wissen. Den letzten Schleier wollte sie sich nicht zerreißen lassen, etwas Illusion wollte sie sich noch bewahren und von einer anderen Freundin, die „alles” wußte und sogar Bücher besaß, in denen „alles” drinstand, hat sie sich voller Entrüstung abgewandt. Im Gegensatz zu mancher Freundin hat sie auch noch nie mit ihrem Bruder über so etwas gesprochen, obgleich Kurt, der nun schon sechzehn Jahre alt ist, doch sicher alles weiß. Aber das alles gleich auf einmal zu erfahren, lockte und reizte sie nicht, sie will sich, wenn es Zeit ist, überraschen lassen und Geheimnisse haben ja immer einen viel größeren Reiz als die nackte Wahrheit.

Liesbeth ist alles andere, nur kein verdorbenes junges Mädchen, davon ist sie himmelweit entfernt, aber sie ist doch groß und alt genug, um über gewisse Dinge nachzudenken.

Alle ihre Freundinnen haben einen Verehrer, sie weiß nicht recht, was das ist, noch weniger, was man mit dem anfängt, am allerwenigsten, warum man den unbedingt haben muß, weil das Leben sonst einfach „spießig” ist, wie Klara Olsen immer behauptet, und allen Zureden der Freundinnen zum Trotz, hat sie sich auch bis heute noch keinen Verehrer angeschafft, sondern immer nur geantwortet: „Das hat ja immer noch Zeit, wenn ich erwachsen bin.”

Jetzt aber ist sie erwachsen, nun muß auch sie einen Verehrer haben, sonst glauben die Freundinnen vielleicht, sie wäre eine alberne Pute oder noch schlimmer, sie fände keinen.

Das fällt ihr jetzt plötzlich alles ein, während sie immer noch mit dem hochgeschürzten Rock, unter dem verführerisch und kokett die kleinen Spitzenhöschen hervorsehen, vor dem Spiegel steht.

Sie denkt an den zukünftigen Verehrer und ganz erschrocken läßt sie das Kleid fallen: „Um Gottes willen, wenn der mich so sähe, der darf überhaupt nicht wissen, daß ich Beine habe.”

Sie weiß selbst nicht warum, aber sie wird nun plötzlich verlegen und zieht das Kleid herunter, so weit es nur irgend geht.

Zum erstenmal in ihrem Leben findet sie den Rock zu kurz. Daß er länger wäre, hat sie sich schon oft gewünscht, wie sie voller Ungeduld den Tag der Konfirmation herbeisehnt, an dem sie zum erstenmal, dann aber auch für immer einen ganz langen Rock anlegt und dadurch sich selbst und aller Welt offenbart, daß sie „eine junge Dame” ist.

Gewünscht hat sie es sich schon oft, daß der Rock länger sein möchte, aber heute, als sie sich in Gedanken damit beschäftigt, daß sie nun bald einen Verehrer hat, kommt es ihr zum Bewußtsein, daß der Rock unbedingt länger sein müsse. Ob sie nicht einmal mit ihrer Mutter darüber spricht? Aber die würde sie vielleicht gar nicht verstehen und sie selbst kann es ihrer Mutter doch unmöglich sagen, daß es sie ganz verlegen machen wird, wenn ihr zukünftiger Verehrer ihr mehr auf die hübschen Füße und auf den Ansatz der schlanken Beine hinsieht, als in ihre Augen.

Aber sie freut sich doch, daß sie so hübsch gewachsen ist und vor dem Spiegel dreht sie sich ein paarmal ganz schnell im Kreise, daß die Röcke fliegen und daß ihr der Atem vergeht. Dann läßt sie sich auf einen Sessel niederfallen, nimmt von dem danebenstehenden Tische eine große Tüte Pralinés und denkt nun ernsthaft darüber nach, wer ihr zukünftiger Verehrer werden wird.

Der freche Platen wird es ganz gewiß nicht! Der macht schon jetzt immer, obgleich er wieder in der Untersekunda sitzengeblieben ist, ein Gesicht, als wäre er mindestens schon Korpsstudent und eingebildet ist der, nicht zu sagen. Wie er sie schon ein paarmal angesehen hat, gleichsam, als wolle er ihr zurufen: „Ich habe Zeit, ich kann warten, die Stunde wird schon noch kommen, wo auch du dich ebenso in mich verliebst wie alle anderen.”

Alle ihre Freundinnen hat er schon geküßt und sie haben sich auch von ihm küssen lassen, erst neulich hat die Anny es wieder verraten, er küßt einfach süß, so ganz anders als die anderen, er kennt sogar eine Stelle hinter dem Ohr, wenn er die küßt, dann wird einem ganz eigentümlich zumut, so ganz anders, zu beschreiben ist es überhaupt nicht, aber es ist himmlisch.

Liesbeth zuckt geringschätzend die Achseln: „Na, wenn schon.” Sie dankt für den eingebildeten Affen und wenn sie sich nun einen Verehrer nimmt, dann soll das nicht einer sein, der schon all ihren Freundinnen den Hof machte. Am liebsten hätte sie einen, der noch rein und unverdorben ist, wie sie selbst, der ebenso wie sie noch nie küßte.

Aber wo soll sie den finden? Die Freundinnen sind nicht diskret mit ihren kleinen Heimlichkeiten, da kennt sie die Namen der verschiedenen Verehrer sehr genau. Es sind das alles Schüler des Gymnasiums, die ihnen täglich auf der Straße begegnen. Viele sind darunter, die sie mit ihren Blicken zu verzehren scheinen, die sich beständig nach ihr umsehen und mehr als einmal hat sie halblaute, aber auch schon ganz laute Worte der Bewunderung gehört, die ihr galten, nur ihr, auch wenn sie nicht allein ging.

Namentlich der Bruder ihrer Freundin Mieze ist ganz weg in sie, das hat die ihr schon so oft gesagt und sie immer von neuem gebeten, den armen Fritz doch zu erhören: „Denk dir nur, Liesbeth, er hat es mir eingestanden, er träumt die ganze Nacht von dir und er hat nicht eher Ruhe gegeben, als bis ich ihm deine Photographie geliehen habe, die du mir zum Geburtstag schenktest. Am liebsten stellte er sie natürlich auf seinen Arbeitstisch, aber das geht doch nicht, denn wenn die Eltern das Bild sehen, dann könnten die denken, ihr hättet etwas miteinander. Er hat das Bild in seiner Schreibtisch­schublade verschlossen, aber sobald er sicher ist, daß niemand kommt, nimmt er es heraus, sogar aus dem Rahmen und küßt es. Hab' doch Mitleid mit ihm.”

Was Liesbeth da zu hören bekam, hat natürlich ihrer Eitelkeit geschmeichelt, aber trotzdem ist sie anscheinend sehr böse geworden und hat die Photographie sofort zurück verlangt. Mieze hat auch geschworen, das Bild am nächsten Tage zurückzubringen, aber weder Liesbeth noch Mieze selbst haben auch nur eine Sekunde daran geglaubt, daß dieser Schwur jemals gehalten wurde. So ist alles beim alten geblieben, Fritz liebt sie nach wie vor, aber sie macht sich gar nichts aus ihm, er ist ihr völlig gleichgültig und sein deutlich bemerkbarer Wunsch, mit immer neuen bunten Krawatten Eindruck auf ihr Herz machen zu wollen, wirkt in ihren Augen einfach lächerlich.

Nein, für den Fritz als Verehrer dankt sie, auch der Otto Hansen und der Karl Erler sind nicht die richtigen, aber vielleicht der Paul Ernst? Ein bildhübscher Junge ist er, aber er soll so maßlos frech sein, wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was Olly erzählte. Die hat sich kürzlich mit ihm im Park ein Rendezvous gegeben und da — Olly hat erklärt, sie hätte doch schon manches Rendezvous gehabt und die hätten ihr sonst nie lang genug dauern können, aber von diesem wäre sie davongelaufen, so schnell die Füße sie nur hätten tragen können.

Was da wohl vorgekommen sein mag?

Liesbeth hat nie darnach gefragt, es war ihr auch ganz gleichgültig, sie hat bis zu diesem Augenblick auch nie wieder daran gedacht. Schade! Der Paul Ernst hätte ihr sonst wohl gefallen, aber wenn er so ist, geht es natürlich nicht.

Unwillkürlich seufzt sie halblaut vor sich hin: „Es ist wirklich nicht so leicht, einen Verehrer zu finden.”

Von neuem greift sie in die Tüte und nimmt abermals ein Praliné zwischen die schneeweißen Zähne. Und plötzlich fällt ihr ein, daß sie sich für die ja noch gar nicht bei Max Warnholz bedankt hat, dem Duzfreund ihres Bruders, der täglich ins Haus kommt, um mit Kurt zusammen die Schularbeiten zu machen. So sagt Kurt wenigstens, aber in Wirklichkeit macht Max die Arbeiten alleine und Kurt schreibt sie dann ab und Max hilft ihm bei dem Abschreiben, denn auch das ist eine Kunst, die geübt sein will, damit der Lehrer nicht gleich etwas davon merkt.

So viel weiß sie, wenn sie Max wirklich jemals küssen sollte, den hat hoch keine andere geküßt und er auch noch keine andere, der Max zählt für die Freundinnen gar nicht mit. Dazu ist er nicht hübsch und in seiner ganzen Erscheinung auch nicht elegant genug.

Was Max wohl sagen würde, wenn sie ihm eines Tages erklärt, er solle ihr Verehrer werden. Das heißt, sagen kann sie es ihm natürlich nie, lieber bisse sie sich die Zunge ab, aber sie müßte es ihm sonst irgenwie zu verstehen geben. Aber ob es es verstände, ob er es überhaupt glauben würde, daß gerade sie, um deren Gunst schon so viele vergebens warben, ihn sich als Verehrer wünscht? Er ist so maßlos schüchtern und dann dieser so ganz eigentümliche Blick, mit dem er sie streift, wenn er ihr einmal begegnet oder wenn sie in die Stube des Bruders tritt. Wie er dann von seinem Stuhl aufspringt und beiseite tritt, um durch seine Anwesenheit die Geschwister nicht zu stören, wie er fortwährend auf die Straße hinuntersieht und doch von Zeit zu Zeit verstohlen zu ihr hin schaut, um dabei stets bis an die Haarwurzeln zu erröten.

Na, noch ist er ja nicht ihr Verehrer und ob er es wird, muß die Zukunft lehren. Auf jeden Fall will sie sich ihn gleich morgen daraufhin genauer ansehen. Sie muß sich ja sowieso für die schönen Bonbons bei ihm bedanken, das ist Grund genug, sich längere Zeit mit ihm zu unterhalten, wenn er bei Kurt ist.

Max hat ihr die Pralinés durch ihren Bruder geschickt, weil er weiß, daß sie die leidenschaftlich gerne ißt. Er ist überhaupt ein rührend guter Junge, immer so aufmerksam und bescheiden in seinem ganzen Wesen.

Jetzt erst kommt sie darauf: Ob sie sich den Max zum Verehrer nimmt?

Dann aber lacht sie plötzlich hell auf: „Ausgerechnet den Max!” Sie sieht ihn ganz deutlich vor sich mit der etwas lang aufgeschossenen Figur und der ein wenig vornüber gebeugten Haltung. Auch sein Gesicht ist nicht hübsch, nur die Augen sind es, die großen, beinahe tiefschwarzen Augen, die immer so traurig dareinblicken. Er stammt aus kleinen Verhältnissen und muß schnell vorwärtskommen, um seinen Eltern nicht mehr als unbedingt nötig zu kosten. Wie lange hat er wohl sparen müssen, um ihr von seinem geringen Taschengeld die große Tüte Pralinés schenken zu können. Drei Mark hat die sicher gekostet und mit Schrecken bemerkt sie, daß sie die Bonbons fast schon alle verzehrt hat. Aber die drei, die noch da sind, will sie nun wirklich zur Erinnerung an ihn aufbewahren, bis sie sich dann doch sagt, daß er ihr die Bonbons schenkte, damit sie die aufißt und nicht, damit sie in der Tüte alt und trocken werden.

So knappert sie denn weiter und während sie vorhin gar nicht an Max dachte, denkt sie jetzt ausschließlich an ihn.

Ehe sie am nächsten Nachmittag in Kurts Zimmer tritt, mustert sie sich sehr aufmerksam im Spiegel — sie hat sich besonders niedlich angezogen, eine neue Schleife in das Haar gesteckt, sie trägt die neuen Lackschuhe, die sie gestern geschenkt erhielt und als sie ihr Bild betrachtet, ist sie sehr mit sich zufreiden.

So geht sie denn zu Kurts Zimmer, aber das kleine Herz schlägt etwas unruhiger als sonst, sie hat die Empfindung, als stände sie am Vorabend großer Ereignisse.

Dann klopft sie an, aber sie muß zweimal klopfen, ehe es gehört wird. Sie hat in ihrer Angst vor dem ungewissen Etwas vielleicht zu leise geklopft, aber als jetzt eine Stimme Herein ruft, ist es nicht die ihres Bruders. Nur Max sitzt im Zimmer hinter den Büchern und springt nun ganz verlegen auf.

Sie selbst ist für einen Augenblick mehr als erschrocken — allein mit ihm, gerade jetzt, wo sich ihr Geschick vielleicht entscheiden soll.

Und zum erstenmal ist auch sie jetzt in seiner Gegenwart verlegen, wenigstens weiß sie im Augenblick nicht recht, was sie sagen soll.

Aber je verwirrter er ihr gegenübersteht, je deutlicher sie ihm anmerkt, daß er nur den einen Wunsch hat, Kurt möge bald zurückkommen, damit er es nicht nötig habe, sie hier vielleicht alleine längere Zeit zu unterhalten, um so ruhiger wird sie allmählich selbst. Langsam, ganz langsam beginnt sie, ihre Überlegenheit zu fühlen und läßt sie die Herrin der Situation werden. Das macht sie stolz und läßt ein leichtes Lächeln um ihre Lippen spielen.

Der arme Max wagte in ihrer Nähe kaum noch zu atmen. Ihm wird heiß und kalt, heftiger als je beschleicht ihn heute das Gefühl, das er schon so oft in ihrer Gegenwart empfand, das Gefühl des größten Glücks und zugeich des größten Unglücks, das er sich nicht zu erklären und nicht zu deuten vermag.

Der Schweiß tritt ihm auf die Stirn, er geht an das Fenster und blickt auf die Straße hinab: „Wo Kurt nur bleibt? Er hatte mich gebeten, präzise fünf hier zu sein und jetzt ist es schon —”

„Ach, lassen Sie ds doch,” unterbricht sie ihn, als er jetzt nach der Uhr sehen will. „Kurt kommt immer noch früh genug.”

„Oh doch nicht, gnädiges Fräulein,” widerspricht er, „wir haben gerade heute sehr viel zu arbeiten und wenn wir bis zum Abendessen fertig sein wollen, müssen wir uns sehr daran halten, da haben wir keine Zeit zu verlieren.”

„Aber so viel Zeit, daß ich Ihnen meinen Dank für die prachtvollen Pralinés, die Sie mir gestern schickten, aussprechen kann, werden Sie doch wohl noch übrighaben,” meint sie, als er sich jetzt, trotz ihrer Gegenwart, mit den Büchern zu schaffen macht.

Dunkelrot färben sich seine Wangen und er beugt sich noch tiefer über den Tisch: „Welche Pralinés?” fragte er mit stockender Stimme und sich in seiner Verlegenhieit verratend, fährt er dann fort: „Ich hatte doch Kurt extra gebeten, nicht zu sagen, daß ich — es waren so wenig Bonbons, aber sie sind so furchtbar teuer — ich wollte natürlich sagen, mehr konnte ich nicht schenken und weil es nur so wenig waren und nicht einmal in einem hübschen Karton, wie sich das gehört, Kurt hatte mir auch fest versprochen, Ihnen zu sagen, die Pralinés kämen von einem unbekannten und anonymen Verehrer.”

Verehrer! Das Wort aus seinem Munde wirkt. Da hat sie ja schon gefunden, was sie suchen wollte, und daß gerade Max sie verehrt, er, der sich noch bisher um keine andere kümmerte, gerade sie, seine erste Liebe, sie fühlt ihr Herz höher schlagen, weniger aus Glückseligkeit, als vor Stolz.

Lieber in dem Herzen dieses jungen unerfahrenen Menschen die erste Liebe, als bei einem anderen die zehnte oder zwölfte.

Mit dankbarem Blick sieht sie zu ihm auf: „Wie gut Sie sind! Daß Sie das sind, habe ich ja schon lange gewußt, aber daß Sie so aufmerksam wären und mir Ihr Geschenk in so zarter und sinniger Form darbrachten —”

Es ist ja Unsinn, was sie da redet, das weiß sie sehr genau, aber die Worte verfehlen ihre Wirkung nicht, zumal sie mit leiser, weicher Stimme spricht.

Mehr als verlegen, völlig fassungslos steht er ihr gegenüber, ihr Dank verwirrt ihn, seine Gedanken stürmen wild durcheinander.

Da fühlt er, wie sie seine Hände ergreift, nicht mit einem flüchtigen Druck, sondern wie sie ihre schlanken Finger zwischen die seinen schiebt.

Und kaum hörbar flüstern ihre Lippen: „Wie soll ich Ihnen je dafür danken?”

Das ist zu viel für ihn, seine Augen füllen sich mit Tränen.

Sie müßte kein Weib sein, wenn sie nicht mehr als glücklich darüber wäre, die Wirkung zu sehen, die ihre Worte und ihr Händedruck bei ihm hervorrufen. Dann aber flammt das Mitleid in ihr auf, denn ein Weib, ganz einerlei welchen Alters, kann einen Mann ihretwegen nicht weinen sehen.

Sie tritt noch näher an ihn heran, ohne seine Hände loszulassen: „Nicht weinen, Max, nicht weinen,” bittet sie mit zärtlicher Stimme und sich über ihn beugend, küßt sie die tränenden Augen.

Einen Augenblick übermannt ihn die Glückseligkeit, dann aber kommt er wieder zur Besinnung: „Um Gottes willen, gnädiges Fräulein, wenn das jemand sieht, wenn Kurt kommt.”

Nun fährt auch sie erschrocken zusammen: „Richtig, Kurt, den hatte ich ja ganz vergessen — aber heute abend — ich bin bei Nelly Dirksen, ich will früh fortgehen, schon um halb zehn, wir treffen uns dann — ich gehe durch den Park — an der Hängebrücke — um halb zehn — hörst du?”

Und ehe er antworten kann, ist sie draußen.

Es war die höchste Zeit, denn auf dem Korridor begegnet sie dem Bruder und im Vorübergehen ruft sie ihm zu: „Du, Kurt, gehe doch in das Eßzimmer und hole einen Kognak, der arme Max hat solche Zahnschmerzen, daß ihm die hellen Tränen die Backen herunterlaufen.”

„Aber der ist doch kein altes Weib, dann soll er sich den Zahn ausreißen lassen,” schilt Kurt, dann aber holt er doch den Kognak und was er der Schwester sagte, sagt er auch dem Freund, als er dem nun das Glas vollschenkt. Der hört ganz verwundert zu, bis er dann allmählich begreift, warum Liesbeth das Märchen von den Zahnschmerzen erfunden hat. Schnell fährt er sich mit dem Tuch über die Augen, dann meint er: „Das Zeug brennt ja zwar wie höllisches Feuer, aber es hilft und wenn du deine Schwester nachher siehst, dann danke ihr bitte vielmals. Nun laß uns aber an die Arbeit gehen.”

Das geschieht denn auch, obgleich Max seine ganze Energie zusammennehmen muß, um seine Zerstreutheit nicht zu verraten.

Unterdessen sitzt Liesbeth mit fliegenden Pulsen und hochschlagendem Herzen in ihrem Zimmer. Es ist alles so schnell gekommen und so ganz anders, als sie es sich dachte. Gott, der arme Max, wie lange muß der sie schon lieben, daß ihr Händedruck allein genügte, um ihn so aus der Fassung zu bringen. Was muß der arme Junge gelitten haben, wenn sie oft eine halbe Stunde und länger mit Kurt und ihm zusammen plauderte, wenn sie an ihm vorüberging, ohne ihm mehr als einen freundlichen Blick zu gönnen.

Der arme, arme Junge! Ein grenzenloses Mitleid für ihn erfaßt sie, das Mitleid aber ist die Mutter der Liebe.

Seit gestern sind erst vierundzwanzig Stunden vergangen und doch ist ihr, als wäre sie mit einem Male ein ganz anderer Mensch geworden, viel älter, viel erfahrener und vor allen Dingen viel glücklicher. So glücklich wie heut ist sie überhaupt noch nie gewesen.

Sie hat einen Verehrer, im Gegensatz zu den Freundinnen einen, der sie wirklich von ganzem Herzen liebt und sie wird diese Liebe erwidern, sie wird fortan keinen anderen Gedanken haben, als nur noch ihn.

Was soll sie heut abend nur anziehen, um ihm ganz besonders zu gefallen? Allerdings, um halb zehn ist es schon dunkel und da sie einen Mantel trägt, wird er ja nicht viel sehen können, aber trotzdem.

Und ob er sie heute abend wohl küssen wird, nicht so, wie sie vorhin ihn, sondern ganz richtig auf den Mund, oder gar, wie der Platen es so schön machen soll, hinter das Ohr?

Sie schließt die Augen und ein leiser wonniger Schauer durchrieselt bei diesem Gedanken ihren schlanken Körper, bis hinunter in die Fußspitzen.

Ob er es vorhin wohl bemerkt hat, daß sie sich seinetwegen die neuen Lackschuhe anzog?

Wenn sie heute abend nur nicht zu Nelly müßte. Aber sie hat es fest versprochen, und die Zeit bis halb zehn wird dort schneller vergehen, als hier zu Haus und vor allen Dingen, wenn sie nicht eingeladen wäre, könnte sie nicht mehr so spät fortgehen. Sie wird von Anfang an bei der Freundin über Kopfschmerzen klagen, damit sie einen Grund hat, früh aufzubrechen und sie wird die Mutter bitten, bis um elf Uhr fortbleiben zu können. Abgeholt braucht sie ja nicht werden, der Diener von Emmy Falkner, die nur ein paar Häuser nebenan wohnt, wird sie auch heute bis an die Haustür bringen.

Wenn es nur erst halb zehn wäre und was sie nur anziehen soll und ob Max auch pünktlich ist und sie nicht warten läßt? Sie ängstigt sich ja sonst im Park zu Tode.

Aber er ist da, länger schon als eine halbe Stunde geht er voller Erwartung auf und ab, immer fürchtend, daß ihr die Verabredung leid tun wird und daß sie nicht zu dem Rendezvous erscheint.

Aber sie kommt doch, mit dem Glockenschlag halb zehn ist sie zur Stelle.

Er kann das Glück nicht fassen, er ist so verwirrt, daß er sie nicht einmal begrüßt, nicht einmal die Mütze vom Kopf nimmt.

Ihr erstes heimliches Rendezvous! Ihr ist, als müßte er in der Stille, die sie beide umgibt, ihr Herz schlagen hören, es klopft und hämmert zum Zerspringen und ihr ist, als sollten ihr die Worte in der Kehle steckenbleiben, als sie nun sagt: „Haben Sie auch geglaubt, daß ich kommen würde? Ich hatte eine so schreckliche Angst und wenn Sie es nicht wären, dann hätte ich mich im letzten Augenblick auch noch wieder anders besonnen und wäre bei Nelly geblieben.”

Daran ist kein wahres Wort, sie hat den ganzen Abend voller Ungeduld nach der Uhr gesehen, um es endlich vor rasenden Kopfschmerzen nicht länger aushalten und hierhereilen zu können, aber sie fühlt das Bedürfnis, sich und ihr Verhalten ihm gegenüber zu rechtfertigen und zu entschuldigen.

Aber er glaubt, was sie sagt, die Männer sind ja so dumm. So meinte er denn stockend: „Wenn Sie meinen, daß Sie lieber nicht hätten kommen sollen und vielleicht ist es ja auch wirklich Unrecht —”

Das weiß sie ja selbst am allerbesten, aber gerade deshalb braucht er es ihr doch nicht zu sagen und deswegen, um sich wieder von ihm fortschicken zu lassen, ist sie doch wirklich nicht gekommen. Da hätte sie doch bei Nelly bleiben können. Nicht mal die süße Speise mit dem Makkaroni, die ist dort immer zum Schluß gibt, hat sie seinetwegen abgewartet und wenn das seine ganze Liebe ist —

So sagt sie denn mit scharfem Tonfall: „Die Liebe tut alles, sie entschuldigt alles und sie verzeiht alles.”

„Fräulein Liesbeth, haben Sie mich denn wirklich ein ganz klein wenig lieb?”

In seinem namenlosen Glück jubelte er so laut auf, daß sie ihn ganz erschrocken die Hand auf den Mund legt: „Um Gottes willen, wenn uns jemand hört.” Vorsichtig sieht sie sich nach allen Seiten um, ob auch kein Lauscher in der Nähe ist, aber alles ist wie ausgestorben.

Da sschmiegt sie sich an ihn und ihn mit ihren Augen groß ansehend, sagt sie mit leisem Vorwurf: „Du fragst mich noch, ob ich dich liebe?”

Erst schüchtern, dann fester legte er seinen Arm um sie und zieht sie an sich.

„Warum küßt er mich denn nicht?” denkt sie.

Wie in seligem Entzücken schließt sie die Augen und anscheinend ganz unbeabsichtigt bietet sie ihnm die Lippen zum Kuß.

Und da küßt er sie! Die ganze Zurückhaltung, die er sich Wochen und Monate hindurch in ihrer Gegenwart hat auflegen müssen, in dieser Sekunde fliegt sie davon, da er diesen bezaubernden Mädchenkopf an seinen Schultern ruhend fühlt. Wild und leidenschaftlich flammen seine Küsse auf ihren Lippen, auf ihren Augen, bis sie den Kopf, von dem der Schal schon lange heruntergefallen ist, wie zufällig so dreht, daß er sie hinter das Ohr küssen muß.

Gott, wie süß das ist, wie das prickelt und das Blut schneller fließen läßt. Das ist ja gerade, als hätte man Champagner getrunken.

Endlich hält er mit dem Küssen inne und sie von neuem zärtlich an sich ziehend, bittet er: „Sag mir noch einmal, daß du mich wirklich liebst und sagt mir auch noch eins, liebst du mich erst seit heute oder wie ich dich, schon seit langer Zeit?”

„Schon seit Monaten,” gibt sie zur Antwort. Halb glaubt sie es in diesem Augenblick selbst, denn sie kann es sich wirklich nicht vorstellen, daß diese große Liebe, die sie nun erfüllt, wirklich erst heute nachmittag, oder erst jetzt bei seinem Kissen in ihr lebendig geworden ist. Halb glaubt sie selbst, was sie da sagt, vor allen Dingen aber weiß sie, daß es ihn todestraurig stimmen würde, wenn sie ihm offen gesteht, daß sie vorgestern noch gar nicht an ihn dachte.

Da würde er es ja gar nicht glauben, daß sie ihn wirklich liebt und das tut sie. Sie hat keinen anderen Gedanken als ihn allein.

Ob er sie nachher, bevor sie voneinander Abschied nehmen, noch einmal hinter das Ohr küssen wird?

Noch aber denken sie nicht daran, sich für heute zu trennen. Hand in Hand gehen sie auf und ab, um dann doch wieder von Zeit zu Zeit auf einer der verschwiegenen Bänke Platz zu nehmen und miteinander zu plaudern.

Lieber wäre ihr allerdings, er spräche weniger und küßte mehr, aber um nun nicht selbst erzählen zu müssen, wie lange sie ihn schon liebt und wann und woran sie das merkte — um nicht in eine derartige gefahrvolle Lage zu kommen, bittet sie ihn jetzt, ihr zu sagen, seit wann er sie liebt und warum gerade nur sie und ob er wirklich nur sie liebt, oder im stillen vielleicht doch noch eine andere.

Das wollen Sie immer alle wissen, ganz einerlei, wie jung oder wie alt sie sind, weil sie natürlich ganz genau wissen oder es sich wenigstens einbilden, daß nur sie alleine geliebt werden. Und so hört denn auch Liesbeth voller Entzücken, daß er nur sie liebt, daß er noch nie an eine andere dachte und daß es ihm erst ganz klar geworden ist, wie sehr er sie liebt, als er sie im vorigen Winter, nicht in den letzten, sondern in dem Winter vorher, täglich auf der Eisbahn sah.

Sie ist ganz gerührt: „Ach, du mein armer Max, so lange liebst du mich schon und ich” — liebe dich erst seit heute, will sie sagen, aber im letzten Augenblick besinnt sie sich und hält mitten im Satz inne.

„Und du?” fragt er, ihre Hand zärtlich drückend.

„Ich liebe dich ja auch schon so lange und wir beide haben gegenseitig nichts davon gewußt, wieviel glückliche Stunden haben wir da versäumt. Aber das wird jetzt anders werden. Alles holen wir nun nach, denn wir sehen uns ja täglich, wenn auch nur flüchtig, so oft du zu Kurt kommst.”

„Wirst du mich aber auch immer lieb behalten?” fragte er ängstlich und glückselig zugleich.

„Immer,” gibt sie zur Antwort und es ist dir damit heiliger Ernst. Wie sollte sie ihn, dessen erste Liebe sie ist, der der Gegenstand ihrer ersten Liebe ist, wie sollte sie jemals aufhören können, den zu lieben.

Dann aber will sie plötzlich wissen, wann und woran er es gemerkt hat, daß er sie liebt, gerade sie.

Er wird verlegen und will nicht mit der Sprache heraus. Das reizt ihre Neugierde natürlich erst recht und je öfter er erklärt, das nicht sagen zu können, umso mehr besteht sie darauf. Sie fängt an zu schmollen und zu drohen, sie sträubt sich, als er sie küssen will und wirft sich dann plötzlich stürmisch an seine Brust: „Ach bitte, Max, mein einziger süßer Max, sag es mir doch, du weißt ja gar nicht, wie lieb ich dich habe.”

Und sie küßt ihn, daß ihm der Atem vergeht.

„Und du schwörst mir,” fragte er endlich, „daß du mir nicht böse sein willst, wenn ich es dir gestanden habe?”

Den Eid, den ein weibliches Wesen in einem solchen Augenblick nicht schwören würde, gibt es überhaupt nicht.

Und sie schwört, die Finger zum Eide erhoben.

Dann beginnt er zu erzählen in kurzen abgerissenen Worten, um doch nicht alles sagen zu müssen: Wie er ihr einmal hat die Schlittschuhe anschnallen dürfen, da hat er ihre kleinen Füße zwischen seinen Händen und auf seinen Knien gehalten und wie er dann die Lederriemen festband und dabei ihre schlanken Glieder fühlte und als er sie dann nachher laufen sah mit einem Rock, viel, viel kürzer, als den, den sie jetzt trägt, als er ihren schlanken Beine sah in den schwarzen Strümpfen, die zu den Stiefeln und zu der Farbe des Rockes paßten, diese entzückenden schlanken Beine —

Sie ist dem Weinen nahe und versucht ihre Hände freizumachen: „Pfui, Herr Max, das hätte ich nicht erwartet, am allerwenigsten von Ihnen.”

Er hält ihre Hände fest und blickt sie ganz traurig und verzagt an: „Sehen Sie, nun sind Sie doch böse und Sie haben mir doch geschworen —”

„Hätte ich das geahnt, hätte ich natürlich nicht geschworen,” unterbricht sie ihn, dann aber sieht sie ein, daß sie ihn verzeihen muß, nicht weil sie ihm das geschworen hat, sondern weil ihre Liebe sonst schon heute abend ein schnelles und voreiliges Ende findet.

Und sie ist ihm ja auch gar nicht böse, war es überhaupt nicht und die Tränen entsprangen vorhin lediglich einer gewissen Verlegenheit und dem ein klein wenig verletzten Schamgefühl. Wenn sie der Wahrheit ganz die Ehre geben soll, so hat sie sich über das, was er sagte, sogar sehr gefreut, das schmeichelte ihrer Eitelkeit und bestärkte sie in dem, was sie sich gestern selbst vor dem Spiegel gestand, daß sie viel hübscher gewachsen ist, als alle ihre Freundinnen.

Was er da vorhin sagte, möchte sie gerne noch einmal aus seinem Munde hören und so fragt sie denn jetzt etwas kokett: „Ich müßte dir eigentlich ernstlich böse sein, aber habe ich denn wirklich so hübsche — ich meine, bin ich denn wirklich so gut gewachsen?”

Von neuem schildert er ihr, wenn auch etwas unbeholfen, wie verführerisches sie in dem Eiskostüm aussah, wie sie alle ihre Freundinnen in den Schatten stellte, wie sie allen den Kopf verdrehte, aber ihm am meisten und wie er von der Stunde an bei Tag und Nacht keinen anderen Wunsch mehr kenne, als ihre kleinen Füße noch einmal in seinen Händen halten zu dürfen.

Ihr Blut fließt schneller, sie weiß selbst nicht warum und von neuem fühlt sie ein Prickeln in ihren Adern. Dann aber meint sie, etwas verlegen und gezwungen lachend: „Damit mußt du schon warten, bis es wieder Winter ist, aber das verspreche ich dir, ich gebe dir sogar meine Hand darauf, in Zukunft soll mir kein anderer jemals wieder die Schlittschuhe anschnallen, als nur du. Damit bist du doch wohl zufrieden, oder verlangst du noch mehr?”

Sie hofft im stillen, daß er noch mehr verlangen wird, ohne zu wissen, worin das bestehen soll und sie rückt noch näher an ihn heran, so daß ihre Knie und ihre Füße einander berühren.

Und noch einmal fragt sie: „Bist du mit dem, was ich dir versprach, zufrieden oder verlangst du noch mehr?”

Ebenso wie sie, ist er auch im Grunde seines Herzens noch ein Kind. Er hat so die unbestimmte Empfindung, als ob sie noch mehr gewähren, ihn noch glückseliger machen könne, als er es ohnehin schon ist, aber er weiß nicht, worin dieses größte Glück bestehen solle.

So sagt er denn: „Was könntest du sonst wohl noch mehr für mich tun?” Und Hand in Hand sitzen sie zusammen, bis der Schlag der Kirchenuhr sie erschrocken auffahren läßt, es wird für Liesbeth die höchste Zeit, nach Haus zu eilen. Natürlich begleitet Max sie bis vor die Haustür und mit einem leisen „auf Wiedersehen morgen” trennen sie sich. Dann betritt Liesbeth die Wohnung der Mutter und kann da gar nicht genug davon erzählen, wie nett und lustig es heute abend bei Nelly war.

Aber wie schön es war, daß wird Liesbeth erst ganz klar, als sie bald darauf im Bett liegt und in Gedanken das ganze Rendezvous durchlebt, sich noch einmal jedes seiner Worte zurückruft, noch einmal jeden seiner Küsse auf ihren Lippen fühlt.

Und plötzlich fährt sie in einem süßen Wonneschauer zusammen: Ihr war, als hätte er sie eben nochmals hinter das Ohr geküßt.

Ach, sie hat ihren Max ja so über alles lieb, nicht mit den Sinnen, denn dazu ist sie noch zu jung und was die ihr sagen, vermag sie sich noch nicht deutlich zu erklären. Nein, sie liebt ihn nur mit dem Herzen und sie wird ihn lieben, so lange sie lebt.

Mit dem Gedanken an Max schläft sie ein. Ihm gilt ihr erster Gedanke, als sie erwacht und nun beginnen Wochen und Monate des schönsten und seligsten Glückes. Kein Tag vergeht, an dem sich ihnen nicht Gelegenheit bietet, einen flüchtigen Kuß, einen verstohlenen Händedruck zu tauschen und so oft es sich nur irgendwie machen läßt, treffen Sie sich im Park.

Wenn nur eins nicht wäre, die beständige Angst, daß jemand etwas merkt.

Aber das Glück ist den Liebenden günstig, bis dann doch eines Tages die Bombe platzt.

Ganz ahnungslos kommt Liesbeth am Mittag aus der Schule zurück, glückstrahlend, denn Max ist ihr begegnet und im Vorübergehen haben Sie sich leise zugeflüstert: „Heute um halb sechs.”

Ein freudiges Lächeln liegt noch auf ihren Lippen, als sie die Mutter begrüßt, aber anstatt den Gruß zu erwidern, gibt die ihr plötzlich, wie der Blitz aus heitrem Himmel, rechts und links was um die Ohren, daß die Bücher mitsamt der Heiligen Schrift, die Liesbeth in der heutigen Religionsstunde brauchte, ihr aus den Händen fallen und daß sie selbst ganz fassungslos dasteht. Sie vermag sich den Zorn der sonst so guten und sanften Mutter gar nicht zu erklären. Was ist vorgefallen, wodurch hat sie diese Züchtigung, noch dazu in ihrem Alter, verdient?

Sie ist sich keiner Schuld bewußt, bis ihr dann plötzlich einfällt —

Eine Todesangst lähmt für einen Augenblick alle ihre Sinne, dann aber vereinigt sich alles, was sie empfindet, indem Schreckensruf: „Max!”

Eine neue schallende Ohrfeige ist die Antwort: „Jawohl, Max, nur wenigstens ein Glück, daß du mißratenes Kind das selbst gleich eingestehst und nicht erst den Versuch machst, zu leugnen. Geholfen hätte es dir doch nicht, denn dreimal seid ihr zusammen im Park gesehen worden, wie ihr euch küßtet und wenn man mir das nicht eher mitteilte, geschah es nur, weil man mein armes Mutterherz schonen wollte. Mit deinem Max wird Kurt abrechnen. Natürlich kommt dieser sogenannte Freund nie wieder über unsere Schwelle. Undank ist der Welt Lohn, da sieht man es wieder, wieviel Gutes haben wir ihm erwiesen, wir haben ihn unterstützt, weil er so ein armer junger Mensch ist und zum Dank dafür verführt er mein Kind.”

Liesbeth fühlt, jetzt gibt es nur eins, sie muß den Geliebten in Schutz nehmen und so ruft sie denn: „Mutter, sprich nicht so, ihn trifft keine Schuld, er hat es lange genug still mit sich herumgetragen, daß er mich liebt, kein Wort ist davon über seine Lippen gekommen, bis auch mir klar wurde, daß ich ihn liebte und da fanden sich unsere Herzen. Und wenn ihr mir jetzt auch tausendmal verbietet, ihn wieder zu sehen, ich lasse doch nicht von ihm, wie auch er keinen anderen Gedanken hat, als nur mich, seitdem er damals auf der Eisbahn —”

Glücklicherweise hält sie mitten im Satz inne, beinahe hätte sie alles verraten.

Aber ihr plötzliches Schweigen macht die Mutter mißtrauisch: „Was war damals auf der Eisbahn? Ich will und muß alles wissen.”

„Nichts ist gewesen,” verteidigt Liesbeth sich, „wir sind damals viel zusammen gelaufen und einmal haben wir uns zu weit hinaus gewagt, um ein Haar wären wir damals ertrunken. Ich habe dir nichts davon erzählt, um dich nicht zu ängstigen und da, als wir der Gefahr glücklich entronnen waren, ich war schon bis über beide Knie im Wasser, als Max mich mit aller Gewalt zurückriß — da hat er mir gesagt, in dem Augenblick der Gefahr wäre ihm erst klar geworden, wie lieb er mich hätte und schon aus Dankbarkeit liebe ich ihn wieder.”

Das steht zwar im Widerspruch zu dem, was sie vorhin sagte, aber die Mutter hört aus den Worten nur heraus, daß ihr Kind in Gefahr war und daß Max sie rettete. So klingt ihre Stimme denn etwas milder, als sie nun sagt: „Ihr seid beide noch Kinder und später wirst du selbst einsehen, daß ich recht habe, wenn ich euch jedes fernere Zusammenkommen verbiete. Über die Strafe, die ich dir diktiere, werde ich noch nachdenken. Vorläufig wirst du die nächsten vierzehn Tage dein Zimmer, sobald du aus der Schule zurück bist, nicht verlassen, auch an den Sonntagen nicht. Du wirst die Mahlzeiten in deiner Stube einnehmen und nun gehe, ich will dich nicht mehr sehen.”

Kaum hat Liesbeth ihr Zimmer erreicht, da bricht sie in einen Tränenstrom aus, der nur zuweilen vorübergehend versagt, um dann mit erneuter Gewalt hervorzustürzen. Sie ist empört über die Strafe, die man über sie verhängt und sie ist grenzenlos traurig, daß sie ihren Max nun niemals wieder sehen soll.

Die Zeit trocknet auch diese Tränen, aber sie muß Max doch noch viel lieber gehabt haben, als sie es selbst glaubte, denn Wochen und Monate vergehen, bis ihr kleines Herz wieder anfängt, ruhiger zu schlagen. Aber auch da weiß sie: Niemals wird sie wieder einen anderen lieben, Max war ihre erste und ihre letzte Liebe, der Gedanke und die Erinnerungen an ihn wird in ihr fortleben, bis sie einst die Augen zum ewigen Schlummer schließt, und ihr letztes Wort wird heißen: „Max.”

Und doch wird sie eines Tages ihrem späteren Mann, wenn der sie fragt: „Hast du vor mir noch niemals einen anderen geliebt, auch nicht, als du jung warst? Hast du wirklich noch nie einen anderen geküßt als nur mich?” Dann wird sie mit reinen unschuldigen Kinderaugen aufsehen und ihm zur Antwort geben: „Wie sollte ich wohl jemals vor dir einen anderen geliebt oder gar geküßt haben? Ich wußte es ja, daß du kommen würdest, da habe ich auf dich gewartet bis zu dieser Stunde, du mein Ritter und mein Held, mein über alles geliebtes Glück.”

Und da er ein Mann ist, glaubt er ihr auch, denn wenn die Frau die geborene Liebe ist, dann ist der Mann der lebendig gewordene Glaube.


zurück zur

Schlicht-Seite
© Karlheinz Everts