„Verrückt”

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Simplicissimus”, VII.Jahrgg. Nr. 40, S. 314, 30.Dez.1902,
in: „Nebraska Staats-Anzeiger und Herold” vom 2.6.1905,
in: „Die Fahnenkompagnie”,
in: „Meiers Hose” und
in: „Meine Kabarettgeschichten”


„Na danke, das Wetter kann so bleiben.”

Fluchend und scheltend trat ein Leutnant des Infanterie–Regiments nach dem anderen in die festlich erleuchteten Räume des Kasinos, und jeder, der eben eintrat, erzählte den anderen, die eben eingetreten waren: „Es ist ein Sauwetter.” Das war für Alle keine Neuigkeit, aber weil man keine größere wußte, wurde sie dennoch eifrigst besprochen.

„Na, laßt den Schneesturm toben, so schlimm er will, was geht es uns an,” meinte endlich ein Kamerad, „noch fünf Minuten, dann gehen wir zu Tisch und feiern ein feuchtfröhliches Liebesmahl.”

„Weswegen feiern wir eigentlich heute schon wieder?” fragte ein junger Leutnant, der kleine Platen. „Es sind noch keine drei Wochen her, daß wir in derselben Veranlassung zusammen waren, und heute schon wieder, weshalb?”

Die anderen sahen den Sprecher ganz verwundert an, sie kannten den kleinen Platen, der war schon oft durch seine ganz eigentümlichen Ansichten unangenehm aufgefallen. Nicht etwa, als ob das, was er dachte und äußerte, irgendwie direkt gegen die Anschauungen verstieß, die ein Leutnant als Leutnant nun einmal haben muß, o nein, das nicht, aber er kam den Kameraden doch oft etwas sonderbar, um nicht zu sagen „ein ganz klein wenig verrückt” vor. Auch jetzt wieder: anstatt sich darüber zu freuen, daß es gleich zu Tisch ging, erkundigte er sich mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt, warum denn schon wieder liebesgemahlt wurde.

Der kleine Platen merkte die erstaunten Gesichter, er wurde etwas verlegen und suchte sich zu verteidigen: „Ich meine nur, ich habe heute Nachmittag auf meinem Abreißkalender nachgesehen, da steht: Kaiser Karl :IV. gestorben 1378, W. Hauff, geboren 1802, die französische Armee beendet ihren Uebergang über die Beresina 1812(1) — — — diese Ereignisse feiern wir doch heute gewiß nicht?”

Ein erfahrener Oberleutnant klemmte das Glas ins Auge und sah den Sprecher an: „Junger Freund, es giebt Erinnerungstage, die nicht auf Ihrem Abreißkalender verzeichnet sind, und die doch unbedingt gefeiert werden müssen. Zum Beispiel — — — zum Beispiel — — —” der Herr Ober dachte nach, aber es fiel ihm absolut nichts ein und deshalb fuhr er nach einer kurzen Pause unbeirrt fort: „— — — Außer diesen beiden von mir eben angeführten Beispielen giebt es natürlich noch zahllose andere, aber die Hauptsache ist, das Liebesmahl ist von dem Herrn Oberst befohlen — — — was befohlen ist, wird gemacht, und zwar ohne erst zu fragen: wieso, warum und weshalb. Das nennt man die Dienstfreudigkeit.”

Der Eintritt des Herrn Oberst machte dieser Belehrung ein Ende, eine allgemeine Verbeugung, eine geistreiche Bemerkung des Kommandeurs über das ideale Wetter(2), dann meldete der Kasino–Unteroffizier, daß die Suppe aufgetragen sei. Die Regimentsmusik spielte den Einzug der Gäste auf der Wartburg, die Flügelthüren zum Speisesaal wurden geöfnet, und im langen, feierlichen Zug ging es zu Tisch.

Man mußte der Direktion lassen, sie hatte ein gutes Menu zusammengestellt, mit einem Dutzend holländischer Austern pro Mann und Nase fing die Sache an, und so herrschte gleich zu Beginn der Tafel eine frohe Stimmung. Jeder schwur sich im stillen, den lieben Herrgott wieder einmal einen guten Mann sein zu lassen und gehörig zu feiern.

Nur einer schwur nicht mit, der kleine Platen, der trank nicht einmal Sekt zu seinen Austern, sondern eine halbe Flasche Surius(3).

„Aber Kind, wie kann man nur?” fragte ihn ein Kamerad.

„Warum soll man denn nicht können?” gab er zur Antwort, „ich trinke nur dann Sekt, wenn ich ein frohes Ereignis feiere, aber nur so? — — — das macht mir keinen Spaß.”

Und wieder sahen sich die Kameraden an: wie konnte es jemand nur keinen Spaß machen, egal Sekt zu trinken?

Nach den Austern mit Champagner kam Bouillon mit Sherry, dann Fisch mit Brauneberger Auslese, und dann der Braten mit der Rede des Herrn Oberst auf das schöne Regiment, das zu führen er die Ehre habe, auf sein Offizierkorps, dessen Dienstfreudigkeit über jeden Zweifel erhaben sei, und auf den Kaiser, den obersten Kriegsherrn, das glänzende Vorbild treuester Pflichterfüllung.

Da(4) kam ein dreimaliges Hurra, das dem Kaiser(5), dem Offizierkorps und der eigenen Dienstfreudigkeit galt.

Und dann kam ein Telegramm.

Dieses Telegramm war nicht im Programm vorgesehen, und sein Erscheinen erregte allgemeine Aufmerksamkeit.

„Passen Sie auf,” flüsterte ein Oberleutnant seinem Nachbar(6) zu, „in dem Telegramm steht was drin!”

Und der Herr Ober behielt Recht: in dem Telegramm stand wirklich „was drin”. Das „Was” erfuhr er, als der Herr Oberst jetzt an sein Glas schlug: „Meine Herren, ich erhalte soeben ein Telegramm von der Division. Das Regiment wird morgen früh um sechs Uhr zu einer großen Gefechtsübung gegen die Nachbargarnison ausrücken. In Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen deshalb: trinken Sie nicht zu viel!”

Totenstille folgte diesen Worten, alle waren starr. Der blonde Herr Hauptmann fühlte ganz unwillkürlich nach seinen Zähnen, die er sich erst kürzlich gekauft hatte, und untersuchte sie daraufhin, ob sie auch noch festsäßen, und der dicke Herr Major strich sich über sein Toupé, ihm war es, als ob das Dings ihm plötzlich vom Kopf gefallen wäre. Starres Entsetzen hielt alle gefangen: bei dem Wetter eine große Uebung anzusetzen, das war — — — das war — — — ja, was es war, das konnte niemand so schnell ausdenken, aber auf jeden Fall war es etwas.

Da erklang in das tiefe Schweigen hinein die Stimme des jungen Platen: „Ordonnanz, eine Flasche Sekt!”

Zum Glück hatten die Instrumente der Regimentsmusik in diesem Augenblick die Töne wiedergefunden, die sie vorhin verloren hatten, so setzten sie denn mit einem flotten Marsch ein, sonst hätte der Herr Oberst auch sicher den jungen Leutnant darauf aufmerksam gemacht, daß es mehr als unpassend sei, sich unmittelbar nach der Ermahnung, solide zu bleiben, ostentativ eine Flasche Champagner zu bestellen.

Der Wein kam, und der junge Platen trank das erste Glas mit der Miene eines äußerst vergnügten Menschen.

„Wenn Sie vorhin sauren Mosel tranken, müßten Sie jetzt eigentlich Ricinusöl(7) trinken,” meinte ein älterer Kamerad.

„Da irren Sie sich sehr,” lautete die Antwort, „ich sagte schon vorhin, ich trinke nur dann Champagner, wenn ich ein freudiges Ereignis feiere. Und das ist jetzt der Fall. Ich bin wirklich glücklich über die eingegangene Depesche und feiere die morgige Uebung.”

Dem Kamerad fiel das Glas aus der Hand: „Sie sind verrückt.” Dann wandte er sich an seinen Nachbar: „Platen freut sich auf die morgige Uebung.”

Hätte der Nachbar ein Glas in der Hand gehabt, so hätte auch er es sicher fallen lassen, so aber sagte er nur: „Er ist verrückt.” Dann wandte er sich an seinen Nachbar: „Platen freut sich auf die morgige Uebung.”

Und von Mund zu Mund ging die Kunde, bis sie zu dem Herrn Oberst gelangte. Und alle blickten gespannt auf den Kommandeur, was der wohl dazu sagen würde. Der hob sein Glas: „Ich höre soeben, Platen, daß Sie sich auf die morgige Uebung freuen, das ist brav von Ihnen, das gehört sich auch so. Prosit, lieber Platen!”

Das sagte der Herr Oberst offiziell, er konnte ja auch nichts anderes sagen, dann aber wandte er sich an den Herrn Oberstleutnant, der neben ihm saß, und sagte mit halblauter Stimme: „Er ist verrückt.”

Der Herr Oberstleutnat sagte es seinem Nachbar, und der sagte es wieder seinem Nachbar und von Mund zu Mund ging es abermals: „Er ist verrückt.” Nicht ohne eine gewisse Teilnahme blickten alle auf den jungen Platen, den aber ließ es ganz kalt, was die anderen über ihn dachten und über ihn sprachen, er trank in aller Ruhe seine Flasche leer, und als er sie leergetrunken hatte, bestellte er sich die Zweite, und dann bestellte er sich die Erste zum zweiten Mal, und der zweiten Ersten folgte die zweite Zweite, bis er endlich als Letzter das Kasino verließ, um seine in der Kaserne gelegene Wohnung aufzusuchen.

Als der Bursche wenige Stunden später in das Zimmer trat, um seinen Herrn zu wecken, lag dieser der Länge nach in voller Uniform auf seinem Bett und schnarchte wie sechs Wilde.

„Herr Leutnant, es ist höchste Zeit, die Kompagnie tritt schon an, der Herr Leutnant müssen aufstehen.”

Aber der Herr Leutnant rührte und regte sich nicht.

Der Bursche nahm seinen Ganzen Mut zusammen, er holte tief Atem und schrie seinem Herrn mit der Kraft seiner Lungen ins Ohr: „Aufstehen!”

Jeder Andere wäre mit einem Schrei des Entsetzens in die Höhe gefahren, jedem Anderen wäre erbarmungslos das Trommelfell gesprungen — — — der Leutnant aber öffnete nur für den zehnten Bruchteil einer Sekunde ein Auge denn es fehlte ihm an Kraft, beide aufzuschlagen, und er sagte nur das eine Wort: „Verrückt.”

Gleich darauf schnarchte er weiter, und so mußte das Regiment ohne ihn in den Kampf ziehen.

Als der Herr Oberst davon erfuhr, blickte er lange nachdenklich vor sich hin, dann wandte er sich an seinen Adjutanten: „Der Fall ist schwierig. Wenn der junge Platen sich wirklich auf die heutige Uebung freute und sich in der Freude seines Herzens betrank, dann ist er mit seinem Jammer und damit, daß er nun zu Hause bleiben muß, hart genug bestraft. Hat er aber seine Freude nur geheuchelt, um mich zu täuschen, und hat er sich nur deshalb sinnlos betrunken, um totensicher die Zeit zu verschlafen, dann sperre ich ihn erbarmungslos fünf Tage ein.”

Und nach reilflichster Ueberlegung sperrte der Herr Oberst seinen Leutnant erbarmungslos fünf Tage ein, der er konnte es nicht glauben, daß ein Leutnant thatsächlich so verrückt gewesen war, sich auf die Uebung zu freuen.


Fußnoten:

(1) Hiermit ist der 29.November gemeint. (zurück)

(2) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier: „Schweinewetter”. (zurück)

(3) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier: „sauren Mosel”. (zurück)

(4) In der Buchfassung heißt es hier: „Dann”. (zurück)

(5) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier: „Regiment”. (zurück)

(6) In der Fassung von „Die Fahnenkompagnie” heißt es hier: „Nachbarn”. (zurück)

(7) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier: „egal Rizinusöl”. (zurück)

Außer den änderungen, die in den obigen Fußnoten vermerkt sind, fehlen in „Meine Kabarettgeschichten” die unterstrichenen Textteile.


Oben.jpg - 455 Bytes
zu Schlichts Seite

© Karlheinz Everts