Musketier Tschirempel.

Heitere Soldaten-Geschichte von Freiherr von Schlicht,
in: „Windausche Zeitung” vom 22.10.1911 und
in: „Militaria”


Wo der brave Musketier Tschirempel geboren war, vermochte er selbst nicht mit Bestimmtheit anzugeben. Zwar stand auf seinem Geburtsschein Ostrowo als diejenige Stadt angegeben, die zuerst das Wimmern des Täuflings vernommen hatte, doch nützte ihm das sehr wenig. Vater und Mutter waren gestorben, als er kaum die ersten Worte sprechen konnte und gutmütige Nachbarn hatten sich seiner angenommen. So war er herangewachsen, bis er schon früh daran denken mußte, sich irgendwie nützlich zu machen und Geld zu verdienen. Mit dem Schulbesuch war es nicht weit her gewesen und er hatte so gut wie gar nichts gelernt. In seinen freien Stunden hatte er auf eine Schiefertafel Buchstaben gemalt, aber er hatte diese Beschäftigung wieder aufgegeben, als kein Mensch die Hieroglyphen, die er im Schweiße seines Angesichts gemalt hatte, für Buchstaben hielt. Mit dem Schreiben war es also nichts und nicht viel besser erging es ihm mit dem Lesen. Gedruckte Worte vermochte er allenfalls zu entziffern, aber man mußte ihm dazu viel, sehr viel Zeit lassen. Geschriebene Buchstaben waren ihm dagegen ein Buch mit sieben Siegeln und so hatte er wirklich recht, wenn er behauptete, nicht zu wissen, wo er geboren sei. Ostrowo sagten ihm die anderen Menschen und er betete es ihnen nach, in der Hoffnung und in dem Glauben, daß sie ihn nicht betrogen.

Musketier Tschirempel war ein gewissenhafter, strammer Soldat, sobald es körperliche Anstrengungen zu ertragen galt. Am Anfang freilich schonte auch er seine Knochen, aber seitdem ihm sein Korporal einmal die Flinte bei dem schönen Griff „Das Gewehr über” mit einem gewissen „avec” in die linke Schulter gedrückt hatte, daß der brave Musketier Tschirempel „hörbar knackte”, glaubte er, das müsse so sein und er schmiß sich den Schießprügel fortan mit einer Todesverachtung auf die Schulter, daß man allein vom Zusehen blaue Flecken bekam.

Aber ebenso tüchtig, wie er im Exerzieren war, ebenso schwach war er in der Instruktion. Nie habe ich in meinem Leben einen aufmerksameren Schüler gehabt als ihn und seine Aufmerksamkeit war doppelt rührend, weil er von allem, was ich ihm mit demosthenischer Beredsamkeit auseinandersetzte, auch nicht das Geringste verstand.

„Paß noch mal genau auf, Tschirempel,” sagte ich manchmal zu ihm, „die Sache ist doch unglaublich einfach,” und so klar und deutlich und langsam, als spräche ich zu einem neugeborenen Kind, setzte ich ihm dann nochmals alles auseinander. Er spitzte seine Ohren, daß sie beinahe durch ein Nadelöhr gingen, aber wenn ich geendet und ihn fragte: „Hast du es nun begriffen?” dann sah er mich treuherzig lächelnd an und sagte: „Is sich mich nich möglich.” Der Arme dauerte mich, da ich sehr bald merkte, daß er den besten Willen hatte und so schloß ich denn eines Abends mit ihm einen Handelsvertrag, ich wollte ihn in die Geheimnisse der deutschen Sprache einführen und dafür sollte er mir polnisch beibringen.

Abend für Abend erhielt ich nun Besuch von dem braven Tschirempel. Mit der kleinen Fröbelschen Fibel unter dem linken Arm öffnete er täglich um sieben Uhr, nach Beendigung der Putz- und Flickstunde meine Stubenthür, drehte die Feldmütze fünfter Garnitur verlegen in der Rechten und sprach Abend für Abend völlig verständnislos die ihm von seinem Korporal­schafts­führer mit undenklicher Mühe beigebrachte Redensart: „Bitt mich eintreten zu dürfen.”

Der Unterricht begann, aber schon nach den ersten fünf Minuten mußte ich einsehen, daß ich bei dem besten Willen nichts von Tschirempel lernen konnte, denn er sprach ein solches Kauderwelsch von Polnisch und Russisch, daß es selbst bei dem Turmbau von Babel nicht schlimmer gewesen sein konnte. Hatte ich alle Hoffnungen für mich begraben, so war mein Schüler dafür desto erwartungsvoller. Mit seinen dicken Fingern fast die ganze Letter verdeckend, buchstabierte er mit einem Eifer, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat. A — A, B — B, C — C und seine Glückseligkeit kannte keine Grenzen, als er eines Tages die ersten Worte zusammenhängend lesen konnte.

Fast ein Vierteljahr war so vergangen, als ich eines Abends zu ihm sprach: „Tschirempel, mein Sohn, wir wollen mit der heutigen Stunde den Unterricht schließen. Zwar bist du noch weit davon entfernt, eine Leuchte der Wisseschaft zu sein, aber immerhin wirst du mit deinen jetzigen Kenntnissen nach Ablauf deiner Dienstzeit in deinem Heimatsdorf Furore machen. Lieber in einem Dorf der erste, als in Rom der zweite. Das merke dir, mein Sohn. Doch noch eins: Du hast dich mit rühmenswertem Eifer und nicht genug anzuerkennendem Fleiß dem Studium der schönen deutschen Sprache hingegeben. Bitte dir zur Belohnung eine Gnade aus: sie ist dir im voraus gewährt.”

Bis zum Tode erschrocken sah der Brave mich an. Der Gedanke war ihm anscheinend noch nie gekommen, daß die Unterrichtsstunden auch einmal aufhören könnten und wortlos stand er mir gegenüber, während ihm die heißen Thränen die Wangen hinunterrollten. Ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Fassung, Knabe, wir trennen uns ja nicht für immer, morgen auf dem Exerzierplatz sehen wir uns wieder und ich werde jede Gelegenheit benutzen, die sich mir bietet, um mit dir zu sprechen. Aber nochmals: Hast du einen Wunsch, so sprich, gerne will ich ihn dir erfüllen.”

Noch immer stand der gute Tschirempel in Thränen aufgelöst mir gegenüber, aber plötzlich faßte er sich und sagte mit einem so traurigen Ausdruck, daß es den grausamsten Tyrannen gerührt hätte: „Kann ich nicht werden Bursche bei Herrn Lieutenant meiniges?”

Erschrocken taumelte ich zurück, nicht nur wegen des Schriftdeutsches, das der Edle sprach und das mich auf den Gedanken brachte, daß alle meine Mühe vergeblich gewesen sei, sondern auch weil ich glaubte, daß Tschirempel als Bursche nicht gerade die geeignetste Persönlichkeit sei. Zuerst wollte ich „nein ” sagen, aber seine Augen sprachen eine so flehende Sprache, daß ich sagte: „Ich werde mit dem Herrn Hauptmann sprechen und wenn der nichts dagegen einzuwenden hat, will ich es mit dir versuchen.”

Wie ich erwartet, geschah es: die Compagnie war froh, den großen Dämellack, wie er allgemein hieß, aus der Front loszuwerden und vierundzwanzig Stunden später hielt Tschirempel bei mir seinen Einzug.

„Du wirst ganz bei mir wohnen, folglich wirst du gut thun, gleich deine Sachen mitzubringen,” hatte ich zu ihm gesagt und so erschien er denn mit Sack und Pack. Ich sah ihm zu, während er seine Uniformen in dem für ihn bestimmten Schrank aufhing und wunderte mich über die Sorgfalt, mit der er stets die in ein nicht mehr ganz sauberes, weiß und rot kariertes Taschentuch gewickelten Gegenstände beiseite schob.

„Ist denn da was Zerbrechliches drin?” fragte ich ihn endlich.

Er knotete das Tuch auseinender und entnahm demselben ein halbes Kommißbrot und eine Zahnbürste. Wahrhaftig eine Zahnbürste, der Brave stieg in meiner Achtung, wenngleich die Zusammenstellung des Paketes mich etwas befremdete.

„Du putzest dir die Zähne, das hätte ich nicht gedacht,” sagte ich verwundert.

Er mochte in meinem Ton einen Vorwurf finden, denn die Thränen stiegen ihm in die Augen: „Nein, ganz und wahrhaftig nicht, Herr Lieutenant, is sich ja zum Gewehreinfetten.”

Nun, wie so vieles andere lernte Tschirempel bei mir auch die richtige Benutzung der kleinen Bürste, obgleich ihm der Gebrauch derselben zuerst gar nicht in den Kopf, oder richtiger gesagt, in den Mund wollte und ich hatte es überhaupt nicht zu bereuen, daß ich ihn zu mir genommen. Er war ein Edelstein in des Wortes wahrster Bedeutung, treu, fleißig, sparsam und von einer Sauberkeit, daß meine Wohnung und meine Kleidung stets wie aus dem Ei gepellt aussahen. Er war immer thätig; Tschirempel ohne Kleider- oder Stiefelbürste in der Hand, wäre ein Bild gewesen, das auch der genialste Maler nicht erfunden hätte.

Um so erstaunter war ich eines Tages, ihn nicht bei der Arbeit zu finden. Der Dienst war früher als gewöhnlich beendet gewesen und so war es selbstverständlich, daß Tschirempel nicht wie sonst an der Korridorthür stand, mich zu erwarten, um mir sofort Mütze und Säbel abzunehmen. Ich ging durch meine Schlafstube in das Wohnzimmer und endlich in die Putzkammer, aber nirgends war von dem treuen Burschen etwas zu entdecken. Sollte er in meiner Abwesenheit ausgegangen sein und die Wohnung ohne Aufsicht gelassen haben? Unfaßlich. Ich trat auf den Korridor, da klangen aus Tschirempels Schlafkammer so herzzerreißende Töne, daß ich hinzuschlich und leise die Thür öffnete. Der Brave hörte mich nicht, er saß auf seinem Bettrand, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte, daß die Thränen wie ein kleiner Bach zwischen den Fingern hindurch zur Erde niedertröpfelten.

„Aber Tschirempel,” sagte ich zu ihm in vorwurfsvollem Ton, „wer wird denn so weinen?”

Erschrocken fuhr er zusammen. Dann aber sprang er in die Höh und statt des Taschentuches die vor ihm liegende Kleiderbürste ergreifend, fuhr er sich mit den Borsten über die Augen, daß ein neuer Thränenstrom hervorquoll.

„Aber Tschirempel,” wiederholte ich, „was ist denn nur los mit dir? Ich kenne dich ja gar nicht wieder.”

In strammer, dienstlicher Haltung stand er vor mir, da erst sah ich, daß seine linke Backe gerötet und etwas angeschwollen war.

„So,” sagte ich, „nun erzähle, was ist geschehen?”

„Ich habe mich gestoßen, Herr Lieutenant,” klagte Tschirempel.

„Wo denn?” fragte ich ungläubig. „Hier, Herr Lieutenant,” und mit der Rechten auf seinen linken Fuß zeigend, verzog er schmerzhaft sein Gesicht.

„Und davon ist deine Backe angeschwollen?” herrschte ich ihn an, „mein Sohn, du lügst mir hier was vor, die Wahrheit will ich wissen, sonst bist du die längste Zeit bei mir Bursche gewesen und ich lasse dich wegen Belügen eines Vorgesetzten bestrafen. Verstanden?”

Der arme Kerl zitterte am ganzen Leib: „Ach Herre Lieutenant meiniges, ich will es ja auch ganz und ganz gewiß nicht wieder thun.”

„Was willst du nicht wieder thun? Beichte.”

Und da kam die Geschichte an das Tageslicht: Tschirempel war verliebt, verliebt bis über die Ohren. „Sie,” diente über mir in der zweiten Etage und war ein blitzsauberes, niedliches Mädchen, er hatte einen merkwürdig guten Geschmack bewiesen. Auf der Treppe und vor der Hausthür hatten sie sich zuweilen getroffen und ein kleines Gespräch miteinander geführt. Ihre Liebenswürdigkeit hatte sein Herz in heller Flamme auflodern lassen, er liebte und er glaubte sich wiedergeliebt. Heute Morgen hatte er es ihr gestehen wollen. Sie hatte, da es Sonnabend war, die Etagentreppe gescheuert und leise hatte er sich ihr genähert. Er hatte den rechten Arm schon um ihre Taille gelegt und das Liebes­geständnis schon auf den Lippen, als sie, unwillig über die Störung, aufblickte und ihm mit den Worten: „Sie, rempeln Sie mich hier nicht an,” eine schallende Ohrfeige versetzte, daß er die Treppe hinunterflog.

Gebrochen an Leib und Seele stad der Arme vor mir: „Ach, Herr Lieutenant meiniges, wodurch hab' ich das um sie verdient?”

Das vermochte ich bei dem besten Willen nicht anzugeben und alle meine Trostesworte erwiesen sich dem Jammer des Unglücklichen gegenüber als machtlos. Vernichtet ging er von mir, um seine Stiefel zu putzen und anstatt wie sonst die Wichse mit seiner Spucke anzufeuchten, ließ er heute seine Thränen in die Holzschachtel hineinlaufen.

Der Arme dauerte mich, wußte ich doch aus eigener Erfahrung wie Liebesleid einem das Herz zerreißen kann und ich nahm mir vor, bei der ersten sich mir bietenden Gelegenheit mit „Carline” ein ernsthaftes Wort zu reden. Der Zufall fügte es, daß ich schon am Nachmittag, als ich, um zu speisen, in das Kasino ging, auf der Treppe mit ihr zusammentraf und ich konnte nicht umhin ihr einige Worte über ihre lose Hand zu sagen. Eine jähe Röte stieg in ihr Gesicht und etwas verlegen murmelte sie: „Herr Lieutenant, der Bursche ist aber auch zu dumm — am hellen Vormittag — um zehn Uhr, wenn das jemand gesehen hätte — es würde mich meine Stellung kosten.”

„Und wenn es abends um zehn Uhr gewesen wäre?” fragte ich zurück.

Da errötete sie über und über und flog die Treppen hinauf, als wenn der böse Geist sie verfolge und ich wußte, wie es um ihr Herz bestellt war. Noch an demselben Abend machte ich Tschirempel mit strengen Worten auf das Unpassende seines Benehmens aufmerksam, indem ich zu wiederholten Malen in meiner Strafrede betonte, daß man junge Mädchen nicht am hellen Tage auf der Treppe küssen dürfe; ihm noch deutlichere Winke zu geben, verbot die Autorität.

Aber Tschirempel bewies mir bald durch die That, daß er mich verstanden hatte. Nach drei Tagen prangte an seiner Linken ein unechter, dünner goldener Reif und in vorschrifts­mäßiger Haltung, die kleinen Finger an der Hosennaht, meldete er: „Herr Lieutenant, ich habe mir mit ihr verlobt.”

Ich reichte ihm glückwünschend die Hand: „Wird deine Carline nun auch noch böse, wenn du sie küßt?” fragte ich scherzend.

Aber abwehrend schüttelte er den Kopf: „Nein, Herr Lieutenant, jetzt küsse ich sie nicht mehr.”

„Nanu?” fragte ich erstaunt und verwundert, „warum küßt du sie denn nicht mehr?”

Da sah er mich pfiffig lächelnd an und sagte: „Herr Lieutenant meiniges — jetzt küßt sie mich.”

Sprach's und ging stolz erhobenen Hauptes von dannen, stolz im Bewußtsein, aus dem Liebeskampf als Sieger hervorgegangen zu sein.


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