Zeit- und Unzeitgemäßes
Menschen.

Von Freiherr v. Schlicht.

in: Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland vom 4.August 1926

Ich bin zwar mit dem getreuen Ekkehard(1), der die mit Recht so beliebten Sonntagsplaudereien für die Deutschland schreibt, in keiner Weise verwandt oder verschwägert, trotzdem erhalte auch ich oft Zuschriften oder werde mündlich gebeten, in der Deutschland einmal über dies oder jenes zu schreiben. Und wenn ich da heute nach langer Zeit einmal meine Feder wieder in die Tintentunke tunke, geschieht es auf Veranlassung eines sehr hübschen jungen Mädchens, das letzthin in Tränen aufgelöst bei mir saß und mich bat: „Lieber Herr v. Schlicht, sagen Sie es den Menschen doch einmal wieder, wie gemein sie sind, oder es wenigstens sein können und fragen Sie doch mal, ob sie sich denn gar nicht schämen, in einer so unerhörten Weise, wie sie es bei mir getan, über ihre Mitmenschen herzufallen und über die Dinge zu erzählen, an denen auch nicht das kleinste Körnchen Wahrheit sitzt.” Worauf ich dem hübschen Mädel nur zur Antwort geben konnte: „Daß das, was die Leute klatschen, nicht wahr ist, wissen die natürlich selbst ganz genau und nicht nur das, wenn es wahr wäre, würden sie es gar nicht erzählen, weil es sie und andere dann absolut nicht interessierte. Die Wahrheit ist immer langweilig, nur die Lüge ist amüsant.”

Wenn eine Dame zugegen war, wie eine, nennen wir sie mal Frau Lehmann, sich einen neuen Hut kaufte, ist das etwas zu Gleichgültiges, um es weiter zu berichten. Wenn sie aber erzählt, sie hätte es mit eigenen Augen gesehen, wie Frau Lehmann sich gleich fünf neue Hüte kaufte und daran die Frage knüpft, sie möchte nur wissen, wovon Frau Lehmann die in der jetzigen geldlosen Zeit bezahlen wolle, zumal doch jeder wisse, daß ihr Mann sich nur in der zehnten Gehaltsklasse befinde und wenn sie sich dann weiter erkundigt, ob es den anderen nicht auch schon aufgefallen wäre, daß Frau Lehmann auch sonst in der letzten Zeit einen für ihre Verhältnisse geradezu unerhörten Aufwand an Kleidern, Strümpfen und Schuhen triebe, dann spitzen alle gleich die Ohren und haben Unterhaltungsstoff für wenigstens sechs Kaffeegesellschaften, auf denen der arme Herr Lehmann immer wieder bedauert wird und auf denen das große Rätselraten beginnt, wer der reiche Freund nur sein möge, der für Frau Lehmann die vielen neuen Hüte bezahlt. Bis man es denn endlich auch ganz genau weiß, wer der reiche Freund, der in Wirklichkeit natürlich gar nicht existiert, ist, wo er wohnt und was er verdient. Und wenn dann eine als authentisch zu erzählen weiß, daß dieser reiche Freund auch verheiratet ist und seine Frau in der unglaublichsten Weise mit Frau Lehmann betrügt, daß die andere sich scheiden lassen will, und daß sie deswegen schon bei dem Rechtsanwalt gewesen ist, dann wird die Sache noch sehr viel amüsanter, interessanter und pikanter und bietet Stoff für abermals sechs neue Kaffeegesellschaften.

Ach ja, die Menschen! Wie heißt es doch in der Bibel? Gott schuf sich den Menschen zu seinem Ebenbilde, aber das stimmt schon äußerlich nur in den allerseltensten Fällen und ich glaube, auch sonst ist das Wort nur mit sehr großer Vorsicht zu gebrauchen.

Friedrich der Große sagte einmal: Der Mensch besteht in der Hauptsache aus einem langen Darm und aus sehr viel Speichel, und es lohnt sich wirklich nicht, daß man von einem solchen Wesen auch nur das kleinste Aufsehen macht.

Aber gerade weil sie fast nur aus dem Darm und dem Speichel bestehen, machen die meisten Menschen von sich selbst soviel Aufhebens und wollen nicht nur sich, sondern auch ihren lieben Nächsten beweisen, daß sie sehr viel mehr und sehr viel besseres und ganz besonders, daß sie viel, viel besser sind als ihre Mitmenschen. Und da sie das nicht dadurch beweisen können, daß sie Gutes tun und Werke schaffen, die ihren Namen preisen und loben, da ihnen die geistigen und die sittlichen Kräfte fehlen, um sich durch ihr Leben und Schaffen über die anderen hervorzuheben, erhöhen sie sich dadurch, daß sie die anderen erniedrigen, daß sie die verleumden, daß sie Bosheiten und Gemeinheiten, Lügen und Niederträchtigkeiten über sie erfinden und verbreiten, damit sie sich selbst an die heutzutage ja allerdings als unmodern nicht mehr vorhandene Brust schlagen und voller Stolz triumphieren können: Gott sei Dank, so sind wir doch nicht, so etwas täten wir niemals, und sie vergessen dabei absichtlich, daß die von ihnen verbreiteten Schandtaten ja auch gar nicht wahr sind, sondern daß sie sich die frei erfunden haben, um selbst ganz groß und sittenrein dazustehen.

Von Napoleon stammt das Wort: Selbst der tapferste Held ist im Grunde seines Herzens ein Feigling und sein ganzer Mut ist weiter nichts als Feigheit vor dem Tode, denn durch seinen Mut versucht er sich sein Leben zu retten.

Wenn aber schon ein Held ein Feigling ist, ein wie großer Feigling ist da nicht erst der Lügner und Verleumder, obgleich der sich selbst natürlich zu den Helden zählt, schon weil er den Mut hatte, Geschichten und Verleumdungen zu erzählen, an die sich vor ihm noch kein anderer herangetraut hat.

Das vollkommenste Tier, der Mensch, ist zugleich aber auch häufig das verkommenste. Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich von Zeit zu Zeit in Brehm's Tierleben zu lesen. Ach ja, die Tiere sind sehr viel besere Lebewesen, obgleich es natürlich auch unter denen ganz infame Kanaillen gibt: Fliegen, die uns nicht einschlafen lassen, Flöhe, die uns gerade dann mit Vorliebe peinigen, wenn die Gesellschaft, in der wir uns befinden, es uns nicht erlaubt, auf die Quälgeister Jagd zu machen, Hähne, die uns wach krähen und viele andere mehr. Aber die meisten Tiere sind den Menschen an guten Eigenshaften weit überlegen. Sicherlich gibt es auch unter ihnen Feiglinge, aber die beweisen ihre Feigheit dadurch, daß sie vor anderen auskneifen, nicht aber dadurch, daß sie die in heimtückischer Weise aus dem Hinterhalt angreifen, ohne sich bei diesem Angriff zugleich zu zeigen und sich deutlich zu erkennen zu geben. Und wie sind die Tiere im Gegensatz zu den Menschen bescheiden. Elefant und Nashorn, beides äußerst kräftige größere Tiere, wollen trotzdem nichts anderes sein als Dickhäuter, und der gewaltigste Berberlöwe legt keinen Wert darauf, von seinen Artgenossen mit „Meister” angebrüllt zu werden. Und wie halten die Tiere in der Wildnis zusammen, wie passen sie nicht gegenseitig auf, daß ihre Herde nicht plötzlich überfallen wird. Und kommt es zum Kampf, entweder mit anderen Bewohnern der Wildnis oder mit den Jägern, dann steht ein Tier dem anderen bei. Und die Menschen?

Auch die Tiere bekämpfen sich gegenseitig, auch der Löwe schleicht sich leise heran, um dann mit einem mächtigen Satz seine Pranken einem anderen Tier in die Flanken zu schlagen, aber wieviel ritterlicher ist nicht dieser Angriff eines starken Tieres gegen ein schwächeres, als der heimtückische Angriff auf- und untereinander. Das Tier sieht seinen Feind und kann sich gegen ihn zur Wehr setzen. Der Mensch aber, der über seinen Nächsten herfällt, sitzt versteckt im Hinterhalt, der zeigt nicht einmal seine Nasenspitze, ja der schiebt zu seiner Sicherheit noch wieder andere Menschen vor, hinter denen er sich versteckt.

Ach ja, es gibt schon Leut, wie der Wirt in einem kleinen Dorf einmal ganz verwundert und entrüstet äußerte, als ein verwöhnter städtischer Gast seinen Teller Suppe zurückgab und einen anderen verlangte, in dem keine Haare der Köchin herumschwömmen.

Ach ja, es gibt schon Leut! Traurig genug, daß es die gibt, aber das Traurigste, es wird sie leider Gottes auch weiterhin geben, schon weil keiner von diesen Leut sich getroffen fühlt, wenn man ihnen gelegentlich seine Gemeinheiten im Spiegel zeigt.

Und darum und deshalb, liebes kleines Fräulein, das du bei mir saßest und weintest, hat es wohl auch kaum einen Zweck gehabt, daß ich mit den obigen Zeilen deine Bitte erfüllte. Aber möglich ist auf der Welt ja alles, und deshalb will ich zum Schluß mit der seligen Marlitt sagen: Hoffen wir das beste, lieber Leser!


Fußnote:
(1) Der Journalist „Ekkehard” veröffentlichte in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts in der „Allg. Thür. Landesztg. Deutschland” wöchentlich einen „Weimarer Sonntagsbrief” mit Kommentaren über lokale Themen und Ereignisse. [D. Hrsgb.] (zurück)


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© Karlheinz Everts