Lottes Versuchung

Lustiges und Überlustiges von Freiherr von Schlicht
in: „Die Tugendhaften”


Im Begriff, sich schlafen zu legen, hatte Lotte Kramer eben ihr dünnes, zartes Batisttaghemd fallen lassen und war im Begriff, es mit dem nicht weniger dünnen und nicht weniger eleganten und verführerischen langen Spitzennachthemd zu vertauschen, aber als sie die Hände ausstreckte, um sich das Nachthemd über den Kopf zu ziehen, fielen ihre Blicke ganz zufällig auf ihr Bild, das sich in der großen Spiegelscheibe ihres Kleiderschrankes wiedergab, und da sie sich nun doch einmal so sah, ließ sie für eine kurze Weile Nachthemd Nachthemd sein und erfreute sich, wie schon zuweilen, an ihrer eigenen Erscheinung: an ihrem mittelgroßen, schlanken, aber keineswegs mageren, tadellosen Wuchs, an ihren formvollendet schönen Beinen, an ihren nicht zu breiten und nicht zu schmalen Hüften, an ihrer schlanken Taille, an ihren zwar nur kleinen, aber trotzdem sehr hübschen Brüsten, an ihrem schönen Hals und Nacken und nicht zuletzt an ihrem hübschen frischen Gesicht mit den zarten rosigen Wangen, der geraden feinen Nase, dem entzückenden Mund mit den schneeweißen Zähnen, die gar nicht wußten, wo ein Zahnarzt wohnte, und nicht zuletzt an ihren unter ganz dichten Wimpern ruhenden nußbraunen Augen. Und nußbraun wie ihre Augen war auch ihr dichtes, für die Nacht jetzt in zwei langen Zöpfen frisiertes Haar.

Ja, hübsch war sie, das gestand Lotte sich, je länger sie nun ihr Bild betrachtete, auch heute wieder ein. Ja, hübsch war sie, immer noch hübsch, und das war nach ihrer Ansicht beinahe ein Wunder, denn sie war doch schon, was sie aber natürlich keiner ihrer Freundinnen eingestand, fast dreiundzwanzig Jahre, und sie hatte leider, leider, ach so viele leider, wie sie am Platze gewesen wären, gab es gar nicht, ach, und sie hatte leider immer noch keinen Mann.

Warum heiratete sie nur nicht? Richtiger gesagt, warum heiratete man sie nicht? Warum hatte sich ausgerechnet in sie noch nie ein Mann derartig verliebt, daß er sie sich als Frau und als Mutter seiner zukünftigen Kinder wünschte? Warum waren die Herren, obgleich sie doch gern mit ihr tanzten und flirteten, in der Hinsicht bisher achtlos an ihr vorübergegangen, obgleich sie zum Überfluß keineswegs arm, wenn leider auch nicht reich war? Aber wie konnte man heutzutage auch wohl reich sein, wenn man keinen Vater mehr besaß, der auf mehr oder weniger redliche Weise einen Haufen von Tausendmarkscheinen nach dem anderen zusammen­kratzte, um nicht zu sagen zusammenschob.

Warum war gerade sie immer noch unverheiratet und auch immer noch unverlobt? Warum mußte sie es, wenn ihr auf der Straße eine Hochzeitskutsche begegnete, immer mit ansehen, daß stets eine andere in dem Wagen saß, immer eine andere, die noch dazu meistens häßlich oder wenigstens nicht annähernd so hübsch war wie sie selbst? Warum hatte sie noch nicht in der Kutsche mit den großen Glasscheiben, die ringsherum mit kleinen Blumen geschmückt waren, gesessen? Warum gerade sie nicht, die sich bei ihrem heißen, leidenschaftlichen Temperament und bei ihrem heißen Blut so oft, ach, sie allein wußte ja wie oft, nach einem Mann sehnte? So oft, daß sie zuweilen, wenn der Sinnesrausch über sie kam, daran dachte, nicht erst auf die Hochzeitskutsche, die für sie vielleicht ja nie kam, zu warten, sondern sich auch ohne die Formalitäten auf dem Standesamt einem Mann hinzugeben, wenn sie einen fand, den sie so liebte, daß sie ihm jedes Opfer ihrer Liebe gern und freudig brachte. Aber was sie sich in vielen schlaflosen Nächten vornahm, gab sie doch wieder auf, wenn am Morgen die helle Sonne oder der graue Tag in ihr Zimmer schien. Der graue Tag ließ sie ihr Vorhaben undurchführbar erscheinen, der ließ sie daran denken, was ihre Mutter, was ihre Verwandten und was die Welt wohl dazu sagen würde, wenn es eines Tages von ihr hieß, sie habe mit dem und dem ein Verhältnis, denn ein anderes als dieses schreckliche Wort gab es ja anscheinend nicht dafür, wenn zwei Menschen, die sich über alles liebten, einander angehörten. Und was würden die Leute nun erst reden, wenn aus dieser freien Verbindung ein Kind entstände, wenn sie Mutter würde? Nicht alle waren so klug, so freidenkend und so gütig wie der ehemalige Pastor Frenssen, der bekannte Schriftsteller, dessen „Grübeleien” sie letzthin einmal las und in denen er an einer Stelle ungefähr sagte: „Gestern waren Freund X. und sein Mädchen bei mir. Beide ganz außer sich, da das junge Mädchen in andern Umständen ist. Beide erklärten mir verzweifelt, da sie sich nicht heiraten könnten, wüßten sie nicht, was sie tun sollten. Beide fürchteten den Makel, der jetzt für immer auf ihre Ehre und ihren Namen fallen würde. Da aber habe ich ihnen ganz gheörig den Kopf gewaschen und ihnen erklärt: Schämt ihr euch denn nicht? Ihr habt doch nicht gemordet, ihr habt doch keinem Menschen das Leben genommen, sondern ihr habt voller Liebe einem neuen Menschen das Leben gegeben. Ist das nicht viel wichtiger und viel edler als das, was Tante Lina oder Tante Trina dazu sagt? Wie könnt ihr nur so kleinlich und so erbärmlich denken?”

So ähnlich hieß es in dem Buch, und sie hatte sich den Sinn der Worte fest eingeprägt, weil der ganz ihrer Überzeugung entsprach, aber trotzdem wagte sie nicht, danach zu handeln, besonders nicht, wenn der graue Tag in ihr Zimmer hereinschien.

Weckte die helle Sonne sie aber, dann zog von neuem die Hoffnung in ihr Herz, daß, sie doch noch einmal einen netten, hübschen Mann bekommen würde, denn um hoffen zu können, braucht man ja die Sonne. Seine Pflicht tun, arbeiten und alles andere kann man bei jedem Wind und Wetter, aber um hoffen zu können, braucht man Sonnenschein, und so oft sie hoffte, begriff sie nicht, wie der sonst doch so kluge Goethe in dem zweiten Teil seines Faust hatte sagen und schreiben können, die Hoffnung wäre neben der Furcht der schlimmste Feind des Menschen, denn sie ließe das Leben nicht so erscheinen, wie es wirklich wäre, sondern so, wie man es sich wünschte, sie gaukle dem Menschen Träume und Illusionen vor, die sich meistens nie erfüllten. Bis zu einem gewissen Grade war das sich sehr richtig, aber was wäre das menschliche Leben wohl, wenn es in dem keine Hoffnung gäbe? Die war doch viel eher der beste Freund aller Armen und Bedrückten, als der eine ihrer beiden schlimmsten Feinde.

Daran dachte Lotte auch jetzt wieder, als sie sich endlich niedergelegt hatte, und dann dachte sie noch an so vieles andere, namentlich aber immer wieder aufs neue, warum gerade sie nur noch keinen Mann habe und warum auch so gar keine Aussicht vorhanden sei, daß sie bald einen bekäme? Gewiß, es gab unter den ihr bekannten Herren sehr viele oder wenigstens viele, die sie gern geheiratet hätte, ganz besonders einen, von dem sie auch schon manche Nacht geträumt hatte. Aber an den wollte und durfte sie jetzt nicht denken, denn sonst träumte sie vielleicht, nein sicher wieder von ihm, womöglich noch schöner und aufregender als das letztemal, und da war es doch schon so schön, so unbeschreiblich schön gewesen, daß sie davon erwachte, als sie sich stürmisch und leidenschaftlich in seinen Armen hin und her wand, und daß sie bei dem plötzlichen Erwachen heiße bittere Tränen vergoß. Nicht, weil sie ihm im Traum angehört hatte, sondern weil alles nur ein Traum gewesen war. Nein, sie wollte nicht an ihn denken, und das war auch ganz zwecklos, denn er war leider Gottes bis über beide Ohren in ihre Freundin Anni verliebt und mit der auch schon heimlich verlobt, und dabei war die mit ihren roten Haaren und mit ihrem Sommersprossengesicht so häßlich, daß sie es alle nicht begriffen, wie er sich ausgerechnet in die hatte verlieben können, zumal die zum Überfluß auch noch ganz arm war. Aber die Männer hatten ja nun manchmal einen Geschmack, der zum Himmel schrie. Wäre es anders, dann hätte er sich ganz bestimmt nicht in die Anni, sondern in sie verliebt.

Und plötzlich fiel ihr das Wort wieder ein, das sie letzthin in einem der Theaterstücke des großen englischen Spötters Bernard Shaw las: Kein Mann auf der ganzen Welt heiratet, jeder Mann, aber auch jeder, wird geheiratet.

Ob das wirklich wahr war, und ob es stimmte, wenn Bernard Shaw weiter sagte: Ein lediger junger Mensch mag hintreten wohin er will, überall tritt er in eine ihm gestellte Ehefalle. Und ob wohl auch ihre Freundin Anni ihrem Zukünftigen eine solche Falle gestellt hatte? Sicher, denn anders war es bei dem besten Willen nicht zu erklären, daß er sich gerade für die entschieden hatte und sich demnächst öffentlich mit ihr verloben wollte. Und wenn auch Annis Zukünftiger sie, die Anni, nicht heiratete, sondern vielleicht ganz gegen seinen Willen von ihr geheiratet wurde, was mußte die da alles angestellt haben, um ihn sich einzufangen? Schämen sollte die Anni sich, daß ihre Haare noch röter wurden, als sie es ohnehin schon waren, und Sommersprossen sollte sie bekommen, daß man vor lauter Sprossen überhaupt nichts mehr von ihrem Gesicht sah. Aber schlecht und verdorben, wie die Anni es sein mußte, würde die wohl leider gar nicht daran denken, sich irgendwie zu schämen, sondern sich sicher noch für sehr brav und tugenhaft halten.

Na, die Bravheit war ja aber ein sehr dehnbarer Begriff, und erst recht alles, was Tugend und tugendhaft hieß.

Darüber hatte sie letzthin auch einmal irgendwo etwas gelesen, wie hieß das doch noch? Ach so, richtig, nun fiel es ihr wieder ein, es lautete: Die Tugend ist der Charakter der Unversuchten. Es gibt keine hungernde Tugend, auch dann nicht, wenn man statt nach Brot nach Liebe hungert.

Über das Wort hatte sie sich damals schon gleich geärgert, als sie es las, das war ganz gewiß nicht wahr, denn im Gegensatz zu der Anni, die, wie sie zufällig wußte, trotz ihrer roten Haare ganz kalt und leidenschaftslos war, war sie selbst bisher immer tugendhaft geblieben, immer, und doch wußte sie ganz allein, was sie des Nachts zuweilen durchmachte, wenn die Natur in ihr erwachte.

Wirklich, sie war immer tugendhaft geblieben, sie hatte auch noch nie Ehefallen ausgestellt, schon weil sie dafür zu stolz war. Aber vielleicht war gerade das mit einer der Gründe, daß sie immer noch keinen Mann hatte. Aber ehe sie sich mit List und Tücke einen einfing, eher geschah sonst was. Lieber blieb sie bis an ihr Lebensende eine alte Jungfer, nein, das auf keinen Fall. Eher gab sie sich einem Mann in freier Liebe, das selbst auf die Gefahr hin,m daß sie einem Zwillingspaar das Leben schenkte, und daß ihre Mutter und ihre Tanten und Basen deshalb eine Serie von Schlaganfällen bekämen. Aber nein, beschloß sie gleich darauf, das würde sie doch nicht tun, dazu würde sie leider Gottes im entscheidenden Augenblick doch zu feige sein, und dafür hatte sie ihre Mutter, die sich ohnehin mit ihrer Gicht manchmal kaum rühren konnte, denn doch zu lieb, um ihr auch noch einen Schlaganfall zu besorgen. Nein, solange ihre Mutter noch lebte, mußte sie ganz tugendhaft bleiben, wenigstens das, was die Welt so nannte.

Wenigstens das, was die Welt so nannte! Das war die Hauptsache, darauf kam es einzig und allein an, daß die Welt, ja, daß selbst die besten und intimsten Freundinnen nichts davon erfuhren, wenn man einmal auch nur ein ganz klein wenig von dem schmalen Weg der Tugend und der Tugendhaftigkeit abwich. Aber um alles verheimlichen zu können, mußte man so schlau, so gerissen sein, wie die Anni es gewesen war, denn die hatte ihren Männerfang so heimlich betrieben, daß keine von ihnen allen etwas davon merkte, und das wollte viel heißen, denn selbst der gerissenste Detektiv kann keinen Verbrecher, den er überführen und hineinlegen will, schärfer und unauffälliger beobachten, als die jungen Mädchen es gegenseitig auf den Bällen und bei sonstigen Gelegenheiten tun. Da paßt jede haarscharf auf die andere auf, damit nur ja keine einen ernstlichen Bewerber findet, bevor sie nicht selbst einen an der Hand und für alle Fälle einen zweiten in der Reserve hat, denn gerade die glühendsten Verehrer kneifen bekanntlich am leichtesten und am schnellsten, wenn sie nur vermuten, daß sie auf das Standesamt gehen sollen, und wenn sie doch endlich dahin gegangen waren, sollte es häufig genug vorkommen, daß es ihnen schon am Morgen nach der Hochzeit leid tat. Aber dann war es zu spät für sie, um den Schritt rückgängig zu machen, und glücklicherweise blieb den Männern ja auch kein anderer Weg, um ein junges Mädchen der Gesellschaft, das ihre Sinne lockte und reizte, besitzen zu können.

Aber so gräßlich das auch alles war und so fürchterlich dieses Wort „besitzen” in diesem Sinne klang, es ging nun einmal leider nicht anders. Geheiratet mußte mit oder ohne Liebe werden, und auch sie nahm sich jetzt fest vor, nun wirklich bald verheiratet zu sein, obgleich sie sich leider eingestand, daß ihre Vorsätze allein ihr auch in Zukunft nichts helfen würden, denn zum Heiraten gehörten leider immer zwei.

Ob sie vielleicht doch aufhörte, so tugendhaft zu sein, wie sie es bisher war, um einen Mann zu bekommen? Aber wo hörte die Tugendhaftigkeit auf, und wo fing die Untugendhaftigkeit an? Das war eine schwere Frage, über die sie gern einmal mit jemandem gesprochen hätte, aber mit wem? Mit ihrer Mutter? Unmöglich. Die hätte ihr als Antwort darauf einen Abschnitt aus der Bibel vorgelesen, und sich einer ihrer besten Freundinnen anzuvertrauen, wagte sie erst recht nicht, denn nur ganz große Dummköpfe waren mit dem, was sie einer Freundin anvertrauten, aus der unter tausend Fällen eintausendzweihundertmal später eine Todfeindin wurde, noch weniger vorsichtig als ein gerissener Gauner mit dem, was er auf Befragen dem Untersuchungsrichter anvertraute.

Na, vielleicht bot sich ihr über kurz oder lang so oder so einmal Gelegenheit, mit irgend jemandem über das Wort und über den Begriff „Tugend” und „Tugendhaftigkeit” zu sprechen. Und die bot sich ihr schon viel schneller, als sie es gedacht hatte, kaum vierzehn Tage später, als eine ihrer Freundinnen, Käthe Erlholz, ihren Geburtstag feierte und bei der es am Nachmittag natürlich einen großen Kaffee mit unendlich viel Kuchen und anderen Herrlichkeiten gab. Mehr als zehn junge Mädchen waren zu diesem Kaffee geladen und saßen essend, plaudernd, lachend und übermütig beisammen, sprachen zwischen dem Essen und Trinken von diesem und jenem, bis plötzlich eine fragte: „Kinder, was sagt ihr denn nur zu dem scheußlichen Verbrechen, von dem gestern in der Zeitung stand?” Und als sie die erstaunten Gesichter der andern bemerkte, fuhr sie fort: „Ja, habt ihr das denn gar nicht gelesen? Da ist eine junge Verkäuferin, die ihre in der Nähe wohnenden Eltern besuchen wollte, auf dem Wege durch den Wald von einem vorläufig noch unbekannten Strolch überfallen und geschändet worden. Ja, vielleicht hätte der Kerl sie hinterher auch noch ermordet,. wenn ihre beständigen Hilferufe nicht schließlich doch noch gehört worden wären. Das Mädchen soll über die ihr widerfahrene Schande beinahe verrückt geworden sein und hat nur mit Gewalt davon abgehalten werden können, ins Wasser zu gehen, zumal es, wie die Zeitung ausdrücklich erwähnt, bisher völlig einwandfrei brav und tugendhaft gelebt hat.”

Nein, davon hatten die andern zufälligerweise alle nichts gelesen, und plötzlich fiel es ihnen auch ein, warum nicht. Sie hatten gestern in der Zeitung nur danach gesucht, ob immer noch nicht der wegen Erkrankung bereits zweimal abgesagte Vortragsabend eines sehr beliebten Mitgliedes des Stadttheaters angezeigt wäre, und als sie die Annonce wieder nicht fanden, hatten sie das Blatt enttäuscht aus der Hand gelegt, ohne sich für das, was es sonst noch brachte, irgendwie zu interessieren.

Nun aber wurde das scheußliche Verbrechen von allen, ohne daß sie darüber den Kaffee, die Schokolade, die Kuchen und die Torten vergessen hätten, sehr eingehend besprochen, bis eins der jungen Mädchen fragte: „Sagt mal, Kinder, was meint der Berichterstatter wohl damit, wenn er schreibt, die Verkäuferin hätte bisher stets völlig einwandfrei, brav und tugendhaft gelebt? Was er darunter im allgemeinen versteht, kann ich mir natürlich allein denken. Das soll selbstverständlich heißen, sie hätte vorher noch nie mit einem Mann intim verkehrt, aber der Ausdruck ‚völlig einwandfrei, brav und tugendhaft’ ist mir zu hoch, denn an den Storch hat sie doch sicher nicht mehr geglaubt, und geküßt und poussiert haben wird doch auch sie sicher schon nach Noten. Überhaupt, was heißt denn eigentlich brav und tugendhaft?”

Lotte mußte an sich halten, um ihre Freude nicht zu verraten, daß diese Frage eben gestellt wurde. Nun war sie mehr als neugierig, was die Freundinnen darauf antworten würden, und die erste Antwort ließ auch nicht lange auf sich warten, denn Berta Kleinpaul meinte plötzlich in das allgemeine Schweigen hinein: „Brav und tugendhaft sein, heißt, nicht den armen Teufel heiraten, den man von ganzem Herzen liebt, sondern den reichen alten Lappenschlot, den die Eltern nur deshalb für ihr Kind ausgesucht haben, weil er eben so fürchterlich reich ist. Tugendhaft sein, heißt, nicht der Stimme des eigenen Herzens, sondern der Vernunft der Eltern folgend,” und aus ehrlichster Überzeugung setzte sie hinzu: „Pfui Teufel!”

„Aber warum denn so tragisch, Berta?” neckten die Freundinnen sie. „Es gibt doch auch noch andere lustigere Definitionen,” und im bunten Durcheinander riefen sie jetzt: „Tugendhaft sein, ist die größte Dummheit, die ein Mensch jemals begehen kann.”

„Tugendhaft sein heißt die Kunst, sich nie erwischen zu lassen und sich schon, bevor man den sogenannten Pfad der Sünde und der moralischen Verworfenheit betritt, eine glaubwürdige Ausrede zu erfinden, mit der man sich später, wenn man wider alles Erwarten doch ertappt wird, herausschwindeln kann.”

„Tugendhaftigkeit ist die Kunst, sich zur richtigen Zeit noch harmloser und noch dümmer stellen zu können, als es, Verzeihung für das harte Wort, selbst die Mütter und gerade die zuweilen sind.”

„Tugendhaft sein ist die Klugheit, stets pünktlich auf die verlangte Minute wieder nach Hause zu kommen und dort, wo man angeblich gewesen sein will, auch tatsächlich stets, wenn auch nur für einen Augenblick, gewesen zu sein, damit man jederzeit sein Alibi nachweisen kann.”

„Die Tugendhaftigkeit verlangt es, wenn man nach Hause kommt, sich als erstes stets den Mund zu waschen, damit die Mutter es bei dem Kuß, den man ihr gibt, nicht merkt, daß man kurz vorher einen Herrn küßte, dessen Lippen nach Zigaretten oder nach Zigarren schmeckten.”

„Tugendhaft sein heißt, immer dann rot und verlegen werden zu können, wenn die Tanten und Verwandten es erwarten, daß man es wird.”

„Tugendhaft ist, die Mutter, ohne dabei hellauf zu lachen, endlich um Aufklärung zu bitten, woher denn eigentlich die Kinder kommen.”

„Tugendhaft sein heißt, zuweilen in der Bibel lesen, ohne dabei, wenn auch nur ganz zufällig, gerade die Stellen aufzuschlagen, die ein wohlgesittetes junges Mädchen nicht lesen darf.”

„Tugendhaft sein heißt, von ‚Nixchen’, ‚Alraune’, den ‚Unverstandenen Frauen’, dem ‚Vampir’ und ähnlichen Büchern, die man in- und auswendig kennt, noch nie etwas gehört zu haben.”

Eine jede hatte eine andere Erklärung bereit, manche sogar zwei und noch mehr, nur Lotte hatte sich bisher absichtlich nicht an der lebhaften Debatte beteiligt, und das fiel schließlich auf, so daß man sie jetzt halb lachend, halb ernsthaft fragte: „Na, Lotte, du hast wohl deine geheimen Ansichten über den Punkt, daß du dich gar nicht äußerst?”

Mit ihren hübschen Augen blickte Lotte die Freundinnen verwundert an, bevor sie mit vorwurfsvoller Stimme meinte: „ihr wißt doch ebensogut wie ich, daß ich keinerlei Geheimnisse vor euch habe, warum sollte ich euch da wohl meine Ansicht vorenthalten? Aber ich habe offen gestanden noch gar nicht über die Streitfrage nachgedacht, denn während ihr eure Meinungen austauschtet, beschäftigte mich unwillkürlich ein Wort, das ich letzthin einmal irgendwo las und das da lautete: ‚Die Tugend ist der Charakter der Unversuchten.’”

Es geschah voller Absicht, daß sie diesen Ausspruch zur Debatte stellte, denn sie war mehr als neugierig zu erfahren, was die Freundinnen zu dem sagen und ob die, ebenso wie sie selbst es gleich bei dem Lesen getan, die Wahrheit dieses Wortes anzweifeln würden.

Und das geschah auch, denn nachdem sich alle diese Sentenz einen Augenblick überlegt hatten, brach ein Sturm der Entrüstung und Empörung aus. Alle sprachen in- und durcheinander, denn, so behaupteten sie immer wieder, unversucht wäre doch wohl noch keine einzige von ihnen geblieben, und trotzdem wären sie alle noch tugendhaft. Man könne also sehr wohl in Versuchung kommen und trotzdem vollständig tugendhaft bleiben, während der Schriftsteller mit seinem Wort sicher ganz bestimmt habe sagen wollen, daß jeder, und wohl namentlich jede, an den und an die einmal die Versuchung heranträte, ihr unterläge und damit aufhöre, tugendhaft zu sein, oder wenigstens vorübergehend nicht ganz tugendhaft bleibe.

Das war ein Vorwurf, den sie nicht auf sich sitzenlassen durften, und da eine jede von ihnen eben eingestanden hatte, daß sie schon einmal in Versuchung gewesen sei, hielten sie es nun schon den Freundinnen gegenüber für ihre Pflicht, zu beweisen, daß sie der Versuchung auch widerstanden hätten, und daß sie genau so tugendhaft geblieben wären, wie sie es vorher waren.

Als erste erzählte Kitty Bachaus, ein lustiges, übermütiges, hübsches Mädchen von zwanzig Jahren: „Ich will euch ein Beispiel dafür anführen, daß man tugendhaft bleiben kann und es auch bleibt, selbst wenn die Versuchung noch so riesengroß ist. Ihr wißt, ich war mit meiner Mutter im vorigen Jahr in dem jetzt so leichtsinnigen und so leichtlebigen, aber gerade deshalb so lustigen Bad Zoppot, und ich brauche euch wohl nicht erst zu sagen, daß es dort für die Herren und Damen ein gemeinsames Schwimmbad gibt, soweit man nicht in die offene See hinausschwimmt. Und ebensowenig habe ich wohl nicht zu sagen, daß meine Mutter zuerst bei dem Gedanken, ich wolle mit den Herren zusammen baden, einen Ohnmachtsanfall nach dem andern bekam, die aber natürlich alle nicht echt waren. Nur einer sah so aus, als ob er keine Vorspiegelung falscher Tatsachen wäre, aber ganz einwandfrei war der auch nicht, und selbst wenn er echt gewesen wäre, hätte ich mich dadurch nicht umstimmen lassen. Ich hatte es mir fest in den Kopf gesetzt, das gemeinsame Schwimmbad zu benutzen, und ich benutzte es. Und da lernte ich einen ganz reizenden und wahrhaft bildhübschen Herrn kennen.”

„Aha!” warf eine der Freundinnen ganz ernsthaft und sehr erwartungsvoll ein.

„Dieses dein Aha war sehr dumm und überflüssig, Hanni,” schalt Kitty Bachau, „denn daß ich das gemeinsame Schwimmbad nicht aufsuchte, um dort Damenbekanntschaften zu machen, hättest du dir doch eigentlich selbst denken können, und wie hätte auch wohl sonst die Versuchung, von der ich euch erzählen will, an mich herantreten sollen?”

„Ach ja, erzähle,” baten die Freundinnen, aus deren Augen die Neugierde und die gespannteste Erwartung auf ein kleines pikantes Abenteuer sprach. Und das Geburtstagskind meinte: „Wer Kitty jetzt noch einmal unterbricht, der erhält den ganzen Nachmittag kein Stück Kuchen oder Torte mehr.”

„Dann gib mir bitte zur Vorsicht lieber gleich jetzt noch eins,” meinte Hanni, eine auffallend hübsche, schlanke, dunkle Blondine, von zweiundzwanzig Jahren, „denn wenn ich esse und den Mund voll habe, spreche ich ganz bestimmt nicht. Daß man das nicht darf, habe ich schon in der Schule gelernt.”

„Also stopfe ihr schon den Mund, Käthe,” baten die andern, und so schob Käthe der Hanni, damit die nun auch wirklich schwiege, statt des einen gleich drei große Stücke Torte hin.

Gleich darauf erzählte Kitty weiter: „Ich kann euch nur sagen, es war wirklich ein auffallend hübscher, bildschön gewachsener Mensch mit einem klugen, energischen Gesicht, mit wundervollen dunklen Augen, mit schönem dunklen Haar und, wie ich besonders betonen muß, mit einem sehr dichten Schnurr- und Spitzbart. Aber das Schönste an ihm war doch wohl sein kräftiger, muskulöser Wuchs, und bei keinem der andern Herren, die dort im Badekostüm herumliefen, habe ich auch nur annähernd so schöne Beine gesehen. Ja, ich muß offen gestehen, ich hatte bis zu der Stunde immer geglaubt, schöne und verführerische Beine zu besitzen, sei das alleinige Vorrecht der jungen Mädchen.”

„Wollt ihr meine mal sehen?” kaute Hanni mit vollen Backen. „Ich sage euch, die sind nicht von Pappe,” und ehe die andern es hätten verhindern können, legte sie eins ihrer wirklich bildschönen, schlanken Beine, die mit ganz dünnen, hellgrauen, seidenen Strümpfen bekleidet waren, mitten zwischen die Kuchenteller auf den Kaffeetisch, aber sie zog es gleich darauf etwas beleidigt und gekränkt wieder zurück, da niemand ihr den Gefallen tat, es zu bewundern.

„Wie der Herr hieß, tut ja nichts zur Sache,” fuhr Kitty nach dieser abermaligen Unterbrechung fort, „und es ist auch gleichgültig, daß er eigentlich ein Pole war, obgleich er von deutschen Eltern abstammte. Genug, gleich am ersten Tag lernten wir uns kennen, und wir waren fortan täglich zusammen. Wir verabredeten uns zum gemeinsamen Schwimmen, und wenn wir müde geworden waren, gingen wir an den Strand, legten uns in den weichen warmen Sand und ließen uns von der Sonne bescheinen und trocknen. Und wenn wir da nebeneinander lagen, plauderten wir zusammen, der Doktor erzählte mir Geschichten oder etwas aus seinem Leben, und ich kann nur sagen, das verstand er so meisterhaft und so lustig, daß ich oft aus dem Lachen gar nicht herauskam. Aber in der Hauptsache machte er mir selbstverständlich den Hof, und das in einer so reizenden, galanten Weise, daß ich mich dabei tatsächlich immer mehr in ihn verliebte, und da ich ihm schon längst anmerkte, daß er sich auch in mich verliebt hatte, wartete ich täglich darauf, daß er mich bitten würde, mich einmal küssen zu dürfen, obgleich ich mir selbst sagte, daß das eigentlich ein Unsinn wäre, denn solche Küsse erwecken nur Hoffnungen und Wünsche, die sich doch nicht erfüllen lassen. Trotzdem aber hatte ich mir vorgenommen, ihm seine etwaige Bitte nicht abzuschlagen, ja, mich auch gar nicht erst lange zimperlich anzustellen und mich zu sträuben, aber als er mich dann wirklich eines Tages um einen Kuß bat, nein, darum, mich küssen zu dürfen, wurde ich in meinem Vorsatz doch irre, denn wißt ihr, wohin er mich küssen wollte?”

„Natürlich auf den Mund,” rief eine Stimme.

„Ach was, Unsinn,” widersprach eine andere, „dann hätte Kitty sich nachträglich den Kuß nicht erst zu überlegen brauchen. Sicher wollte er sie auf die Augen küssen.”

„Oder auf die Haare.”

„Nein, auf den Hals und Nacken.”

„Oder auf die nackten Füße.”

Die Stimmen schwirrten durchainander, bis eins der jungen Mädchen, wenn dabei auch etwas verlegen und errötend meinte: „Ich weiß, wohin er Kitty küssen wollte, sicher auf ihren hübschen Busen.”

„Du schämst dich wohl gar nicht, Trudel,” schalt eine andere, „warum sagst du da nicht lieber gleich auf die Beine!”

„Und das wäre sogar beinahe richtig gewesen,” stimmte Kitty bei, „denn da ihr es anscheinend allein nicht erratet, will ich es euch nur sagen, wohin er mich küssen wollte — in die Kniekehlen.”

Einen Augenblick herrschte allgemeines Schweigen des Erstaunens und der Überraschung, dann aber hieß es teils ernsthaft, teils unter lautem Gelächter: „Der war wohl nicht ganz bei Trost? Was fiel denn dem ein? Wie kam der nur auf so etwas? Der hatte todsicher einen Ameisenhaufen im Gehirn! Der war wohl aus einer Klapsanstalt ausgerissen?”

„Na, etwas Ähnliches, wenn natürlich auch nicht ganz so Schlimmes, dachte ich im Augenblick selbst,” fuhr Kitty fort, als sich die erste Aufregung gelegt hatte. „Aber als ich mich dann von ihm zum erstenmal in die Kniekehlen hatte küssen lassen —”

„Das hast du getan, Kitty?” unterbrachen alle sie beinahe gleichzeitig, und dabei starrten sie die Freundin an, als sei auch sie geistig nicht mehr ganz normal, bis in das gleich darauf folgende allgemeine Schweigen hinein eine Stimme fragte: „Man soll bekanntlich keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um etwas zu lernen, und deshalb sag' bitte mal, Kitty, wie habt ihr es denn nur angefangen, daß er dich dahin küssen konnte?”

„Aber das war mehr als einfach,” lachte Kitty übermütig auf. „Wenn man ins Wasser geht und wenn man sich hinterher in den Sand legt, trägt man doch nur das ganz kurze Badekostüm, das nicht einmal bis an die Knie reicht. Na und wenn man sich von der lieben Sonne trocknen und erwärmen läßt, legt man sich nicht nur auf den Rücken, sondern man läßt sich auch mal die andere Seite bescheinen. Und damit war ein für allemal die ganz natürliche und einfache Stellung gegeben. Er legte sich neben mich in den schönen, weichen, warmen Sand, und zwar so, daß sein Mund sich in der ungefähren Höhe meiner Kniekehlen befand, und da, als er mich zum erstenmal dorthin geküßt und die Stelle dabei mit seinen dichten, weichen Barthaaren gekitzelt hatte, also da war es mit einem Wort so jeder Beschreibung spottend wahnsinnig schön und aufregend, wie es noch schöner gar nicht gedacht werden kann. Ich kann euch versichern, der Kuß, bei dem der Herr allerdings unbedingt einen Schnurrbart und am liebsten auch noch etwas Vollbart haben muß, geht einem durch und durch, der dringt von den Fußsohlen den Rückenwirbel entlang bis in das Gehirn, und man braucht gar nicht erst Opium zu rauchen, um sich da in dem siebenten Himmel zu fühlen. So schön, so wahnsinnig schön ist der Kuß.”

Und man sah es der hübschen Kitty deutlich an, wie schön der gewesen sein mußte, denn mit ganz verklärten, leuchtenden Augen sah sie vor sich hin, während sie dabei in der Erinnerung leise mit den Zähnen knirschte und während ihre Hände etwas nervös zitterten.

„So schön war es, Kitty?” fragte eine der Freundinnen mit leiser, träumerischer Stimme, die deutlich den Wunsch verriet, auch einmal einen solchen Kuß zu erleben. Die hübsche Hanni aber rief laut und übermütig: „Kitty, ich danke dir, daß du uns das erzählt hast, denn mein Entschluß steht unwiderruflich fest. Wenn ich mich über kurz oder lang, hoffentlich bald, verloben sollte, lasse ich mir den Verlobungskuß nur, aber auch nur in die eine oder wohl am besten in beide Kniekehlen geben, und damit das auch geht, kaufe ich mir gleich morgen ein wahnsinnig schickes Badekostüm, in dem ich ihm, dem Herrlichsten von allen, an dem Tage gegenübertrete, an dem er zu uns kommt, um mich offiziell und in aller Form um meine Hand zu bitten.”

Aber die Freundinnen achteten nicht sonderlich auf das, was Hanni da sagte, sondern hingen, während sie die von Kitty geschilderte Szene am Strand ganz deutlich vor sich sahen, ihren Gedanken, die nicht ganz frei von Neid waren, nach, bevor endlich eine fragte: „Und wie ging die Sache weiter, Kitty?”

„Ja, wie ging es weiter?” wollten nun mit einemmal alle wissen.

Hatten die andern schon vor sich hingeträumt, dann hatte Kitty es erst recht getan. So strich sie sich nun mit der Hand über die Stirn, um sich wieder auf sich selbst und auf die Gegenwart zu besinnen, dann gab sie zur Antwort: „Wie es weiter ging? Weiter ging es natürlich nicht, so groß die Versuchung auch war, und um so größer wurde die, je öfter er mich fortan dorthin küßte, und das tat er oft, und wenn er es doch einmal nicht oft genug tat, verleitete ich ihn dazu, ohne ihn aber deshalb direkt darum zu bitten. Nein, weiter ging es nicht,” fuhr sie mit leiser Stimme fort, „obgleich ich in der Zeit des Nachts kaum geschlafen habe. Ruhelos warf ich mich in meinen Kissen hin und her, denn auch noch in der Nacht, ja dann eigentlich erst recht, fühlte ich seine Küsse, so daß ich oft die leichten Decken von mir werfen mußte, weil ich es vor Hitze nicht aushielt. Ich glaube, mehr als hundertmal ist damals, wenn ich nicht schlafen konnte, die Versuchung an mich herangetreten, ihm noch mehr zu erlauben, als nur diesen sündhaft schönen Kuß. Mehr als hundertmal rief eine innere Stimme mir zu: Geh zu ihm, schenke dich ihm ganz, gib ihm alles, was ein weibliches Wesen einem Mann nur geben kann, wenn seine Sinne nach ihm verlangen. Denk' daran, daß es das Natürliche ist, wenn man seiner gesunden Natur folgt, und daß es dem Körper schadet, wenn man die natürlichen Triebe immer wieder gewaltsam unterdrückt. Alles das und noch vieles andere habe ich mir gesagt, mehr als einmal bin ich aus dem Bett gesprungen, um mich heimlich zu ihm zu schleichen, denn wenn er es auch selbstverständlich nie aussprach, so wußte ich es ja auch ohnedem, mit welcher Ungeduld und mit welcher Sehnsucht er mich erwartete. Doch so schwer es mir auch wurde, ich habe mich beherrscht, ich habe alle Regungen des Blutes unterdrückt, denn ich wollte tugendhaft bleiben, und ich bin trotz der wahnsinnigen Versuchung, die täglich aufs neue an mich herantrat, auch tugendhaft geblieben, ganz tugendhaft!”

Kitty schwieg und blickte abermals traumverloren vor sich hin, und niemand wagte es, sie zu stören, denn aus ihrer Stimme hatte ja deutlich genug hervorgeklungen, was sie alles durchmachte und wie schwer es ihr geworden war, in dem Kampf mit ihren Leidenschaften Siegerin zu bleiben. Alle fühlten aufrichtiges Mitleid mit ihr, und alle bewunderten sie, obgleich eine jede von ihnen ganz genau wußte, oder wenigstens ganz genau zu wissen glaubte, daß sie in dem gleichen Falle ebenso widerstanden haben würde.

Niemand wagte das Schweigen, das auf ihnen allen lag, und das sie darüber nachdenken ließ, wie traurig zuweilen das Los und das Schicksal der jungen Mädchen sei, zu unterbrechen, dann aber fragte schließlich doch eine der Freundinnen: „Sag' mal, Kitty, wenn ihr einander so lieb hattet und wenn ihr euch so nacheinander sehntet, warum habt ihr euch denn nicht verlobt und möglichst bald geheiratet?”

„Aber du Dummkopf,” schalt Kitty, aus dem Reich ihrer Träume erwachend, „ er war doch schon längst verheiratet,”

„Er — war — schon — verheiratet?” wiederholten die Freundinnen ganz gedehnt, mehr als verwundert, mit beinahe tonloser Stimme.

„Aber natürlich,” lachte Kitty übermütig auf, um gleich darauf erklärend hinzuzusetzen: „Wenn er nicht schon verheiratet gewesen wäre, hätte ich ihm als tugendhaftes junges Mädchen doch gerade diesen Kuß nie und nimmer erlauben dürfen, sondern hätte ihm zu verstehen geben müssen, daß er mich erst zu heiraten habe, um derartige Kußgelüste an mir zu stillen. Aber da er, wie gesagt, bereits verheiratet war, konnte ich es ihm ja erlauben, ohne dadurch eine Dummheit zu begehen und ohne dadurch von dem Pfad der Tugend und der Tugendhaftigkeit abzuweichen.”

Auf den unerwarteten Schluß, daß Kittys Verehrer bereits verheiratet gewesen sei, war keine vorbereitet gewesen, und deshalb erschien die Versuchung, die an sie herangetreten, plötzlich allen in einem ganz andern Licht. Da war die also gar nicht so groß, wie sie es zuerst vermuteten, denn allzu ernsthaft hatte Kitty in Wirklichkeit sicher nicht daran gedacht, dem bereits Verheirateten ihre ganze Liebe zu schenken. Ganz anders hätte die Sache gelegen, wenn er noch ledig gewesen wäre, wenn er sie später hätte heiraten wollen und wenn sie mit sich gekämpft hätte, ob sie ihm schon angehören dürfe, bevor sie miteinander auf die Hochzeitsreise gingen.

Das kleine Abenteuer, das Kitty ihnen erzählte, verlor an Reiz und an Interesse, denn ein verheirateter Mann, selbst wenn er noch so eigenartig und noch so verführerisch zu küssen verstand, kam für ein junges Mädchen doch gar nicht ernstlich in Frage, und wie konnte man sich überhaupt nur in einen Mann verlieben, von dem man wußte, daß er zu Hause eine Frau und womöglich gar Kinder hatte? Und daß man als wohlerzogenes junges Mädchen auch nur eine Sekunde daran denken konnte, mit einem verheirateten Mann . . . nein, das wollte ihnen, je länger sie nun darüber nachdachten, um so weniger in den Sinn. Aber sie waren trotzdem gerecht genug, Kitty deswegen nicht zu verurteilen, denn dafür, daß sie sich in ihn verliebt hatte, konnte sie ja nichts. Auch in der Hinsicht waren und blieben die Naturen und die Geschmäcker nun einmal verschieden.

„Kinder, wer erzählt uns nun die nächste Geschichte aus seinem Leben als Beweis dafür, daß die Tugend keineswegs der Charakter der Unversuchten ist?” nahm da die Hanni das Wort, um gleich darauf fortzufahren: „Kitty hat der Versuchung, die an sie herantrat, glänzend widerstanden und ist so tugendhaft geblieben, daß wir in Gedanken nur vor ihr den Hut abnehmen können, aber sie ist ja nicht die einzige von uns, die etwas Derartiges erlebte,” und noch lebhafter werdend, als sie es bei ihrem Naturell ohnehin schon war, setzte sie hinzu: „Kinder, wir sollten eigentlich einen Klub oder etwas Ähnliches gründen und bei jeder Zusammenkunft müßte eine von uns ihre Geschichte erzählen, so ähnlich wie in Tausendundeiner Nacht, nur daß da leider nicht annähernd so viele schöne Geschichten zusammenkämen. Trotzdem aber würde sich das Erzählen sicher verlohnen. Also wer ist jetzt die Nächste?”

„Immer die, die fragt,” riefen ihr die Freundinnen lachend zu.

„Wollt ihr damit etwa sagen, daß ich —” meinte Hanni über und über rot werdend.

„Na, wer denn wohl sonst?” neckten die andern sie.

„Aber gerade ich habe in der Hinsicht wirklich, ich möchte beinahe sagen, leider wirklich noch nichts erlebt,” versuchte Hanni der ihr drohenden Gefahr, beichten zu müssen, zu entgehen, während sie es bereute, vorhin nicht den Mund gehalten zu haben.

„Gerade du hättest noch nichts erlebt, Hanni — so siehst du aus — warum bist du denn da so rot geworden?” rief man ihr zu.

„Bin ich rot?” fragte Hanni mit dem erstauntesten und dem ehrlichsten Augenaufschlag von der Welt. „Dann bin ich es sicher nur, weil ich mich schäme, daß man mich, obgleich ich vielleicht wirklich nicht das allerhäßlichste junge Mädchen in Deutschland bin, noch nie irgendwie in die Versuchung gebracht hat, auch nur einen halben Kubikzentimeter von dem Pfad der Tugend abzuweichen, denn so etwas ist für unsereins doch immer beleidigend und kränkend. Das beweist uns, daß wir den Herren der Schöpfung nicht gefallen.”

„Also rede nicht soviel, Hanni, sondern erzähle lieber,” riefen die Freundinnen ungeduldig, da sie es ihr deutlich anhörten, daß sie sich nur herauszureden versuchte.

„Aber was soll ich denn nur erzählen?” fragte Hanni, sich ganz verzweifelt stellend, bis sie, einem plötzlichen Gedanken folgend, meinte: „Jetzt weiß ich es, ich erzähle euch eine wahre Geschichte, die einmal meiner in Berlin lebenden Freundin, Ella Helmholtz, passiert ist.”

„Ella Helmholtz?” fragten die andern verwundert. „Von der hast du uns ja noch nie gesprochen?”

„Dafür wohnt die doch auch so weit weg, in Berlin,” stellte Hanni sich ganz unschuldig, um gleich darauf ungeduldig und etwas nervös zu fragen: „Wollt ihr nun die Geschichte hören oder nicht? Sonst kann tatsächlich eine andere von euch etwas zum besten geben.”

„Natürlich wollen wir die hören,” riefen die andern ihr zu, „nun fang' schon endlich mal an.”

„Also die Sache war so,” nahm Hanni das Wort. „Vor ein paar Jahren hatte meine Freundin Bella —”

Ein schallendes Gelächter unterbrach sie: „Aber Hanni, vor einer Minute hieß sie doch noch Ella?”

„Dann habt ihr euch verhört, oder ich habe mich versprochen, weil ich sie so lange nicht gesehen und auch so lange nichts von ihr gehört habe,” log Hanni sich mit dem Heldenmut der Verzweiflung heraus. „Im übrigen ist es auch ganz einerlei, wie sie heißt, ob Hella, Bella, Stella, oder sonst irgendwie, denn es kommt ja nicht auf ihren Namen an, sondern einzig und allein auf die Versuchung, in die sie geriet, der aber auch sie ganz tugendhaft, ja noch viel mehr als nur das, widerstand.”

„Da hast du ganz recht, einzig und allein darauf kommt es an und nicht auf den Namen,” stimmten die Freundinnen ihr bei, bis jetzt eine meinte: „Herrschaften, ich habe einen klugen Gedanken, und da schlage ich vor, weil es ja wirklich ganz gleichgültig ist, wer das Erlebnis hatte, daß die Hanni die Geschichte erzählt, als wäre die ihr selbst passiert. Das wirkt lebhafter und lebendiger, als wenn Hanni immer von einer dritten Person spricht und die ganze Geschichte gewissermaßen in der dritten Form zum besten gibt. Seid ihr damit einverstanden?”

„Und ob wir es sind!” riefen lebhaft alle, die die Sprecherin durchschauten und den wahren Grund errieten, weshalb Hanni in der Ichform sprechen sollte, einzig und allein, weil diese Freundin Ella–Bella natürlich gar nicht existierte, sondern frei erfunden worden war, um nicht Selbsterlebtes schildern zu müssen.

Aber ich bin nicht damit einverstanden, wollte Hanni energisch protestieren, aber ihr Widerspruch war überstimmt, noch bevor sie den auch nur mündlich irgendwie hätte zu Protokoll geben oder sonst äußern können. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich dem einstimmigen Beschluß zu fügen, und sie tat es mit den Worten: „Schön, meinetwegen, wie ihr wollt, aber ihr dürft mich nicht dafür verantwortlich machen, wenn ich selbst das kleine Abenteuer vielleicht doch nicht so lebhaft und anschaulich schildern kann, wie es Bella sicher durch meinen Mund vermocht hätte. Also nun hört. Vor ein paar Jahren fuhr ich eines Abends nach München, um dort mit einer Tante zusammenzutreffen, die mich ganz plötzlich telegraphisch aufgefordert hatte, sie zu begleiten, und die sich auch bereit erklärt hatte. die ganzen Reisekosten zu tragen. Schon am nächsten Morgen, gleich nach meiner Ankunft, wollten wir nach Garmisch-Partenkirchen weiterfahren, und so blieb mir, um pünktlich einzutreffen, nichts anderes übrig, als den Nachtzug zu benutzen. Für einen Augenblick dachten wir zu Hause daran, daß ich Schlafwagen fahren solle, aber da ich mich schon einmal während einer langen Fahrt in einem solchen sehr ungemütlich und unbehaglich fühlte, ja mich in dem sogar, ohne selbst recht zu wissen warum, sehr geängstigt hatte, wurde beschlossen, für mich ein Billett erster Klasse zu nehmen und den Schaffner durch ein gutes Trinkgeld zu bestechen, daß er mich die Nacht über auch allein und keine andere Dame in das Abteil hineinließe. Davor, mit keinem Herrn zusammen das Coupé teilen zu müssen, war ich ja schon deshalb sicher, weil ich das Damenabteil benutzte.

Wie wir es zu Hause besprochen hatten, wurde es auch gemacht, die Fahrkarte Erster wurde gelöst, ich wurde in einem glücklicherweise ganz leeren Abteil untergebracht, der Schaffner gelobte, nicht nur alles, was in seinen Kräften stände, sondern noch viel mehr zu tun, damit ich allein bliebe, und damit er auch sein Versprechen hielte, bekam er bei Beginn der Fahrt nur die eine Hälfte des ihm zugesagten Trinkgeldes. Die andere sollte er erst bekommen, wenn er mich bis zum nächsten Morgen wirklich allein gelassen hätte. Damit hatte er sich gern einverstanden erklärt, und pünktlich auf die Minute setzte sich der D-Zug abends um elf Uhr in Bewegung. Ich war allein und wurde bald müde. So machte ich es mir, nachdem der Schaffner den Sitz herausgezogen und mir mein Lager bereitet hatte, etwas für die Nacht bequem. Ich zog mir meine hohen Schnürstiefel aus und vertauschte sie mit ein Paar leichten Lederschuhen, die ich zu dem Zweck in der Handtasche bereithielt, ich nahm den Hut ab, steckte mir mein Haar vor dem Spiegel etwas anders, setzte mir eine leichte Reisemütze auf, öffnete ein paar Knöpfe der Bluse am Hals und löste schließlich die langen Strumpfhalter, damit die mir bei dem Herumliegen und dem etwaigen Herumwälzen auf den Polstern die leider damals schon so teuren seidenen Strümpfe nicht zerrissen, und zog mir statt dessen ein paar runde, seidene Strumpfbänder über, die ich ebenfalls in der Handtasche bereithielt. Dann zog ich die Vorhänge vor die nach dem Korridor gehende Tür und Fenster, machte das Licht dunkel, wickelte mich in meine Reisedecke und schlief bald darauf, jung, wie ich damals mit meinen neunzehn Jahren noch war, ein, denn von den Reisevorbereitungen, die ja Hals über Kopf hatten gehen müssen, von dem Zusammensuchen aller Sachen und von einigen noch unbedingt notwendig gewesenen Gängen und Besorgungen war ich todmüde.

Ich schlief ein und schlief so schön und ruhig, als läge ich zu Hause in meinem breiten, weichen Bett, als ich, ich weiß nicht wann und nach wie langer Zeit, von einem lauten Sprechen draußen auf dem Korridor geweckt wurde. Es dauerte eine kleine Weile, bis ich mich, schlaftrunken wie ich war, wieder auf mich selbst besann, bis mir klar wurde, wo ich mich befand, und bis ich zu erraten versuchte, was da draußen nur los sein könne. Nach und nach kam ich dahinter. Während ich schlief, mußte der Zug auf einer großen Station gehalten haben, es waren viele neue Reisende eingestiegen, die nun in dem mit Ausnahme meines Frauenabteils erster Klasse überfüllten Zug Sitzplätze haben wollten, ohne daß der Zugführer und die Schaffner ihnen die anzuweisen vermocht hätten. Die Stimmen draußen wurden immer lauter. Je ruhiger die Beamten erklärten, es sei alles besetzt, desto bestimmter und energischer behaupteten die neuen Reisenden, wenn kein Platz da wäre, müsse so oder so welcher geschaffen und die einzelnen Abteile müßten einfach stärker besetzt werden, nicht, wie vorgeschrieben, mit sechs oder vier Personen, sondern mit acht und sechs oder noch mehr. Und nicht nur das, plötzlich verlangte einer der Reisenden, der, wie er betonte, eine Fahrkarte Erster hatte, zwar sehr ruhig und höflich, aber trotzdem sehr bestimmt, es solle ihm mein Abteil geöffnet werden, ob das für Damen bestimmt sei oder nicht, wäre ganz einerlei.

Ich hatte mich längst von meinem Platz erhoben, war aufgestanden und hatte mich dicht an die Tür gesetzt, um dem lauten Gespräch da draußen zu lauschen, und zitterte nun begreiflicherweise vor Aufregung, wie der Disput enden und ob der Schaffner wirklich den Herrn zu mir hereinlassen würde, obgleich seine Dienstvorschriften ihm das verboten und obgleich er ja die Hälfte des ihm zugesagten Trinkgeldes verlor, wenn er mir einen Reisegefährten geben würde, während ich gleichzeitig fest entschlossen war, mir seine Nummer zu merken und ihn seinen Vorgesetzten zur Bestrafung zu melden, wenn er dem Drängen des Herrn nachgeben sollte. Daß ich das tun würde, obgleich mir etwas Derartiges sonst wirklich nicht lag, mußte er sich doch selbst sagen, und die Gewißheit verscheuchte meine Angst und meine Furcht. Aber kaum war ich wieder ganz ruhig geworden und wollte mich gerade von neuem hinlegen, als sich die Cuopétür öffnete, und als der Schaffner, nachdem er die vorgezogenen und eingehakten Vorhänge gelöst und beiseitegeschoben hatte, bei mir eintrat, um mir zu melden, daß er sich in einer sehr schwierigen Lage befände und sich allein wirklich keinen Rat wisse. Er erzählte mir, wie ich es schon richtig vermutet hatte, von dem plötzlichen Einsteigen so vieler neuer Reisender, um dann auf sein Anliegen zu kommen, über das er schon mit dem Zugführer Rücksprache genommen und der sich damit für den Fall einverstanden erklärt habe, daß ich unter Berücksichtigung der vorliegenden besonderen Verhältnisse mich freiwillig damit einverstanden erkläre, denn gezwungen werden könne ich, wie er es ausdrücklich betonte, unter gar keinen Umständen, sondern es handele sich lediglich um ein etwaiges liebenswürdiges Entgegenkommen meinerseits, um das mich auch der Herr, der draußen auf dem Korridor stände, sehr, sehr bitten ließe. Und ich erfuhr weiter, daß der Herr ein früherer aktiver Offizier sei, der im Kriege einen Schuß durch den einen Fuß bekommen habe, der ihm die Sehnen derartig zerrissen hatte, daß ihm auch heute, richtiger gesagt, damals noch das stundenlange Stehen nicht nur die größten Schmerzen bereite, sondern ihm auch völlig unmöglich mache. Und bis Nürnberg, wo er aussteigen würde, wären es doch noch mehr als sechs Stunden. Ob ich diesem Offizier nicht erlauben könne, in meinem Abteil Platz zu nehmen, er ließe mir ausdrücklich sagen, er würde mich in keiner Weise stören, sondern alles tun, was nur irgendwie in seiner Macht stände, damit ich von seiner Anwesenheit so wenig wie nur möglich merke.

Was sollte ich tun? Die Erinnerung an den fürchterlichen Krieg, die heute ja leider schon beinahe erloschen ist, lebte damals noch ganz frisch in uns allen, und erst recht die Erinnerung an die entsetzlichen Demütigungen und Kränkungen, denen die Offiziere bei ihrer Heimkehr aus dem Felde seitens des Pöbels ausgesetzt waren. Und ich dachte an die furchtbaren Kämpfe, an die Entbehrungen und Strapazen, die die Offiziere jahrelang für uns, die wir in der Heimat weilten, durchgemacht hatten. Durfte ich da einen, der da draußen für uns alle und damit auch für mich zum halben Krüppel geworden war, stundenlang auf dem Korridor herumstehen lassen, während ich mich selbst bequem auf den weichen Polstern ausstreckte? Und das einzig und allein aus irgendwelcher, mir noch dazu sonst eigentlich ganz fremder Prüderie? Nein, das durfte ich nicht, und mit einemmal begriff ich es gar nicht, wie ich mir das überhaupt noch überlegen könne, denn da gab es nichts zu überlegen, es war ganz einfach meine Pflicht, den Wunsch des ehemaligen Offiziers zu erfüllen.

So erklärte ich denn dem Schaffner, ich sei selbstverständlich sehr gern bereit, dem Kranken einen Platz in meinem Abteil zu überlassen, auch zwei, damit er sich gleich mir lang ausstrecken und es sich bequem machen könne. Der Beamte ging, nachdem er sich bei mir bedankt, um den Reisenden, in dem ich mir, ohne selbst zu wissen warum, einen verabschiedeten alten Hauptmann oder Major vorgestellt hatte, zu holen, der denn auch gleich darauf bei mir eintrat. Aber als er es tat, da bedauerte ich es doch beinahe, meine Zusage gegeben zu haben, denn einen so geradezu auffallend hübschen und so tadellos gekleideten Herrn, der zu meinem Erstaunen, aber auch zu meinem Entsetzen, über dessen Ursache ich mir allerdings auch nicht klar zu werden vermochte, höchstens Ende der Zwanzig sein konnte, habe ich weder vorher noch bis zum heutigen Tage jemals wieder gesehen. Vorbereitet, wie ich auf das Erscheinen eines Fünfzigers gewesen war, verwirrte mich sein Anblick, daß ich ganz deutlich fühlte, wie ich rot und so verlegen wurde, daß ich von allem, was er mir sagte, um sich bei mir zu bedanken, während der Schaffner sein sehr vornehmes und elegantes Handgepäck in das Netz legte, nur seinen Namen und von dem eigentlich deutlich auch nur seinen Vornamen Karl Albrecht verstand. Und der verwirrte mich noch ganz besonders, weil der mich an einen lieben Jugendfreund erinnerte. Aber zum großen Teil lag meine Befangenheit ihm gegenüber wohl auch mit daran, daß ich mich, wie schon erwähnt, wenigstens teilweise in Nachttoilette befand. Was sollte er, der so korrekt angezogen war, nur von mir denken, die ich ihm in absatzlosen, weichen Lederschuhen und nicht einmal hübsch frisiert gegenüberstand? Und zu meinem Entsetzen fiel mir auch plötzlich ein, daß ja nicht einmal meine Bluse ganz zugeknöpft war! Das holte ich natürlich schnell nach, während er glücklicherweise so ritterlich war, mir unterdessen den Rücken zuzukehren, um sich an seinem Handgepäck zu schaffen zu machen, bis er mich bat, mich durch seine Anwesenheit wirklich in keiner Weise stören zu lassen, da er ja sonst mit Rücksicht auf mich gezwungen würde, das Abteil wieder zu verlassen.

Das aber wollte ich senetwegen auf keinen Fall. So legte ich mich denn wieder hin, während er selbst sich gleich darauf auf seinen Polstern ausstreckte, und zwar so, daß unsere beiden Köpfe nur durch den schmalen Gang im Coupé getrennt, nicht an der Tür, sondern an den großen Fenstern dicht beieinander lagen. Hätte ich das gewußt, daß er sich so hinlegen würde, hätte ich mich auf meinen Plätzen anders häuslich eingerichtet, nun aber war es dafür zu spät, denn es wäre mehr als auffallend und geradezu unhöflich gewesen, wenn ich mich noch nachträglich umquartiert hätte. Liegenbleiben mußte ich also schon, aber ich sah es voraus, daß ich nicht mehr würde schlafen können, dazu störte mich sein Gesicht so dicht bei dem meinen zu sehr und seine Nähe, nicht nur die seines hübschen Kopfes, die ganz plötzlich allerlei dumme Gedanken in mir wach werden ließen, an denen wohl auch die heiße, eigentümliche Luft, die des Nachts ja in jedem Coupé herrscht, ihr Teil dazu beitrug. Und dazu kam noch etwas anderes, der ganz eigenartige, aber alles andere als unangenehme Geruch, der von seiner großen, anscheinend noch ganz neuen Reisetasche aus Juchtenleder ausging. Und zum Überfluß hatte er selbst ein zwar absolut nicht aufdringliches und auch nicht starkes, aber gerade deshalb äußerst angenehmes und sehr schönes Parfüm an sich. Genug, eins kam zu dem andern, um mich wachzuhalten und um mich ganz dummen Gedanken hinzugeben. Ich stellte mir nämlich plötzlich vor, wie es wohl später sein würde, wenn ich erst verheiratet wäre und wenn Nacht für Nacht der Kopf eines Mannes, meines Mannes, so dicht neben dem meinen läge, ja sogar noch dichter, denn dann würden die beiden Betten doch unmittelbar nebenein­anderstehen, kein noch so schmaler Gang würde sie wie jetzt trennen, schon damit wir, um einander küssen und um uns die Hand drücken zu können, nicht erst gezwungen wären, aus dem Bett zu klettern. Und warum soll ich es verschweigen, ich stellte es mir in der Stille der Nacht und in der eigentümlichen Atmosphäre, die mich umgab, auch vor, wie es wohl sein würde, wenn wir später in der Ehe, mein Mann und ich, so dicht beieinander lägen und wenn es nicht nur bei dem Händedruck und auch nicht nur bei dem Kuß bliebe. Gewiß, für ein braves tugendhaftes, junges Mädchen gehören sich solche Gedanken nicht, aber —”

„Aber die haben wir doch alle von Zeit zu Zeit, Hanni,” versuchte man die Sprecherin zu beruhigen, und eine der Freundinnen rief ihr ermutigend zu: „Aber, Hanni, deine Empfindungen und Gedanken kannst du doch ruhig in aller Ausführlichkeit schildern, denn es sind doch nicht deine eigenen, sondern die deiner Freundin Ella-Bella.”

„Wieso die der Ella-Bella?” fragte Hanni ganz erstaunt, damit noch deutlicher als bisher schon verratend, daß sie ein eigenes Erlebnis schilderte. Aber dann besann sie sich schnell wieder und meinte: „Ja, richtig, die der Ella. Das kommt davon, wenn ich statt in ihrem Namen, in meinem eigenen berichten muß. Aber trotzdem, viel ist von ihren oder von meinen Gedanken da nicht mehr zu sagen, denn was man sich in solchem Falle alles denkt, wißt ihr ja allein. Und ich dachte es mir sehr lang und ausführlich, gleichsam in allen Einzelheiten. Ich sah mich mit meinem Mann auf der Hochzeitsreise, ja sogar in der Hochzeitsnacht, und ich hätte Eiswasser in den Adern haben müssen, wenn mich das alles hätte ganz kalt lassen sollen. Statt dessen geriet mein Blut immer mehr in Wallung, und soviel Mühe ich mir auch gab und so sehr ich mich auch zu beherrschen versuchte, um ruhig und still liegenzubleiben, es gelang mir nicht. Ich warf mich bald auf die eine, bald auf die andere Seite, bald auf den Rücken, und unter der Reisedecke wurde mir so warm, daß ich sie am liebsten von mir geworfen hätte, aber dann würde er sicher geglaubt haben, ich hätte sie verloren und womöglich wäre er aufgestanden und hätte mich ganz fest wieder in die Decke eingewickelt, damit sie mir nicht zum zweitenmal herunterfiele.

‚Aber Sie schlafen ja gar nicht, gnädiges Fräulein,’ erklang da mitten hinein in alles das, was ich empfand und durchmachte, seine weiche, angenehme und sympathische Stimme, und da ich aus ihrem Klang einen Vorwurf heraushörte, verteidigte ich mich damit, daß ich ihm zur Antwort gab: ‚Aber Sie schlafen doch auch nicht.’

‚Um mich handelt es sich auch nicht, gnädiges Fräulein,’ erwiderte er, ‚sondern einzig und allein um Sie, deren bisherigen Schlaf ich durch meinen Eintritt in Ihr Abteil unterbrochen habe,’ und ohne daß ich ihn irgendwie gefragt hätte, setzte er hinzu: ‚Es ist zu merkwürdig. Ich habe es im Kriege gelernt, zu jeder Zeit schlafen zu können. Wenn ich es wollte, hat mich draußen im Felde selbst das stärkste Trommelfeuer nicht daran gehindert, aber wenn ich eine Nacht in der Eisenbahn verbringen muß, kann ich, auch wenn ich noch so müde bin, kein Auge zumachen.’

‚Und mir geht es ebenso,’ log ich mutig darauflos, um ihm zu erklären, warum ich immer noch wach läge.

‚Wirklich?’ fragte er halb zweifelnd, halb erfreut, während er sich etwas aufrichtete und während es mir so vorkam, als sähe er mich gespannt an.

‚Ja, wirklich,’ flunkerte ich erneut darauflos, ‚es genügt mir vollständig, wenn ich mich langgestreckt ausruhen kann.’

‚Mir auch,’ stimmte er bei, bis er gleich darauf fragte: ‚Wenn dem so ist, wie Sie sagen, gnädiges Fräulein, und es wäre ja ungezogen von mir, wenn ich das irgendwie bezweifeln wollte, könnten wir da nicht etwas miteinander plaudern, um uns die Zeit zu verkürzen?’

‚Aber gern,’ erklärte ich mich einverstanden, da ich es voraussah, daß ich, solange ich nicht allein sei, doch kein Auge zumachen würde, und weil ich mir sagte: wenn er nachher in Nürnberg ausgestiegen ist, hast du bis München immer noch Zeit genug, den Schlaf, den du jetzt versäumst, nachzuholen.

So kamen wir nach und nach ins Gespräch, aber wir sahen beide, daß es sich im Dunkeln und noch dazu im Liegen schlecht miteinander sprechen ließ. Deshalb richtete er sich nach einigen Minuten ganz auf und setzte sich mir gegenüber, und als er erst saß, dauerte es nicht mehr allzu lange, bis auch ich saß, und damit wir einander auch sehen könnten, erhob er sich und machte das Licht hell. Aber da, als er es getan, schämte ich mich wieder, so wenig hübsch auszusehen. Deshalb bat ich ihn, für fünf Minuten hinauszugehen, und als er dann wieder zurückkam, hatte ich mich inzwischen zurechtgemacht, die häßliche Reisemütze abgenommen, mir die Haare anders aufgesteckt und die zwar bequemen, aber alles andere als hübschen Lederschuhe mit ein Paar kleinen Lackschuhen vertauscht, die ich in meiner großen Handtasche bei mir hatte, und ich entschied mich für die, weil ich noch keine Lust verspürte, mir schon wieder die hohen, etwas schweren Stiefel anzuziehen. Ich hatte mich so hübsch gemacht, wie es unter den obwaltenden Umständen nur ging, und daß und wie sehr ich ihm gefiel, merkte ich, als er zurückkam, an dem Aufblitzen in seinen hübschen stahlblauen Augen noch mehr als an den Schmeicheleien, die er mir in reizender Weise sagte. Dann aber hielt er sich anscheinend für verpflichtet, mir nicht nur mit Worten dafür zu danken, daß ich seinetwegen, wie er es nannte, grande toilette gemacht habe, denn er holte einen seiner Handkoffer herunter und entnahm dem wundervolle Schokolade, herrliche Pralinés, eine Flasche süßen Likörs und nicht minder schöne leichte Zigaretten. Ich ließ mir die Herrlichkeiten, die er auf dem kleinen Platztisch am Fenster aufgebaut hatte, prachtvoll schmecken, während er mir erzählte, daß er Mitinhaber einer großen Schokoladenfabrik sei, und während er mich gleichzeitig um Erlaubnis bat, mir später, wenn ich erst von meiner Reise zurück wäre, eine kleine Kiste seiner Herrlichkeiten zur Erinnerung an die gemeinsame Fahrt und als Dank dafür, daß ich ihm einen Platz in meinem Coupé eingeräumt habe, schicken zu dürfen. Das war die erste Versuchung, die an mich herantrat, und die war, wie ihr euch denken könnt, keine kleine, denn wer von uns verkauft unter Umständen nicht sogar sein Seelenheil für ein Paket der schönsten Schokoladen und Pralinés, denn sicher hätte er mir doch nur die allerschönsten geschickt. Aber während ich mich noch über sein Anerbieten freute, fragte ich mich gleich: Was werden die Eltern wohl sagen, wenn die Sendung ankommt? Die werden dann in allen Einzelheiten wissen wollen, wo und wie ich seine Bekanntschaft machte und wie er dazu käme, mich derartig zu beschenken. Und wenn ich dann erklärte, ich wäre die ganze Nacht hindurch allein mit ihm in demselben Abteil gefahren, würden sie mich derartig ausschelten und mir solche Vorwürfe machen, daß mir darüber jede Freude an seinen Süßigkeiten verlorenginge. Und nicht nur das, schlecht, oder wenigstens mißtrauisch, wie die Eltern es nun einmal leider alle sind, würden sie sagen: Daß ihr zusamen gefahren seid und daß du ihm einen Platz überließest, ist doch für ihn noch kein Grund, dir so viel zu schicken, sicher ist sonst noch etwas zwischen euch geschehen. Und als ich diese Vorwürfe der Eltern ganz deutlich im voraus zu hören glaubte, da wünschte ich mir plötzlich, es möchte wirklich etwas geschehen, ja, da hoffte ich sogar, daß etwas geschehen möge und daß wir uns nicht nur miteinander unterhalten würden. Damit aber stand auch sofort mein Entschluß fest, sein freundliches Anerbieten abzulehnen, denn er sollte nachher nicht einen Augenblick glauben dürfen, ich hätte mich etwa nur deshalb von ihm küssen lassen, weil er mich beschenken wollte, und er durfte natürlich erst recht nicht auf die Vermutung kommen, er müsse mir um so mehr Schokolade und Pralinés schicken, je öfter und je lieber ich mich von ihm küssen lassen würde. So erfand ich denn eine kleine Ausrede, um seinem Dank für den ihm eingeräumten Sitz zu entgehen, aber als er mich bat, ihm meinen Namen zu nennen, damit er meiner stets in aufrichtigster Dankbarkeit gedenken könne, hatte ich ja eigentlich keinen Grund, ihm den zu verschweigen, aber ich war im letzten Augenblick doch so schlau, ihm vorsichtshalber einen falschen zu sagen, denn wenn es nachher wirklich zum Küssen zwischen uns kommen sollte, brauchte er nicht zu wissen, wen er in Wirklichkeit geküßt hatte, schon damit er das nicht etwa bei irgendeiner Gelegenheit seinen Freunden weitererzählte. Ja, ich trieb die Vorsicht so weit, daß ich ihm, als er mich fragte, in welcher Stadt ich wohne, eine falsche angab und daß ich ihm, als er sich im weiteren Verlauf des Gespräches nach meinem Reiseziel erkundigte, auch nicht sagte, daß ich nach Garmisch-Partenkirchen ginge, sondern daß ich ihm vorschwindelte, ich würde gleich morgen früh mit einer Verwandten für längere Zeit nach St. Moritz fahren.

Dann plauderten wir weiter miteinander, er erzählte mir von seinen vielen Reisen, die er teils zu seiner Erholung, teils aber auch geschäftlich nach der Schweiz unternommen habe, er sprach mir von St. Moritz, das er ganz genau kannte, er empfahl mir diesen oder jenen lohnenden Ausflug, und während wir uns miteinander unterhielten, aß ich Schokolade und Pralinés, trank zwischendurch von dem prachtvollen Likör und rauchte eine Zigarette nach der andern, bis er mit einemmal meine Hand, die ihm seine Zigarettendose hinschob, ergriff und an seine Lippen führte.

Und bald darauf zeigte sich wieder einmal die alte Wahrheit: Von der Hand bis zum Mund ist immer nur ein lächerlich kleiner Schritt.

Wie es zu dem ersten Kuß kam, vermag ich bei dem besten Willen nicht anzugeben, zumal ich euch ja nicht mein, sondern Ella-Bellas Erlebnis schildere. Aber kurz und gut, mit einemmal war der erste Kuß da, und dem folgte sehr bald der zweite. Und dann küßten wir uns in immer kürzer werdenden Zwischenräumen, denn ich schien ihm zum mindesten ebensogut zu gefallen, wie er mir gefiel, und das Alleinsein, die absolute Gewißheit, daß keiner uns stören würde, die Sicherheit, daß keiner uns auch nur sehen könne, da er gleich bei seinem Wiedereintritt alle Vorhänge erneut vor die Tür und vor die Fenster gezogen und sie mit den Ösen an den Knöpfen befestigt hatte, die eigenartige Luft, die in dem Raum herrschte, der Genuß des Likörs, das und manches andere trug dazu bei, unsere Kußstimmung zu erhöhen. So küßten wir uns, und je öfter wir es taten, desto heißer und leidenschaftlicher wurden die Küsse, und die erreichten ihren Höhepunkt, als ich mich auf seine Bitten hin, nein, das ist nicht wahr, als ich mich, da ich zu schwach war, der Kraft seiner starken Arme zu widerstehen, auf seinen Schoß gesetzt hatte und als er seinen linken Arm um mich schlang und mich mit dem ganz fest an sich preßte. Da habe ich es eigentlich erst erfahren, was es heißt, zu küssen und geküßt zu werden, obgleich ich kein Geheimnis daraus mache, daß ich auch schon bis zu der Stunde nicht ungeküßt durch mein Leben gegangen bin. Aber so wie er hatte mich noch nie einer geküßt, und dabei küßte er mich vollständig normal, nicht so verrückt und extravagant wie der edle Deutsch-Pole, von dem Kitty vorhin erzählte. Er küßte mich nur auf den Mund, aber wie! So, daß ich unter seinen Küssen erzitterte und erbebte, daß Wollustschauer, verzeiht dies häßliche Wort, aber ich weiß im Augenblick kein anderes, meinen Körper durchströmten, daß mein Blut nicht nur raste und kochte, sondern beinahe, nein wirklich überkochte, daß ein Sinnesrausch mich erfaßte wie nie zuvor, daß es mir vor den Augen flimmerte und brauste und daß mein Herz zum Zerspringen laut und stürmisch schlug. Und alles in mir schrie: Gib dich ihm ganz hin, du bist jung, du bist leidenschaftlich, gehorche der Stimme der Natur, die jetzt so deutlich wie noch nie zu dir spricht, gönne deiner gesunden Natur, was sie verlangt, und das kann doch nichts Schlechtes und Verderbliches sein, sonst hätte Gott euch eure Sinne und Leidenschaften sicher nicht gegeben. Schenke ihm alles, was du nur kannst, sei wenigstens einmal in der Hinsicht ganz glücklich, denn wer weiß, ob du es sonst jemals in deinem Leben, wenn du nicht heiratest, noch wirst. Gib dich ihm hin, der dich zum mindesten ebenso stürmisch begehrt wie du ihn. Die Stunde ist so günstig wie noch nie, nütze sie aus und frage nicht danach, was daraus wird, denn wer sich immer und immer von kleinen Bedenken leiten läßt, wer immer das alte Wort befolgt, was du auch immer tust, bedenke das Ende, der kommt nie zum Genuß. Riesengroß trat die Versuchung immer von neuem an mich heran. Drei lange Stunden habe ich der widerstanden, drei fürchterlich süße, schaurig-schöne lange Stunden, die kein Ende nehmen wollten und glücklicherweise auch nur sehr langsam eins nahmen, habe ich durchgemacht. Aber ich habe widerstanden, ich bin tugendhaft geblieben, wie ich es war.”

Hanni schwieg, und alle sahen ihr an, was sie durchgemacht haben mußte und was sie auch während des Erzählens durchgemacht hatte. Ganz blaß war sie geworden, so daß eine der Freundinnen ihr nun eine Tasse des starken Kaffees hinschob und sie mit leiser, teilnahmsvoller Stimme bat: „Trinke mal einen ordentlichen Schluck, Hanni, das wird dir guttun,” und leise und zärtlich streichelte sie ihr die Wangen und die Hände.

Mit ihrer noch vor Erregung zitternden Rechten führte Hanni ihre Tasse an den Mund, und das starke warme Getränk tat ihr wirklich sichtbar wohl. Langsam kehrte das Blut in ihr Gesicht zurück, aber es dauerte doch noch eine ganze Weile, bis sie sich wieder beherrschte und sich ganz wieder in der Gewalt hatte. Dann aber lachte sie plötzlich fröhlich und übermütig auf, bevor sie meinte: „Ja, ja, Kinder, an die Nacht werde ich zurückdenken, solange ich lebe, schon weil ich bei meiner Ankunft in München derartig ausgeküßt war, daß ich der Tante, die zum Empfang auf dem Bahnhof war, nicht den kleinsten Kuß geben konnte. Ich war nur imstande, meine ganz trockenen und völlig leblosen Lippen auf die ihrigen zu drücken.”

„Daß man auch ausgeküßt sein kann, habe ich bis zu dieser Stunde tatsächlich noch nicht gewußt,” meinte lustig eine der Freundinnen. Eine andere aber fragte neugierig, während man ihr deutlich anmerkte, wie Hannis lange, lebhafte Schilderung sie erregt hatte und wie sie sich im stillen wünschte, an ihrer Stelle gewesen zu sein: „Und sonst ist, von dem vielen Küssen abgesehen, nichts, aber auch nicht das geringste zwischen euch passiert, Hanni?”

Die sah die Sprecherin ganz verwundert, aber zugleich auch sehr vorwurfsvoll an, bis sie zur Antwort gab: „Ich habe es doch schon erklärt, daß ich ganz, aber auch ganz tugendhaft geblieben bin, und ihr müßtet mich eigentlich zur Genüge kennen, um zu wissen, daß ich nie lüge, wenigstens dann nicht, wenn es sich nicht gerade um eine Kleinigkeit handelt, bei der wir ja schließlich alle etwas von der Wahrheit abweichen. Nein, ich sprach die ganze Wahrheit, es ist nichts, aber auch nichts geschehen, höchstens noch etwas sehr Komisches,” fuhr sie plötzlich fort, da die Erinnerung daran erst jetzt wieder in ihr wach wurde.

„Und was war das?” erkundigten sich die Freundinnen neugierig.

Hanni wollte sich zuerst halb krank lachen, endlich meinte sie: „Denkt euch mal, als wir in Garmisch ankamen, fehlten mir plötzlich die blauseidenen runden Strumpfbänder, die ich mir im Coupé, als ich noch allein war, über die Knie gezogen hatte. Die muß er mir heimlich zum Andenken an unsere nette Fahrt heruntergezogen haben, ohne daß ich etwas davon merkte. Na, und als mir das klar wurde, freute ich mich natürlich erst recht, ihm nicht meinen richtigen Namen und meinen richtigen Wohnort genannt zu haben.”

Auf ihre letzten Worte ging keine näher ein, sondern alle riefen lediglich lachend und lustig durcheinander: „Aber Hanni, so etwas merkt man doch, wenn einem die Strumpfbänder heruntergezogen werden?”

Mit großen Augen, in denen ein noch größeres Fragezeichen stand, sah Hanni die Freundinnen an, dann meinte sie: „Glaubt ihr? Na, ihr, die ihr hier auf euren Stühlen sitzt und nicht wie ich damals auf seinem Schoß, müßt es ja wissen. Ich habe jedenfalls in dem Sinnesrausch, in dem ich mich befand, nicht das geringste davon bemerkt, und ob ihr das an meiner Stelle getan hättet, wer weiß?”

„Aber da müssen dir doch die Strümpfe heruntergerutscht sein, Hanni,” erkundigte sich eine besonders Neugierige, „denn du hast doch selbst erzählt, du hättest für die Nacht deine langen Strumpfhalter losgemacht, damit sie dir die seidenen Strümpfe nicht zerrissen.”

„Hatte ich auch,” bestätigte Hanni, bevor sie lustig hinzusetzte: „Und wenn ich meine Strümpfe trotzdem nicht verlor, lag das nur daran, daß er, der in solchen Dingen nicht ganz unerfahren gewesen sein muß, mir, ohne daß ich auch davon etwas merkte, die Strumpfhalter wieder festmachte.”

Die Freundinnen lachten fröhlich auf, bis nach einer kleinen Pause eine weiterfragte: „Aber sag' mal, Hanni, wenn er dir so gut gefiel und du ihm, warum habt ihr euch denn da nicht miteinander verlobt? Zeit dafür hättet ihr doch genug gehabt.”

„Das allerdings,” pflichtete Hanni bei, „aber schon bevor es zum ersten Kuß kam, hatte er mir erzählt, daß er seiner alten Mutter, bei der er wohnte, das feste Versprechen gegeben hatte, sich solange sie noch lebe, weder zu verheiraten noch zu verloben, damit er nicht eines Tages mit seiner jungen Frau aus ihrem Hause fortzöge und damit nicht eben diese seine junge Frau sich zwischen sie beide dränge und ihr einen großen Teil seiner Liebe entzöge. Und dafür, daß er mir das gleich von vornherein offen und ehrlich sagte, war ich ihm sehr dankbar, denn sonst hätte ich mich nicht von ihm küssen lassen dürfen und ihn erst recht nicht wiederküssen können.”

„Aber warum das denn nicht?” erkundigte sich eine der Freundinnen, die sie nicht verstand.

„Das ist doch furchtbar einfach,” klärte Hanni sie auf. „Hätte er mich heiraten dürfen und hätte ich mich trotzdem von ihm küssen lassen, dann hätte das so aussehen können, als täte ich es mit schlauer Berechnung, als wolle ich ihn dadurch einfangen und ihn zwingen, sich hinterher mit mir zu verloben. Den Anschein mußte ich aber um meiner selbst willen unter allen Umständen vermeiden, denn das wäre alles andere als tugendhaft gewesen. Das aber wollte ich unbedingt bleiben, und das bin ich auch geblieben.”

Ja, das war sie wirklich! Darin stimmten ihr alle bei, und sie erkannten es an, daß die Versuchung, in der sie sich befunden, viel, viel größer gewesen sei als jene, die Kitty durchmachte, denn die hätte doch erst zu dem Mann, der ihre Leidenschaften entflammte, hingehen oder sie hätte den erst bei sich einladen müssen, und so etwas tat ein wohlerzogenes junges Mädchen nicht, während Hanni viele Stunden der Nacht mit diesem, noch dazu so hübschen Herrn ganz allein und vor jeder Störung und Überraschung sicher gewesen war.

Eine größere Versuchung, als die von Hanni geschilderte, konnte es wohl kaum für ein junges Mädchen geben, aber als eine der Freundinnen das nun äußerte, widersprach eine andere und meinte: „Gewiß muß es für Hanni wahnsinnig schwer gewesen sein, in jener Nacht ganz tugendhaft zu bleiben, aber ich glaube, ich habe einer noch größeren Versuchung widerstanden.”

Doch sie kam für heute nicht dazu, den Freundinnen ihr Abenteuer zum besten zu geben, denn gerade als sie damit anfangen wollte, trat die Mutter des Geburtstagskindes ein, um sie alle in das Eßzimmer zu bitten, wo ein belegtes Butterbrot und ein Glas leichter Bowle für sie bereitstände.

Ganz brav und tugendhaft folgten sie der vorangehenden Hausfrau, die sich aber dummerweise mit an den Tisch setzte, so daß sie sich nun über gleichgültige Dinge unterhalten mußten, bis es endlich Zeit wurde, an den Aufbruch zu denken. Da aber bedankten sich alle immer wieder bei dem Geburtstagskind für den wirklich ganz selten reizenden Nachmittag, ohne sich klarzumachen, daß ihr Dank eigentlich dem Strolch gehörte, der die Verkäuferin im Walde überfiel, denn ohne dessen Schandtat wäre das Gespräch heute ganz gewiß nicht auf ein wenigstens für sie so interessantes Thema gekommen, und ohne den hätten Kitty und Hanni sich sicher nicht verleiten lassen, so intime Szenen aus ihrem Leben zu erzählen. Aber wenn sie alle auch nicht weiter darüber nachdachten, wem sie die heute gehörten Geschichten in der Hauptsache verdankten, so waren sie dennoch sehr froh darüber, daß sie die zu hören bekommen hatten, und fanden es einfach fein, daß Kitty und Hanni die zum besten gaben.

Nur eine beurteilte das wesentlich anders, und das war Lotte, aber sie hütete sich natürlich, das, was ihre Gedanken beschäftigte, ihren Freundinnen anzuvertrauen, während sie mit denen zusammen den Nachhauseweg einschlug, denn die hätten sie entweder absichtlich oder wirklich nicht verstanden. Dafür sagte sie das, was sie den Freundinnen verschwiegen, in aller Ruhe und in aller Ausführlichkeit sich selbst, als sie am Abend in ihrem Bett lag und in dem noch einmal an die Geburtstagsfeier zurückdachte. Und da fragte sie sich immer wieder: wie war es nur möglich, daß Kitty und Hanni so dumm und vertrauensselig hatten sein können, derartig aus ihrer eigenen Schule zu plaudern? Nicht aus dem, was sie erzählten, machte sie ihnen einen Vorwurf, sondern nur daraus, daß sie ihre Erlebnisse nicht für sich behielten. Waren die beiden denn wirklich so jeder Beschreibung spottend dumm und beschränkt, obgleich sie eigentlich sonst gar nicht den Eindruck machten, daß sie tatsächlich an den ewigen Bestand einer Freundschaft zwischen jungen Mädchen glaubten? Die Hälfte von denen, mit denen sie heute zusammen gewesen waren, würden später sicher ihre Feindinnen werden, und was dann, wenn die später, sobald sie beide einmal verlobt sein sollten, anfingen, mit anonymen Briefen, der Spezialität aller ehemaligen Busenfreundinnen, zu arbeiten? Was dann, wenn sie den Verlobten in aller Ausführlichkeit die Episoden schrieben, die Kitty und Hanni ihnen heute anvertrauten? Würden die beiden männlichen Verlobten es nicht vielleicht doch etwas unpassend finden, daß Kitty sich mit solcher Wollust in die Kniekehlen küssen und daß Hanni sich ihre über die Knie gezogenen runden Strumpfbänder stehlen ließ, ohne in dem Sinnesrausch, in dem sie sich befunden, davon auch nur das geringste zu bemerken? Und ob die männlichen Verlobten, wenn sie das erführen, wohl Kittys und Hannis Anschauungen teilen würden, daß sie den Versuchungen, die an sie herantraten, siegreich widerstanden und trotz dieser großen Versuchungen ganz, aber auch ganz tugendhaft blieben? Das kam doch noch sehr darauf an, obgleich der Begriff Tugend und tugendhaft, wie sie es heute nachmittag von neuem gelernt hatte, ja wirklich sehr dehnbar zu sein schien. Aber wie dem auch immer war, sie persönlich vermochte es sich sehr gut vorzustellen, daß die Verlobten von Kitty und Hanni später erklären würden: Was wir da erfahren haben, paßt uns nicht, und wir lösen die Verlobung wieder, schon um nicht unsererseits durch einen Zufall einmal die Herren kennenzulernen, von denen der eine sich bei dir, Kitty, vielleicht nach dem Befinden deiner Kniekehlen erkundigt, während der andere für dich, Hanni, die runden Strumpfbänder aus der Tasche zieht, um sie dir wieder einzuhändigen, da er selbst inzwischen, nach dem Tode seiner Mutter, heiratete, und da seine Frau, die die Strumpfbänder bei ihm in dem Kasten mit den Erinnerungen aus seiner Jugendzeit fand, darauf bestand, daß er sie unbedingt an die frühere Besitzerin zurückgäbe.

Und was dann, wenn diese so lange und so ungeduldig herbeigesehnte und endlich perfekt gewordene Verlobung eines schönen Tages, der aber ganz gewiß für Kitty und Hanni alles andere als schön sein würde, wieder in die Brüche ging? Dann saßen die beiden an den Wassern Babylons und weinten und heulten sich die hübschen Augen aus dem Kopf. Dann würden sie sich die Haare raufen, und eine jede würde sich tausend- und aber tausendmal fragen: Wie konntest du nur so dumm, so mehr als dumm sein, damals auf dem Geburtstag bei Käthe Erlholz so intime Dinge aus deinem Leben zu erzählen? Dann würde die Reue, die bitterste Reue kommen, aber die hatte ja noch nie einem Menschen etwas geholfen.

Na, soviel wußte sie, sie selbst hätte sich nicht nur eher die Zunge, sondern auch die Hacken und die Zehen abgebissen, ehe sie auch nur eine Silbe eines derartigen Erlebnisses den andern anvertraut hätte, bis sie plötzlich darüber nachdachte, ob wohl auch sie an Stelle von Kitty und Hanni so tugendhaft geblieben wäre, wie die es nach deren Ansicht geblieben waren? Besonders die Versuchung, die an Hanni herantrat, mußte riesengroß gewesen sein, aber zum guten Teil hatte die sie ja selbst heraufbeschworen. Natürlich mußte sie unter allen Umständen dem ehemaligen Offizier, der einen kranken Fuß hatte, in ihr Abteil hineinlassen, aber sie bewies ihm doch schon dadurch ein großes Entgegenkommen, daß sie sich im stillen wünschte, die Nacht möge nicht nur damit vergehen, daß sie sich miteinander unterhielten. Und sicher hatte sie ihm auch sonst irgendwie gezeigt oder zu verstehen gegeben: solltest du die Absicht haben, mich zu küssen, dann wirst du da bei mir auf keinen unüberwindlichen Widerstand stoßen.

Nein, sie selbst hätte sich nicht von ihm küssen lassen, oder wenn doch, dann hätte sie sich nie und nimmer auf seinen Schoß gesetzt, oder sie hätte es wenigstens ganz bestimmt gemerkt, falls er auch ihr die Strumpfbänder hätte rauben wollen. Und sie hätte ihm nach dem alten Wort, das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten, einen ganz energischen Klaps auf seine vorwitzigen Finger gegeben und wäre auch nicht eine Sekunde länger auf seinem Schoß sitzengeblieben. Wenigstens war sie im Augenblick fest davon überzeugt, daß sie für ihre Person so gehandelt haben würde, aber sie war trotzdem gerecht genug, Hanni wegen ihres Verhaltens in keiner Weise zu verurteilen, denn wie man sich in einem solchen Falle benahm, konnte ja einzig und allein der Augenblick entscheiden. Und die allerbesten Grundsätze und Vorsätze waren bekanntlich nur, aber auch nur dazu da, um bei der ersten besten Gelegenheit in den Mülleimer geworfen zu werden.

Und sie verurteilte Kitty und Hanni auch schon deshalb nicht, weil sie sich selbst bisher merkwürdigerweise noch niemals in einer ähnlichen oder überhaupt nur in einer ernsten Versuchung befunden hatte. Und sie wußte auch trotz allen Nachdenkens bei dem besten Willen nicht, woher noch jemals für sie eine ernste Versuchung kommen sollte.

Aber dann kam die eines Tages doch, allerdings ohne daß sie die gleich als solche erkannte, denn als sie eines Morgens zum ersten Frühstück erschien, traf sie ihre Mutter in ziemlich verdrießlicher Stimmung an, und zwar, wie sie auf Befragen erfuhr, auf Grund eines Briefes, den sie mit der ersten Post von einer alten, auswärtigen Freundin erhalten hatte. Viele Jahre lang war die ganz verstummt gewesen, so daß die Mutter ganz überrascht war, zu erfahren, daß die überhaupt noch lebte. Nun erinnerte die sich ihrer plötzlich wieder, das aber nur, wie die Mutter es nannte, um ihr einen achtundzwanzigjährigen Neffen auf den Hals laden zu können, der jetzt hier in der Stadt eine Stellung in einem großen Bankhaus erhalten habe, auf die er sich schon deshalb sehr freue, weil er dadurch endlich Gelegenheit fände, sie, die Mutter, von der sie, die Freundin, ihm schon so viel erzählt habe, persönlich kennenzulernen.

Sicherlich, Lotte, hatte ihre Mutter sehr lieb und hielt die aus ehrlichster Überzeugung für eine sehr nette, gute, nur zuweilen etwas beschränkte und altmodische Dame, aber daß ein Herr, der in dem Alter doch sicher kein Kind mehr war, sich sehr darauf freuen könne, sie kennenzulernen, war ihr, falls es sich da nicht um eine leere Höflichkeitsphrase handelte, nicht recht verständlich. Bis ihr der Gedanke kam: Er freut sich angeblich auf die Mutter, weil er sich in Wirklichkeit auf dich freut. Aber nein, sagte sie sich gleich darauf, das doch wohl nicht, denn du kennst die alte Freundin deiner Mutter ja ebensowenig wie sie dich, und wenn die von deiner Existenz überhaupt eine Ahnung hat, vermutet sie natürlich, daß du längst verheiratet bist.

Wie kam der Neffe dazu, sich so auf ihre Mutte rzu freuen? Vielleicht gab der Brief, den die Mutter ihr nur ganz bruchstückweise vorlas, ihr darüber nähere Auskunft, aber als sie sich den nun erbat, um ihn ihrerseits im Zusammenhang von Anfang bis zu Ende lesen zu können, steckte die Mutter ihn rasch in die Tasche und erklärte, er enthielte einige Stellen, die für sie nicht geeignet wären.

Einen Augenblick sah sie die Mutter ebenso verwundert wie vorwurfsvoll an, dann äußerte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Bitte, Mutter, mach' dich in deinen Jahren nicht noch lächerlich und bilde dir in deinem Alter nicht noch ein, in mir anstatt einer erwachsenen heiratsfähigen Tochter einen Säugling zu besitzen.”

Das half. Gehorsam griff die Mutter in die Tasche und holte den Brief hervor, den sie gleich darauf voller Aufmerksamkeit las, wenngleich der sehr breite und ausführliche Anfang sie langweilte. Die alte Freundin erzählte zunächst in aller Umständlichkeit, wie ihr Neffe Benno bereits im zarten Kindesalter seine beiden Eltern verloren, und wie sie und ihr Mann den auffallend hübschen und klugen Knaben zu sich genommen und ihn erzogen hätten, bis diese Aufgabe schließlich allein auf ihr geruht hätte, da ihr lieber Mann bereits vor vielen Jahren, als Benno kaum sieben Jahre gewesen, gestorben sei. Aber so schwierig es im allgemeinen ja auch für eine alte Dame wäre, einen Knaben ganz allein zu erziehen, bei dem Benno sei das keineswegs schwer gewesen, denn einen braveren, artigeren und fleißigeren Knaben als ihn hätte man sich gar nicht vorstellen können. Das Lernen sei ihm spielend leicht gefallen, er habe stets die besten Zeugnisse aus der Schule mit nach Hause gebracht, und auch als junger Student, denn sein von den Eltern ererbtes sehr großes Vermögen hätten ihm das Studium der Rechte erlaubt, hätte er gehalten, was er als Schüler versprochen, und alle seine Examina mit Auszeichnung bestanden, um gleich darauf in die Bankkarriere einzutreten, in der sich ihm auf Grund seiner juristischen Vorbildung eine sehr aussichtsreiche Zukunft böte, obgleich er finanziell so glänzend gestellt sei, daß er es gar nicht nötig habe, etwas zu verdienen, was sie, die Freundin, nochmals betonen wolle, damit sie, die Mutter, nicht etwa glaube, der Benno würde ihr irgendwie auf dem Geldbeutel liegen.

Von dem, was sie bisher gelesen, interessierte es sie höchstens etwas, daß der Neffe Benno so reich war, aber auch das interessierte sie eigentlich nur ganz im allgemeinen. Vielmehr fesselte es sie, was sie auf den folgenden Seiten über Bennos Art und über sein Wesen las, denn die Tante schrieb: „Ich lege Dir, liebe Thekla, meinen lieben Neffen ganz besonders an das Herz und bitte Dich, ihm fortan, da er nun mich entbehren muß, eine mütterliche Freundin zu sein, da er ohne eine solche, trotzdem er bereits achtundzwanzig Jahre ist, nicht leben kann und sich ohne eine solche sterbensunglücklich fühlen würde, denn selbst auf die Gefahr hin, daß Du es mir vorläufig nicht glaubst, bis Du ihm selbst in seine wundervollen klaren, offenen Augen gesehen hast, will und muß ich Dir sagen, daß er glücklicherweise in vieler, und namentlich in sittlicher Hinsicht noch ein ganz reiner, unverdorbener Mensch ist, der sich noch nie in die Gesellschaft schlechter Mädchen begeben hat, und von dem ich weiß, daß er noch nie ein Weib in sündhafter Umarmung berührte. Selbst auf der Universität ist er allen derartigen Versuchungen und Verlockungen aus dem Wege gegangen, obgleich er sich sonst von dem Leben und Treiben seiner Kommilitonen keineswegs ausschloß. Aber auch deren Neckereien haben es nicht vermocht, ihn der Sünde und dem Laster in die Arme zu treiben. Rein, wie er mein Haus verließ, als er die Universität bezog, ist er zurückgekehrt, und er ist auch rein geblieben während der Zeit, in der er nach seiner Rückkehr hier in einem Bankhaus arbeitete und wieder bei mir wohnte. Gewiß ist er hin und wieder des Abends ausgegangen, aber er hat sich nie schlafen gelegt, ohne noch einmal in mein Zimmer zu kommen, um mir den Gutenachtkuß zu geben. Aber am meisten liebte er es, des Abends bei mir zu sitzen, mit mir zu plaudern oder mir vorzulesen. Er zieht den Umgang mit älteren, ja selbst mit alten klugen Damen dem Verkehr mit leichtsinnigen Mädchen vor. Ja, es widerte ihn sogar an, weil es sein sittliches und ästhetisches Empfinden verletzt, wenn er in einem Varieté, das er hin und wieder mit seinen Freunden besuchen mußte, eins dieser Mädchen kaum bekleidet auf der Bühne tanzen sah, oder wenn er es mit anhörte, wie ein solches leichte und schlüpfrige Lieder sang. Auch aus dem Verkehr mit gleichaltrigen Kameraden macht er sich nicht allzuviel, weil deren Unterhaltung, wie er mir einmal gestand, als ich ihn überreden wollte, doch öfter auszugehen, sich meistens um Unanständigkeiten und um Zoten drehe, wie er das nannte, ohne daß ich ihn zu fragen wagte, was er unter dem letzten Ausdruck verstände. Trotz alledem aber hat mein Benno in keiner Weise etwas Weibisches oder auch nur Unmännliches an sich, im Gegenteil, er ist ein großer, sehr hübscher Mensch, der den Sport liebt, den er auch auf der Schule und auf der Universität getrieben hat, um seinen Körper zu kräftigen und zu stählen.”

Auf mehr als drei engbeschriebenen Seiten gab die alte Tante ein ganz ausführliches Bild ihres Neffen, und als Lotte dieses Bild zu Ende gelesen hatte, stand es für sie fest: Entweder war dieser Benno ein Trottel mit Eichenlaub und Schwertern zum Halse heraus, oder er war ein ganz gerissener Junge, ein mit allen Hunden Gehetzter und ein mit allen Wassern Gewaschener, der seiner Tante aus irgendwelchen Gründen nicht nur blauen Dunst, sondern blaue Dunstwolken vorgemacht hatte, damit sie ihn, er allein mußte ja wissen warum, für den Mustermenschen hielt, der er in Wirklichkeit gar nicht war. Und je länger sie über ihn nachdachte, desto mehr kam sie zu der Erkenntnis, daß namentlich in der heutigen Zeit ein Mensch, wie die Tante ihn geschildert hatte, gar nicht existieren könne. Wo gab es heute noch einen erwachsenen Menschen von achtundzwanzig Jahren, noch dazu, wenn er über große Mittel verfügte, der auf der Universität und später in der Großstadt gelebt hatte, und der noch so rein und so unverdorben war wie vor vielen Jahren, als er in seinen Windeln in der Wiege lag? So etwas gab es in ganz Europa, im heutigen Deutschland aber ganz gewiß nicht, und der Benno wr totensicher kein Heiliger, sondern allerhöchstens ein scheinheiliger Mucker. Aber wenn er das war, und daß er das sei, bezweifelte sie schließlich keinen Augenblick, dann wollte sie ihm gleich von Anfang an offen erklären, daß ihr alle Heuchler und Mucker aus tiefster Seele verhaßt wären, und sie wollte ihm ferner gleich sagen, daß, er wenigstens im Verkehr mit ihr seine Maske fallen lassen müsse, wenn ihm etwas daran gelegen sei, daß auch sie, und nicht nur ihre Mutter, mit ihm gut Freund würde.

So sah sie, je länger um so mehr, der Ankunft des Neffen und seinem ersten Besuch voller Ungeduld entgegen, die noch wuchs, als sich, wie seine Tante auf einer kurzen Karte meldete, seine Abreise im letzten Augenblick noch beinahe um volle acht Tage verzögerte, bis er dann doch endlich ihrer Mutter seinen Antrittsbesuch machte, bei dem er, wie sie es ihm anmerkte, nicht gerade angenehm davon überrascht zu sein schien, daß er nicht nur eine alte Dame, sondern auch sie antraf und sie auch in Zukunft, wenn er wiederkam, antreffen würde, denn er hatte, wie er gleich darauf bekannte, von ihrer Existenz bisher tatsächlich keine Ahnung gehabt, da seine Tante, die sich ihrer wohl nicht mehr erinnerte, ihm nie von ihr gesprochen hatte, was aber, wie er in liebenswürdiger Art sofort hinzusetzte, selbstverständlich alles andere als Unhöflichkeit gewesen sei. Ja, die Worte klangen in der Betonung, die er ihnen gab, wirklich sehr liebenswürdig, obgleich Lotte genau zu wissen glaubte, daß die ihm nicht einmal aus dem Herzen kamen. Er machte überhaupt einen sehr wohlerzogenen und sehr netten Eindruck, ganz abgesehen davon, daß er mit seiner großen, schlanken, eleganten Figur, mit seinem offenen, bartlosen Gesicht, mit seinen wirklich wundervollen, klaren Augen ein sehr hübscher Mensch war, wenn auch vielleicht nicht ganz so männlich wirkend, wie die Tante behauptete, denn seine glatten, weichen Wangen, die von einem zarten Rot gefärbt waren, hatten ein ganz klein wenig etwas Frauenhaftes. Dafür war der Druck seiner kräftigen, aber dabei wohlgeformten und wohlgepflegten Hand, mit dem er sie begrüßte, sehr fest und energisch gewesen.

Wohl eine kleine Stunde dehnte er seinen Besuch aus, bevor er sich verabschiedete, um, wie er es sagte, hoffentlich bald einmal wiederkommen zu dürfen, und da, als sie mit ihrer Mutter wieder allein war, und namentlich, als sie bald darauf ihr Zimmer aufsuchte, um in aller Ruhe über ihn nachdenken zu können, fragte sie sich abermals beständig von neuem: Ist er nun ein Heuchler, ist er ein Mensch, der sich bis zur Meisterschaft verstellen kann, oder ist er tatsächlich so, wie die Tante ihn schilderte? Darufhin hatte sie ihn, während er ihr bei seinem Besuch gegenübersaß, unentwegt angesehen, aber so sehr sie sich auch Mühe gab, ihre Blicke in sein tiefstes Innere hineingelangen zu lassen, es war ihr nicht gelungen, ihn zu durchschauen und sein wahres Wesen zu erkennen. Und so drängte sich ihr erneut die Frage auf: War es tatsächlich möglich, daß ein so hübscher Mensch wie er, den doch sicher schon viele Mädchen zu gewinnen und zu erobern versucht hatten, und in dessen gesundem und kräftigem Körper doch sicher die Natur auch schon oft gesprochen haben mußte, ja, war es tatsächlich möglich, daß ein erwachsener Mensch seines Alters bis zu dieser Stunde, ohne auch nur ein einziges Mal zu straucheln und zu fallen, durch die Welt gekommen war? Sicher der Sport, den er sehr lieben sollte, unterdrückte die Leidenschaften und die sinnlichen Wünsche, und es war eine bekannte Tatsache, daß die Leute, die den Sport berufsmäßig betrieben, wie alle Boxer, Ringkämpfer und ähnliche, alles, was geschlechtliche Liebe hieß, aus ihrem Leben ausgeschieden hatten, es ausscheiden mußten, wenn sie die starken Männer bleiben wollten, die sie waren. Aber er betrieb den Sport doch nur nebenbei, und allzuviel Zeit konnte er dem sicher auch nicht widmen. Was also war sein wahres Wesen, und wenn er bisher so keusch und so rein, wie seine alte Tante das verrückterweise nannte, gelebt hatte, warum tat er es? Hatte er es sich in den Kopf gesetzt, später ebenso keusch und rein in seine Ehe zu treten, wie seine spätere Frau es tun würde, vorausgesetzt, daß sie es tat und daß nicht auch sie schon ihr Erlebnis hinter sich hatte, wie die Kitty und die Hanni und wie die andern Freundinnen, die schon aus persönlicher Eitelkeit darauf brannten, bei der nächsten besten Gelegenheit die große Versuchung, der sie tugendhaft widerstanden, zum besten zu geben.

Der Wunsch, ihn zu durchschauen oder die Wahrheit über ihn zu erfahren, wurde um so größer in ihr, je mehr sie in den folgenden Tagen über ihn nachdachte und je klarer ihr dabei wurde: Er verstellt sich, alles an ihm ist Heuchelei, auch seine anscheinend nicht sehr angenehme Überraschung, dich bei seinem ersten Besuch kennenzulernen und in Zukunft bei seinem Wiederkommen mit deiner Anwesenheit rechnen zu müssen. Auch das war Verstellung, das erst recht, er wollte in Gegenwart der Mutter nur nicht zeigen, wie er sich freute, sie kennenzulernen. Wäre es anders gewesen, hätte er nicht in so liebenswürdiger Weise, aus der beinahe, nein, ganz deutlich ein Ausdruck seines Bedauerns hervorklang, betont, daß seine Tante ihm nie von ihr gesprochen.

Trotzdem, ganz sicher war sie ihrer Sache noch lange nicht, und da durchzuckte es sie plötzlich: Um aber sicher zu werden und um Gewißheit über ihn zu erlangen, wirst du ihn auf die Probe stellen, und zwar, sobald er einmal wieder zu euch kommt. Doch nein, entschied sie sich gleich darauf, da würde sich ihr keine Gelegenheit bieten, ihr Vorhaben auszuführen, sondern sie mußte damit warten, bis die Mutter ihn einmal zum Abendessen eingeladen hatte, bei dem sie beide dann aber nicht mit der Mutter allein sein durften. Die mußte noch möglichst viele andere Gäste einladen, und sie wußte auch sofort welche, lauter alte Damen, die Benno angeblich so liebte und in deren Kreis er sich, wie die Tante schrieb, stets besonders wohl fühlen sollte. Lauter alte Damen mußten eingeladen werden, die allerältesten sogar, die ihre Mutter nur kannte, und wenn sie dann an der Seite ihrer Mutter die Gäste empfing, von denen ganz bestimmt keiner unter fünfundsechzig Jahre alt war, dann mußte er doch Gefallen an ihr finden und sich ihr gegenüber verraten, noch dazu, wenn sie sich für ihn so hübsch angezogen hatte, wie sie es zu tun sich in diesem Augenblick vornahm.

Aber als die kleine Abendgesellschaft, zu der acht alte Damen im Gesamtalter von über fünfhundert Jahren geladen waren, auf ihr Betreiben hin schon in der nächsten Woche stattfand, und als er, der in einem untadelhaften Smokinganzug wahrhaft blendend aussah, zwischen ihrer Mutter und ihr an der hübsch gedeckten Tafel Platz genommen hatte, denn sie hatte die Tischordnung absichtlich so bestimmt, damit sie ihrer lieben Mutter jederzeit helfen könne, wenn bei der Bewirtung der Gäste irgend etwas fehle, und damit sie die Wünsche und die etwaigen Anordnungenn, die ihre Mutter ihr geben würde, gleich aus nächster Nähe hören könne, ja, da verriet er sich leider in keiner Weise, und dabei hatte sie sich doch, von ihrer wunderhübschen Frisur angefangen bis herab zu den Fußspitzen, so hübsch und so verführerisch für ihn angezogen, wie sie es mit Rücksicht auf die alten Damen nur immer konnte. Sie trug sogar ihre am tiefsten ausgeschnittene Bluse, die ihn, wenn er es nur wollte, sehr viel Verlockendes ahnen lassen konnte, aber er schien leider absolut nicht zu wollen, denn er gönnte ihrem verführerischen Dekolleté nicht den leisesten Blick, und auch ihre Hoffnung, nein, ihre feste Erwartung, daß er es unter dem Tisch versuchen würde, eine, wenn auch nur ganz kleine und intime engere Fühlung mit ihr zu gewinnen und zu suchen, ging nicht in Erfüllung. Und doch hatte sie es ihm, ohne daß er es allerdings wohl ahnte und vermutete, so leicht und so bequem wie nur möglich gemacht, sich ihr zu nähern. Ganz dicht hatte sie ihr Knie an das seine und ihren Fuß ganz dicht an den seinen herangeschoben. Aber es geschah nichts, nicht das geringste.

Und auch als man endlich vom Tisch aufstand — hätte sie geahnt, daß die Sitzung derartig ergebnislos für sie verlaufen und so langweilig werden würde, hätte sie der Mutter ganz gewiß nicht zugeredet, so viele Gerichte zu geben und sich solche Unkosten zu machen —, ja, auch als man vom Tisch aufstand, um im Zimmer nebenan, nicht wie sonst auf Gesellschaften Kaffee und Likör, sondern Tee zu trinken, auch da kümmerte er sich in keiner Weise um sie. Er machte ihr, obgleich sich ihm Gelegenheit dazu bot, da sie ihm auf seine Bitten hin ein Album zeigte, nicht das leiseste Kompliment über ihr Aussehen, er drückte ihr nicht einmal leise und verstohlen die Hand, als ihre Finger sich bei dem Umwenden eines Blattes berührten, und als der Tee in seinem weiteren Verlauf so ekelhaft ästhetisch wurde, daß er den alten Schachteln auf ihren Wunsch hin aus Goethe und ähnlichen veralteten und überlebten Dichtern, allerdings mit schönem Vortrag, etwas vorlas, da schien er es gar nicht zu bemerken, daß und wie verführerisch sie ihm gegenübersaß, und es schien ihm auch ganz zu entgehen, wie sehr gerade sie, wenn auch mit großer Verstellung, leuchtenden Auges und mit verklärten Zügen an seinen Lippen hing. Und selbst, als es um die elfte Stunde zum Aufbruch kam, hatte er bei der Verabschiedung nicht das kleinste und nicht das leiseste vertrauliche Wort für sie, obgleich sie ihn noch einmal in das Eßzimmer bat, damit er, der bisher nicht rauchte, sich jetzt wenigstens, ehe er nach Hause ging, noch eine Zigarette anzünde. Aber auch dieses kurze Alleinsein mit ihm ging ergebnislos für sie vorüber. Nur eine traurige Erkenntnis, an der ihr im Augenblick allerdings gar nichts lag, obgleich es doch der Zweck des Abends für sie gewesen war, die Wahrheit über ihn zu erfahren, nur eine traurige Erkenntnis brachte ihr diese kurze Minute, daß er tatsächlich der keuche Josef war, als den seine Tante ihn in ihrem Brief geschildert hatte.

Aber wenn er das auch war und wenn er das ihretwegen auch ruihig sein konnte, er hätte sie, das einzige heute abend anwesende junge Mädchen, nicht so vernachlässigen, sie nicht derartig als kaum vorhanden, ganz einerlei, ob absichtlich oder nicht, übersehen dürfen. Es hätte sich gehört, daß er ihr, wenn auch nur aus leerer Höflichkeit, eine Anerkennung über ihr hübsches Äußere sagte oder wenigstens über die hübsche Art, in der sie die kleine Tafel deckte, denn daß sie das getan, hätte er sich doch denken können. Und wenn sie es auch gern tat, gerade für das, was man mit Freuden tut, erwartet man nun einmal ganz besonders ein Wort des Dankes oder des Lobes. Und als er vorlas, hätte er gerade ihr, der er doch anmerken mußte, wie sie unter dem Bann seiner Kunst stand, einmal leise und verstohlen zunicken oder ihr einen Blick zuwerfen müssen, der ihr gesagt hätte: Auch wenn die andern es natürlich nicht ahnen und es auch nicht zu wissen brauchen, ich lese doch nur, aber doch nur für dich.

Das und noch vieles, vieles andere sagte sie sich, als sie sich schlafen gelegt hatte, ohne allerdings vorläufig an das Einschlafen zu denken, denn dazu war sie viel zu erregt und verärgert. Ja noch mehr, sie war über ihn empört, und deshalb beschloß sie nun, ihn bei der nächsten besten Gelegenheit für die Nichtachtung oder für die Nichtbeachtung, die er ihr heute gezollt, irgendwie zu bestrafen. Aber wie sollte sie einem Menschen, der sich so wenig aus einem hübschen jungen Mädchen machte, wie er, zeigen, daß sie ihm sehr ernstlich böse war, und daß er es gründlich bei ihr verschüttet hatte? Darauf fand sie keine Antwort, und doch hatte er irgendeine Strafe verdient. Aber welche?

Da kam ihr ein Gedanke, und mit diesem trat nun plötzlich doch auch noch an sie die Versuchung heran. Eine ganz andere als die, die Kitty und Hanni kennengelernt hatten, aber darum eine nicht minder große, ja eine vielleicht noch viel größere, denn sie selbst mußte bei dem, was sie vorhatte, nicht nur wie die beiden andern ganz, aber auch ganz tugendhaft, sondern sie mußte bei dem auch für ihre Person ganz kalt und leidenschaftslos bleiben, obgleich das gerade ihr bei ihrem Temperament nicht leicht fallen würde, vorausgesetzt, daß es ihr gelang, seine Sinne und Leidenschaften für sie zu entflammen und die doch sicher auch in ihm schlummernde, nein, vorläufig anscheinend ganz verschlafene, wenn nicht sogar laut schnarchende Natur zu erwecken.

Denn das wollte sie. Das war der Plan, der eben in ihr wach geworden war. Das war die Versuchung, die an sie herantrat, die sie plötzlich lockte und reizte, wie noch nie etwas zuvor. Und das sollte seine Strafe dafür sein, daß er bisher so gar keine Notiz von ihr nahm. Sie wollte ihm beweisen, daß jeder Mann, selbst derjenige, der sich für den tugendhaftesten von allen hält, einem weiblichen Wesen unterliegt und verfällt, wenn das es nur versteht, es geschickt anzufangen. Und dann, wenn sie ihm anmerkte, daß sie seine Leidenschaften erweckt hatte, wollte sie im stillen über ihn triumphieren und sich an dem Aufruhr erfreuen, den sie in ihm hervorgerufen hatte. Und am liebsten würde sie ihm dann auch noch zurufen: Kein Mensch wandelt ungestraft unter Rosen, aber erst recht wandelt kein Mann ungestraft unter jungen Mädchen, denen er deutlich beweisen will, daß sie für ihn nicht existieren.

Ihr Entschluß stand fest, und die Versuchung, die an sie herantrat, wurde immer größer, das auch schon deshalb, weil ihr immer klarer wurde, wie sehr sie ihn haßte, weil er sich so gar nichts aus ihr machte. Sicherlich, sie hatte es nicht darauf angelegt gehabt, im gefallen zu wollen, aber hübsch und klug, wie sie es war, hatte sie es als ganz selbstverständlich angenommen, daß sie ihm gefallen würde. Ja, sie hatte gleich, als sie ihn zum erstenmal sah, als seine hübsche Erscheinung ihren Eindruck auf sie nicht verfehlte, und als sie dann merkwürdigerweise auch daran dachte, daß er in sehr guten Verhältnissen lebte, ja, da hatte sie sich für eine kurze Sekunde gewünscht, er möge sehr bald den Umgang mit ihr dem mit ihrer Mutter vorziehen, damit er sich in nicht zu ferner Zeit in sie verliebe, und sie hatte damals geglaubt, sie selbst würde nicht allzu lange brauchen, um sich ihrerseits auch in ihn zu verlieben. Na Gott sei Dank war die Liebe zwischen ihnen beiden noch nicht erwacht, oder wenn sie unbewußt doch in ihr gelebt hatte, war die vollständig wieder in ihr gestorben, und das war auch sehr gut, denn wie hätte sie sonst daran denken können, seine Natur erwecken zu wollen und dabei ihrerseits ganz kalt und leidenschaftslos zu bleiben? Jetzt aber war sie ihrer Person absolut sicher, und schon deshalb sehnte sie den Tag herbei, der ihr so oder so ein längeres Alleinsein mit ihm schenken würde. Aber wann, wo und wie konnte sie dieses Alleinsein mit ihm herbeiführen?

Darüber zerbrach sie sich tage- und nächtelang vergebens derartig den Kopf, daß sie oft glaubte, der solle, müsse und werde ihr dabei zerspringen, bis ihr dann der Zufall zu Hilfe kam.

Als sie eines Morgens zur Stadt ging, um einige Besorgungen zu machen, traf sie ihn unterwegs auf der Straße, und er sprach sie an, um sie zu fragen, ob es ihrer Mutter wohl passen würde, wenn er am Nachmittag auf eine Stunde zu Tee zu ihr käme, er habe einen langen Brief von seiner Tante erhalten, den er ihrer Mutter gern vorlesen und aus dem er, wie seine Tante ihm auch geraten, das eine und das andere mit ihr besprechen möchte.

Aber natürlich paßte es heute, das stand sofort bei ihr fest. Heute paßte es sogar so jeder Beschreibung spottend glänzend wie noch nie, denn ihre Mutter war für ein Viertel nach fünf zu ihrem Zahnarzt bestellt, den sie unbedingt aufsuchen mußte und aufsuchen würde, um endlich ihre Schmerzen loszuwerden, die sie schon seit längerer Zeit peinigten. Spätestens um halb fünf, wenn nicht schon eher, würde ihre Mutter, da der Arzt weit weg wohnte, fortgehen, und da man bei ihm, der von Patienten überlaufen wurde, selbst wenn man bestellt war, immer wenigstens eine halbe Stunde warten mußte, ehe man an die Reihe kam, und da ihre Mutter, wie der Arzt ihr bei der ersten Untersuchung erklärte, viel an ihren Zähnen zu machen habe, würde es ganz bestimmt ein halb sieben, wenn nicht noch später werden, bis sie zurückkam. Da hatte sie länger als eine Stunde Zeit, um ihn ihren Verführungskünsten auszusetzen, und es würde für sie ja mehr als traurig und beleidigend sein, wenn er ihr in dieser langen Zeit nicht unterliegen würde. Und wenn die Mutter zurückkam und ihn dann noch antreffen sollte, würde sie schon eine Erklärung dafür bei der Hand haben. Dann sagte sie ganz einfach der Wahrheit gemäß, sie hätte es ihr deshalb nicht erzählt, daß er heute zum Tee kommen würde, damit sie nicht etwa seinetwegen den so dringend notwendigen Besuch bei dem Arzt verschöbe, denn die Gesundheit ginge allem andern vor. Und wenn er bis dahin ihren Künsten unterlegen war, und das würde er todsicher sein, dann würde er sie im stillen deswegen ganz gewiß nicht schelten, weil sie heute morgen, als sie sich zufällig auf der Straße trafen, nicht gleich daran gedacht hatte, daß ihre Mutter bei dem Zahnarzt erwartet würde.

Das alles schoß ihr mit der Geschwindigkeit eines elektrischen Funkens durch den Kopf, und so meinte sie denn: „Aber warum sollte es heute nicht passen, wenn Sie zu der Mutter zu einer Tasse Tee kommen? Wir sind doch stets zu Hause. Wann darf die Mutter Sie erwarten?” Und noch bevor er eine Zeit hätte bestimmen können, setzte sie schnell hinzu: „Viellleicht um präzise fünf?”

„Das würde mir sehr gut passen,” pflichtete er ihr bei, und nachdem sie sich noch einen Augenblick mit einander unterhalten und nachdem er sich namentlich bei ihr danach erkundigt hatte, wie ihr der neuliche reizende Gesellschaftsabend im Hause der Mutter bekommen sei, trennten sie sich mit einem „Auf Wiedersehen heute nachmittag”.

Wenn du wüßtest, wie mir der Abend bekommen ist, und was ich mir noch nachträglich an dem ausgeheckt habe, lachte Lotte, nun weitergehend, stillvergnügt vor sich hin. Dann machte sie ihre Besorgungen und unterließ es auch nicht, Teegebäck und kleine Kuchen für den Nachmittagsgast zu besorgen, die sie später schon heimlich in ihr Zimmer schmuggeln würde, denn der Teetisch mußte natürlich hübsch wie immer aussehen, wenn er kam. Und bevor er kam, hatte sie, nachdem die Mutter gegangen war, reichlich Zeit genug, den Tisch zu decken und dem Mädchen in der Küche die nötigen Anweisungen zu geben. Und ferner würde sie, bis es fünf Uhr wurde, noch Zeit genug finden, sich vor dem Spiegel weiter den Blick einzuüben, den sie in den letzten Tagen schon oft geprobt, damit er ihr im richtigen Augenblick auch gelänge, den Blick, den sie auch schon beinahe konnte und mit dem sie in erster Linie sein Blut, falls er überhaupt welches in seinen Adern haben sollte, in Wallung bringen wollte.

Aber natürlich hütete sie sich, diesen sinnberückenden, glühenden und doch eher keuschen als herausfordernden orientalischen Huriblick, wie sie ihn halb ernsthaft, halb übermütig getauft hatte, gleich anzuwenden, als er am Nachmittag, eine kleine halbe Stunde, nachdem die Mutter gegangen war, zum Tee erschien und sich zuerst sehr enttäuscht und verwundert zeigte, ihre alte Dame nicht anzutreffen. Ja er sprach sogar davon, unter diesen Umständen lieber wieder zu gehen und ein anderes Mal zu kommen, aber sie bewog ihn mit Leichtigkeit dadurch zum Bleiben, daß sie auf den Teetisch zeigte, auf dem mit voller Absicht und Überlegung nicht nur für sie beide, sondern auch für die Mutter gedeckt war, und deren große Tasse sie besonders auffällig hingestellt hatte, denn das sollte und mußte ihm beweisen: die Mutter könne jeden Augenblick zurückkommen und würde sicher sehr schelten, wenn sie ihn dann nicht mehr antreffen sollte.

So blieb er, er mußte ja auch höflichkeitshalber bleiben, aber während sie zusammen an dem Teetisch saßen und über dieses und jenes plauderten, stellte sie fest, daß er auch heute leider gar keinen Blick und leider auch gar kein Verständnis für ihr hübsches Äußere habe, und doch hatte sie sich auch heute für ihn geschmückt und sich hübsch und verführerisch gemacht, wenngleich der Umstand, daß er ganz allein als Gast und deshalb natürlich auch nicht im Gesellschaftsanzug gekommen war, es ihr unmöglich gemacht hatte, eins ihre Five o'clock tea-Kleider anzuziehen. Dafür aber trug sie wieder ihre weitausgeschnittene Bluse, und von ihren Röcken hatte sie den gewählt, der es ihm nachher ermöglichen würde, die beste Aussicht auf ihre selbst im Kreise der Freundinnen anerkannt schönen Beine zu genießen. Im Vergleich mit den ihren waren Hannis Beine, von denen sie letzthin renommierend eins auf den Geburts­tags­kaffee­tisch legte, elende, krumme, formlose und verbogene Korkziehergestelle.

Ihre Beine, in den ganz dünnen, durchsichtigen, seidenen Strümpfen, der schöne Ansatz ihres Halses und ihres Busens und nicht zuletzt der mühselig eingeübte, sinnberückend glühende und doch mehr keusche als herausfordernde orientalische Huriblick würden nachher schon ihre Schuldigkeit tun. Deshalb forderte sie ihn auch gar nicht erst weiter auf, doch noch eine Tasse Tee zu trinken und noch mehr von dem Teegebäck zu essen, als er die dritte Tasse, die sie ihm anbot, dankend ablehnte, sondern meinte frisch und lustig: „Also schön, dann wollen wir nebenan unsere Zigarette rauchen,” und damit erklärte er sich auch sofort einverstanden, da er, wie sie wußte, ein leidenschaftlicher Raucher war. Das hatte sie daran gemerkt, daß er, als sie ihm nach dem Gesellschaftsabend im Eßzimmer eine Zigarette anbot, die sofort anzündete und den Rauch beinahe gierig in seine Lungen hineinsog.

„Wollen Sie mir nicht auch heute etwas vorlesen?” bat sie ihn, nachdem sie sich nebenan noch eine Weile weiter unterhalten hatten, mit schlauer Berechnung. und er war sofort bereit, ihren Wunsch zu erfüllen.

So ging sie denn an den Bücherschrank, um einen Band zu holen, aber sie wählte absichtlich nicht Goethe oder einen andern veralteten Klassiker, sondern sie entschied sich für ihren Lieblingsschriftsteller Hermann Löns und schlug in dem Band ihr Lieblingsgedicht auf: Rose-Marie, Rose-Marie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie, doch du hörtest es nie.

Da es ihm noch fremd war, las er es sich erst einmal allein durch, dann begann er mit dem Vorlesen, während sie dabei keinen Blick von ihm abwandte, während sie ihn dabei so ansah, wie sie es sich vor dem Spiegel einstudierte, und während sie mit dem rechten Bein, das sie über das linke gelegt und bei dem der kurze Rock ihr nun gerade noch etwas über das Knie reichte, leise hin und her pendelte, nicht nur, um ihn dadurch etwas nervös zu machen und etwas aus dem Text zu bringen, sondern damit sein Blut anfinge, sich an ihr zu erwärmen.

Aber er bemerkte weder ihre Blicke noch achtete er auf ihre Beine, sondern er las ruhig das Gedicht zu Ende, das er auf ihre Bitte hin wiederholte, um ihr dann aus dem Band noch vieles anderes Schöne vorzulesen, das von der Liebe und von dem Küssen handelte.

Doch seine Stimme, so melodisch die auch klang, blieb dabei ebenso ruhig wie die Hand, die das Buch hielt.

Aber nicht er hatte kalt und leidenschaftslos bleiben sollen, sondern das hatte sie bleiben wollen, um desto sicherer den Sieg über ihn davonzutragen. Statt dessen mußte sie jetzt mit Schrecken merken, wie sie anfing, nicht nur nervös, sondern heiß und leidenschaftlich zu werden, das auch schon, weil es ihr heute noch mehr als bisher auffiel, ein wie hübscher Mensch er war und welchen auffallend verführerischen Mund er besaß. Hatte er mit dem wirklich noch nie ein junges Mädchen geküßt? Dann wollte sie das erste sein, und es lockte und reizte sie von Minute zu Minute immer mehr, sich von diesen Lippen küssen zu lassen und sich an denen so satt zu trinken, daß sie hinterher noch viel ausgeküßter war als Hanni bei ihrer Ankunft in München.

Was sollte sie nur tun, um ihn dahin zu bringen, daß er sie küßte? Hatte sie ihn erst so weit, dann wollte sie ihn schon noch weiterbringen, dahin, daß er bei ihren Küssen jede Selbstbeherrschung verlor, daß seine Natur, die er solange kasteit und gewaltsam bezwungen, mit so elementarer Gewalt erwachte, daß sie ihn wie ein plötzlicher Wirbelwind, nein, wie ein Wirbelsturm erfaßte und alle seine bisherigen Grundsätze über den Haufen warf, daß er nicht mehr wußte, was er tat und sagte, daß er sie an sich riß, sich an ihren Lippen festküßte, daß er nicht nur ihren Mund, sondern ihren Hals, ihren Nacken und den Ansatz ihres Busens, ja vielleicht den Busen selbst mit flammenden Küssen bedeckte, daß er ihr gestand, jetzt wisse er erst, wie unbeschreiblich schön das Leben sei, bis er dann vor ihr auf den Knien lag und sie anflehte, ihm alles zu schenken, was sie ihm nur schenken könne, damit auch er endlich, endlich das höchste Glück kennenlerne. Und wenn er sie darum bat, dann, ja, was dann kam, mußte der Augenblick ergeben.

Jeder Blutstropfen in ihr fieberte und zitterte nach seinen Küssen, und sie mußte die Lippen fest zusammenbeißen, um ihm nicht zuzurufen: Küsse mich, mach' meiner Qual ein Ende, lösche das Feuer, das in mir brennt und mich verzehrt.

Aber anstatt etwas von dem zu bemerken, was in ihr vorging, ohne das anscheinend auch nur zu erraten, las er ihr ein Gedicht nach dem andern vor, so daß sie ihm den Band am liebsten aus der Hand gerissen und ihm den an den Kopf geworfen hätte.

Was sollte sie tun, um ihn dahin zu bringen, daß er sie zunächst wenigstens einmal küßte? Noch verführerischer, noch verlockender konnte sie sich ihm nicht gegenübersetzen. Und noch flammender, noch begehrender und dabei trotz allem noch keuscher konnte sie ihn nicht ansehen!

Was sollte sie nur tun, um ihn dahin zu bringen, wo sie ihn haben wollte, denn sie fühlte, lange würde sie ihre in ihr tobenden Sinne und Leidenschaften nicht mehr beherrschen können. Ob sie ihm vielleicht offen bekannte, wie es in ihr aussah, und ob sie sich — nein, das ging natürlich nicht —, aber trotzdem, was würde er wohl sagen, wenn sie mit einer schnellen Bewegung ihre Kleider abwarf und sich ihm in ihrer ganzen nackten Schönheit zeigte, wenn er sie so sah, wie sie sich so oft vor dem Schlafengehen in der großen Spiegelscheibe ihres Kleiderschrankes, und ihm zurief: So sehe ich aus, an der du achtlos vorbeigehst, für die du auch heute keinen Blick, kein Wort, nicht einmal das stumme Wort eines Kusses hast. Ob er ihr auch dann wohl, ohne irgendwie mit den Händen oder auch nur mit seiner Stimme zu zittern, weiter vorlesen würde?

Wie hatte sie nur so dumm sein können, ihn darum zu bitten, und wie hatte sie erst recht so unbeschreiblich dumm sein können, sich dadurch, daß sie ihn in Versuchung bringen wollte, ihrerseits einer derartigen Versuchung auszusetzen?

Was sollte sie tun, damit nicht sie, sondern damit er unterläge? Sollte, konnte und durfte sie sich vor ihm noch mehr prostituieren, als sie es, ohne daß er allerdings auch nur das geringste davon sah, ohnehin schon tat, denn während sie ihm gegenübersaß, ließ sie nun, wenn auch nur in Gedanken, ein Kleidungsstück nach dem andern fallen und zeigte sich ihm so wie sie war.

Aber er merkte von alledem nichts — aber dann — mit einemmal — sie glaubte ihren Augen und ihren Ohren nicht trauen zu dürfen, da sah sie plötzlich, wie seine Hände anfingen, derartig zu zittern, daß sie kaum noch das Buch halten konnten, sie hörte, wie seine Stimme jede Betonung, ja jeden Klang verlor, und dann, mit einemmal, endlich, endlich, endlich, aber trotzdem für sie, weil sie es nicht mehr erwartet und nicht mehr gehofft hatte, völlig überraschend, sprang er auf, stürzte zu ihren Füßen, um seinen Kopf in ihrem Schoß zu vergraben, und weinte tränenlos vor sich hin, während sein Körper konvulsivisch zitterte und bebte.

Sie mußte an sich halten, um nicht laut über ihren Sieg, den sie davongetragen, zu frohlocken und zu triumphieren, dann aber fragte sie mit anscheinend ganz verwunderter, aber dabei absichtlich leise gurgelnder Stimme: „Aber Herr Benno, was ist Ihnen denn nur?”

Doch er gab darauf keine Antwort, sondern hielt seinen Kopf, den sie nun mit ganz, ganz leisen Händen streichelte, damit seine Erregung sich nicht lege, sondern damit die nur noch wüchse, weiter in ihrem Schoße, bis er dann abermals für sie ganz plötzlich und überraschend, weil sie es wirklich nicht mehr erwartet und erhofft hatte, aufsprang, ihren Kopf mit seinen beiden Händen erfaßte und sie küßte. Nein, nicht küßte, denn das war kein Küssen mehr, das war eher der Biß eines Vampirs, der den letzten Blutstropfen aus ihr heraustrinken und heraussaugen wollte, und während er derartig an ihren Lippen hing, drangen unartikulierte Töne und Laute aus seiner Kehle. Und dabei preßte er sie, die ihrerseits zu ihrem grenzenlosen Erstaunen ihre völlige Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte, mit seinen vom Sport gestählten Armen so fest an sich, daß sie sich kaum in aller Ruhe überlegen konnte: Darfst du dir das als wohlerzogenes, tugendhaftes, junges Mädchen eigentlich alles so ohne weiteres gefallen lassen, oder mußt du ihn nicht wenigstens der Form wegen danach fragen, wie er dazu kommt, sich derartig zu benehmen, denn daß sich so etwas nicht gehört, könnte, nein, müßte er sich doch allein sagen. Und er ließ ihr auch gar keine Zeit, darüber nachzudenken, ob sie ihn vielleicht wiederküssen dürfe oder nicht, denn mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, befahl er jetzt mehr, als daß er bat: „Küsse auch du mich, Lotte, küss' mich!”

Deutlich hörte sie ihm an, in welcher unbeschreiblichen Erregung er sich befand. Da hätte ihr Widerspruch ihn nur reizen, wenn nicht gar in Paroxismus versetzen können, und schon um das zu verhindern, mußte sie ihn wiederküssen, und weil sie glaubte, daß es ihn erfreuen würde, wenn er ihr anmerkte, daß sein Sinnesrausch auch sie ergriffen habe, tat sie ihm den Gefallen und küßte ihn nun auch ihrerseits, wie er sie gebeten hatte. Und bei diesen ihren Küssen erwachten auch ihre Sinne wieder, und zwar nach der kurzen Ruhe, in der sie sich vorübergehend befunden, nur um so wilder und leidenschaftlicher. Und sie küßten sich, bis sie dann plötzlich alles, aber auch alles um sich herum vergaßen.

Schon eine Viertelstunde später waren sie miteinander verlobt, und es wurde zwischen ihnen verabredet, daß die Hochzeit so bald wie nur irgend möglich stattfinden solle.

Ach, sie war ja so glücklich, so unbeschreiblich glücklich, ganz besonders, als ihr Benno ihr erzählte, daß er bisher tatsächlich durch das Leben gegangen sei, ohne ein Mädchen nahe kennengelernt zu haben. Alle andern hätten ihn abgestoßen, aus keiner hätte er sich etwas gemacht, weil in der heutigen Zeit doch leider fast alle jungen Mädchen schlecht und verdorben seien. Auch ihr wäre er, wie er offen gestand, bei dem ersten Kennenlernen mit einem gewissen Mißtrauen entgegengetreten, aber daß sie ganz, ganz anders sei als alle andern, die er bisher kennengelernt, habe ihm heute die hingebende Art bewiesen, mit der sie ihm gelauscht, während er ihr vorlas. Da habe er es deutlich gesehen, wie die Worte des Dichters sie so rührten und ergriffen, daß sie ihre Erregung und Bewegung kaum zu beherrschen vermocht hätte. Sie selbst hätte das wohl kaum bemerkt, aber ihm sei das immer deutlicher aufgefallen, das habe er auch schon an ihrem schweren Atmen gehört. Da sei mit einemmal die Liebe zu ihr über ihn gekommen, die höchste, reine Liebe, aber zugleich auch das Erwachen seiner Natur, das dann aber auch gleich so stürmisch, daß sie einander schon jetzt angehörten für Tod und Leben.

Und als sie ihn fragte, wie es denn aber nur trotz alledem gekommen sei, daß gerade sie, die nie daran gedacht habe, daß gerade sie seine Natur erwecken könne, seine Liebe und seine Leidenschaften entflammt habe, da gab er ihr, sie zärtlich an sich ziehend, zur Antwort: „Ich habe dich so über alles liebgewonnen, Lotte, und gerade du hast meine Natur entfesselt, weil ich deine Tugend und deine Tugendhaftigkeit erkannte, weil ich in deinem Innern wie in dem aufgeschlagenen Buch las, das ich in den Händen hielt, und weil ich erkannte, daß du ebenso rein und keusch bist wie ich.”

Und je länger sie am Abend, als sie nach dem in jeder Hinsicht so aufregenden Tag als glückliche Braut in ihrem Bett lag, noch einmal über alles nachdachte, desto mehr kam sie zu der Erkenntnis, daß ihr Benno die volle Wahrheit sprach, als er sie tugendhaft nannte, denn auch sie hatte das Wort Lügen gestraft: Die Tugend ist der Charakter der Unversuchten. Wie groß, wie riesengroß war für sie nicht die Versuchung gewesen, ihm zu zeigen und zu verraten, wie ihr Herz und ihre Sinne ihm entgegenschlugen? Statt dessen hatte sie sich so beherrscht, daß er ihr lediglich anmerkte, wie die schönen Verse ihres Lieblingsdichters sie rührten und ergriffen. Wie groß war für sie nicht die Versuchung gewesen, schlecht und verdorben oder wenigstens etwas weniger zurückhaltend zu werden, um ihm zu verstehen zu geben, welches Feuer er allein durch seine Nähe in ihr entflammte? Wie groß war nicht die Versuchung, ihn gleich, als er sie zum erstenmal küßte, ebenso stürmisch wiederzuküssen, und wie groß, nein, wie über alles riesengroß war nun nicht erst die Versuchung gewesen, sich ihm schon heute, als sie beide alles um sich herum vergaßen, in ihrer ganzen nackten Schönheit zu zeigen?

Und das waren doch nur einige der vielen, vielen großen Versuchungen, die an sie herangetreten waren. Um sie alle aufzuzählen, war sie zu müde und zu glücklich. Aber schon diese wenigen waren tausendmal größer als die, die an Kitty und Hanni oder an eine der andern Freundinnen herantraten, und sie hatte allen, aber auch allen tugendhaft widerstanden.

Auch sie war tugendhaft, mehr als tugendhaft geblieben. Und nicht nur das, ihr Benno, der sie doch kannte wie kein anderer Mensch auf der Welt, hatte das auch noch ganz ausdrücklich betont und anerkannt.

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© Karlheinz Everts