Vom Urlaub zurück.

Von Freiherrn von Schlicht
in: „Simplicissimus”, V.Jahrgg. Nr. 42, S. 334, 8.1.1901,
in: „Indiana-Tribüne” vom 25.4.1901 und
in: „Zurück - marsch, marsch!”


Leutnant von Scholten ist auf Urlaub gewesen. Drei ganze Monate war er fort, nicht zum Vergnügen, ach nein, für derartige Zwecke giebt es nicht so viel freie Zeit — er hatte zur Wiederherstellung seiner Gesundheit auf Reisen gehen müssen, denn bei einm Sturmanlauf war er gefallen und hatte sich den rechten Fuß gebrochen. Lange hat er gelegen und lange ist an ihm herumgedoktort worden — nun ist er wieder ganz gesund und ist freudig in seine Garnison zurückgekehrt. Er liebt seinen Dienst, er freut sich auf das Wiedersehen mit seinen Kameraden und in seiner jugendlichen Phantasie mal er sich es aus, wie alle sich über seine Heimkehr freuen, wie sie ihn begrüßen, wie die Vorgesetzten sich teilnehmend nach einem Befinden erkundigen und wie er, der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, der Held des Tages sein wird.

Als er zu Haus ankam, als er noch nicht einmal den Koffer ausgepackt hatte, erschien schon die Ordonnanz mit dem Parolebuch und überbrachte den Dienst für den morgigen Tag: Vormittags 530 Uhr Antreten der Kompagnie zu dem befohlenen Regimentsexerzieren.

Als der Herr Leutnant das sah, freute er sich, weil er dann alle Vorgesetzten und alle Kameraden mit einem Male wiedersehen würde.

In der denkbar besten Laune betritt er am nächsten Morgen zur befohlenen Zeit den Kasernenhof, sein Oberleutnant ist schon da und sieht den Anzug der Mannschaften nach.

„Na, da sind Sie ja auch wieder,” begrüßt der Herr Ober den jüngeren Kameraden, „aber Sie hätten ruhig fünf Minuten eher kommen können, ohne daß das Ihrer Gesudheit etwas geschadet hätte. Ich habe in Ihrer Abwesenheit so viel Dienst für Sie tun müssen, daß ich nun keine Lust habe, auch jetzt noch Ihre Leute nachzusehen.”

Der kleine Scholten schweigt, aber er denkt sich sein Teil.

Da erscheint der Herr Hauptmann auf dem Kasernenhof. Der Herr Oberleutnant läßt stillstehen und geht dem Häuptling entgegen, um zu melden.

Der Vorgesetzte nimmt die Meldung in Empfang und mustert dann mit scharfem Auge seine Kompagnie, die da so lange stille steht, bis der Häuptling in seiner Gnade „Rührt Euch” zu kommandieren beliebt.

Aber vorläufig denkt der Hauptmann noch nicht daran, seine Augen gleiten immer noch prüfend über die Kindlein, die da vor ihm stehen.

„Herr Leutnant von Scholten,” ertönt da plötzlich die Stimme des Vorgesetzten, „nehmen Sie das linke Ohr etwas tiefer und das Kinn etwas mehr an die Binde heran. Sehen Sie, bitte, einmal auf Ihre Fußspitzen und korrigieren Sie Ihre Stellung. Sie scheinen mir auf Urlaub sehr viel verlernt zu haben. Nachher, wenn das Stillstehen vorüber ist, können Sie sich von Ihrem Flügelmann auch Ihren Helm zurechtrücken lassen, der sitzt Ihnen viel zu weit auf dem linken Ohr.”

Der kleine Scholten schweigt, aber er denkt sich sein Teil.

Endlich wird gerührt, aber kaum haben sich die steif gewordenen Beine wieder etwas gelockert, da überbringt der Adjutant den Befehl des Herrn Majors: „Die Kompagnieen sollen zur Tiefkolonne zusammenrücken.”

„Stillgestanden — das Gewehr über — Bataillon marsch” erfolgt das Kommando und mit den eisenbeschlagenen Kommißstiefeln die Erde stampfend, tritt die Kompagnie an.

Zuerst geht es gerade aus — dann halbrechts — dann wieder gerade aus, dann wieder halblinks und endlich ist die Kompagnie ungefähr da, wo sie sein soll.

Sich in den Bügeln hoch aufrichtend, das gezogene Schlachtschwert in der Hand und gefährlich damit in der Luft herumfuchtelnd, hält der Herr Major an der vordersten Kompagnie und wartet das Eintreffen der letzten ab. Als sie endlich steht, fährt er den Hauptmann an: „Dauert verflucht lange, bis Sie kommen — der kürzeste Weg ist immer der kürzeste, merken Sie sich das, wenn Sie es noch nicht gewußt haben, lange Morgenspaziergänge haben keinen Zweck.” Dann wendet er sich zu den Leutnants: „Aber nun Vordermann, meine Herren, Vordermann — Vor–der–mann. Der zweite Herr muß mehr rechts, noch mehr, noch mehr — aber das ist doch zu viel geworden, mehr nach links — so endlich, der dritte Herr steht, der vierte auch — aber der siebente hat nicht die leiseste Spur von Vordermann — mehr links, noch mehr — noch mehr — Herr in des drei Teufels Namen scheren Sie sich nach links — immer noch mehr. Herr, hören Sie denn nicht — wer ist das denn eigentlich?”

Und seinem Gaul die Sporen gebend, sprengt er auf den Sünder zu, um seinen Namen zu ermitteln.

„Sie also sind's?” herrscht er den Leutnant Scholten an, dann wendet er sich an den Häuptling: „Ach bitte, Herr Hauptmann, üben Sie doch heute mittag, nach dem Einrücken in die Kaserne, mit Ihren Leutnants das Vordermannnehmen — so geht das absolut nicht,” und dann zu Scholten: „Herr Leutnant, wenn Sie sich nun nicht sofort wenigstens einen halben Schritt nach links scheren, werde ich Ihnen s–ehr grob. Verstehen Sie mich?”

Mit klingendem Spiel rücken die Bataillone gleich darauf nach dem großen Exerzierplatz. Die Musik soll die Soldaten für kurze Zeit lustig stimmen und bei den Nichtsoldaten soll sie den Glauben erwecken: es muß doch sehr schön sein, so durch die Straßen der Stadt marschieren zu dürfen.

Aber Glaube macht selig.

Außerhalb der Thore wird „abgeschlagen” und auf der langen Chaussee zieht die Kolonne stumpfsinnig dahin.

Da nähert sich dem kleinen Scholten der Bataillons–Adjutant: „Schön, daß Sie wieder da sind,” redet er den jüngeren Kameraden an — der freut sich, wenigstens einer, der ein freundliches Wort für ihn hat.

„Der Major will Sie nämlich drei Tage lang einsperren lassen,” fährt der Adjutant fort, „als Mitglied der Kasinokommission hat er entdeckt, daß Sie Ihren Kasinorest von sechzig Mark noch nicht bezahlt haben. Bringen Sie die Sache heute mittag nur schnell in Ordnung, sonst giebt es ein Unglück. Aber sonst geht es Ihnen gut?”

Ohne die Antwort abzuwarten, reitet der Adjutant von dannen.

Der kleine Scholten schweigt, aber er denkt sich sein Teil.

Nach einem Marsch von anderthalb Stunden erreicht man den großen Exerzierplatz. — Von der Chaussee geht es zunächst in tiefen, tiefen Sand, so daß man bei jedem Schritt bis an die Knöchel versinkt, dann kommt man auf die „Oase” — den kleinen, mit Gras bewachsenen Fleck Erde, den der Himmel nur deshalb in seiner Gnade geschaffen hat, damit man hier den Parademarsch ausführen kann.

Mit seinem Adjutanten erwartet der Herr Oberst sein Regiment und nachdem der kleine Scholten sich von seinem Hauptmann und dem Herrn Major die Erlaubnis dazu eingeholt hat, tritt er auf den Kommandeur zu und sagt mit lauter Stimme: „Ich melde mich ganz gehorsamst von Urlaub zurück.”

Der Herr Oberst sagt garnichts, sondern legt nur einen Finger der rechten Hand an den Helm: er hat über das auf Urlaub gehen seine besonderen Ansichten und an das Kranksein junger Offiziere glaubt er nicht. Er hat es dem jungen Leutnant persönlich übel genommen, daß er sich den Fuß brach und nach seiner Ansicht hätte das Leiden in acht Tagen wieder gut sein müssen.

Der kleine Scholten macht eine stramme Kehrtwendung und geht zu seiner Kompagnie zurück: er schweigt und denkt sich sein Teil.

Kaum ist er bei seiner Truppe wieder angelangt, da ertönt der Ruf: „Die Herren Offiziere zu dem Herrn Oberst.”

„Hätte ich das gewußt, hätte ich ja gleich da bleiben können,” denkt Scholten; dann werden die Offiziere erst kompagnie-, dann bataillonsweise gesammelt und nähern sich dann erst unter Leitung und Führung ihrer Herren Vorgesetzten dem allgewaltigen Herrn Oberst.

„Das reine Theaterspiel,” denkt ein frecher Leutnant. aber er denkt es auch nur.

„Meine Herren,” sagt der Herr Oberst, „ich habe Sie zu mir gerufen, um Sie zu bitten, mich bei dem Exerzieren ein Jeder an seinem Platz nach besten Kräften zu unterstützen — daß ich mir jede laute Hilfe Ihrerseits, jeden Zuruf an die Leute auf das Energischste verbitte, ist wohl selbstverständlich.”

„Wie sollen wir denn da helfen?” denkt der freche Leutnant wieder, aber er denkt es auch nur.

„Geben Sie sich, bitte, alle rechte Mühe,” fährt der Herr Oberst fort, „es sollte mir Ihret- nicht meinetwegen leid thun, wenn ich einem von Ihnen grob werden müßte. Sie, Herr Leutnant von Scholten, ermahne ich besonders, Sie sind lange fort gewesen, Sie werden viel verlernt haben, strengen Sie sich heute recht an. Entschuldigungen für Fehler, die Sie etwa machen werden, kann ich nicht gelten lassen.”

Der kleine Scholten schweigt, aber er denkt sich sein Teil.

Dann beginnt das Exerzieren und Scholtens Ahnungen gehen glänzend in Erfüllung: er ist der Sündenbock, auf dem der Herr Oberst herumreitet, er macht alles falsch, bald marschiert er zu schnell, bald zu langsam, bald geht er nicht gerade aus, bald wirft er die Beine zu hoch und bald nicht hoch genug. Angeblich nur seinetwegen kann der Herr Oberst mit dem Exerzieren noch nicht aufhören, und als eine Pause eintritt und die Leutnants sich zu einem Gespräch zusammenfinden, sagt der älteste Leutnant zu Scholten: „Möcht' überhaupt wissen, warum Sie zurückgekommen sind — hätten unseretwegen noch gerne fortbleiben können. Im übrigen seien Sie versichert, daß ich heute noch Gelegenheit nehmen werde, mit Ihnen unter vier Augen ein ernstes Wort zu sprechen. Bitte kommen Sie doch heute mittag um fünf Uhr zu mir in meine Wohnung.”

Der kleine Scholten verspürt dazu nicht die leiseste Neigung, aber er muß. Vorläufig schweigt er und denkt sich sein Teil.

Abermals um sechs Uhr kommt Scholten nach der Unterredung mit dem Herrn Ober in seine eigene Wohnung zurück: er ist gebrochen an Leib und Seele.

Trotz der frühen Stunde kleidet er sich aus und legt sich zu Bett: er mag keinen Menschen mehr sehen. Er zieht sich die Decke bis über beide Ohren und laut aufstöhnend seufzt er: „Wenn sonst ein Mensch von einer Reise zurück kommt, freuen sich seine Angehörigen. Kehrt aber ein Leutnant zurück, so freut sich niemand: im Gegenteil, mit offenem Munde harren alle Vorgesetzten seiner, um ihn, sobald sie ihn erblicken, anfahren zu können. Auf Urlaub zu gehen, ist sehr schön — aber vom Urlaub zurückzukommen, ist eine Erfindung, die der Teufel machte, als er sich eines Tages in gegebener Veranlassung in einer wahrhaft grausam schlechten Laune befand.”

Kopfschüttelnd schläft er ein und selbst im Schlafe wackelt sein Kopf beständig hin und her, wie hatte er aber auch nur so dumm sein können, sich auf die Rückkehr vom Urlaub zu freuen?

Er begreift sich selbst nicht mehr.


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© Karlheinz Everts