Der falsche Tritt.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 9.Aug. 1908 und
in: „Parade-Haare”.


„Der Herr Oberst wünscht sämtliche Herren Offiziere um zwölf Uhr auf dem Kasernenhof zu sprechen.”

Von den geheiligten Räumen des Regiments­bureaus war dieser Befehl auf dem Instanzenwege in alle Wohnungen gedrungen, und erwartungsvoll standen nun alle, vom ältesten Stabsoffizier bis zum jüngsten Nestküken, auf dem Kasernenhof und warteten des Herrn Oberst, der da kommen sollte.

Alle zerbrachen sich den Kopf, was wohl vorliegen möchte, denn erst gestern hatte der Kommandeur seine Offiziere um sich versammelt und war der Allgemeinheit im allgemeinen und einigen Speziellen im speziellen so grob geworden, wie das nur ein Oberst kann, der es im Interesse des königlichen Dienstes für unbedingt nötig hält, seinem Herzen, auch wenn dazu gar keine besondere Veranlassung vorliegt, von Zeit zu Zeit einmal ganz gehörig Luft zu machen.

Wollte der Herr Oberst heute schon wieder fluchen? Den Vorgesetzten ist in dieser Hinsicht alles zuzutrauen, und so sah man den kommenden Ereignissen mit jener Unruhe entgegen, die selbst mutige Männer unvermeidlichen Ereignissen gegenüber oft zur Schau zu tragen pflegen.

Dem jüngsten Leutnant zitterte der Hosenboden am meisten. Er war gestern abend jenseits von Gut und Böse den heimlichen Pfad des Lasters gewandelt. Erst hatte er getrunken, dann gespielt und sich dann mit einer Schönen über den Spielverlust zu trösten versucht. Nun fürchtete er, das scharfe Auge seines Vorgesetzten, das, wenn man den hohen Herren glauben darf, alles sieht, hätte ihn trotz des Dunkels der Nacht auf verbotenen Wegen wandeln sehen, und er würde jetzt ganz gewaltig etwas auf den Hut bekommen oder sogar bestraft werden.

Die große Uhr über dem Portal schlug zwölf, der feierliche Augenblick nahte, und gleich darauf erschien der Kommandeur mit seinem Adjutanten.

Als die Offiziere in das Gesicht ihres Obersten sahen, bekamen sie alle einen Schrecken, selbst der Oberstleutnant dachte für eine Sekunde darüber nach, ob sein Leben ganz frei von Schuld und Fehle wäre, und der jüngste Leutnant gab einen Ton von sich, als würde ihm noch jetzt schlecht von dem Alkohol, den er gestern in allzu reichlichen Mengen genossen hatte.

Aber glücklicherweise hörte niemand diesen Seufzer einer klagenden Seele.

Die allgemeine Begrüßung war zu Ende; der Oberstleutnant hatte die Herren des Regiments vollzählig zur Stelle gemeldet, nun war es an dem Herrn Oberst zu reden und ihnen allen mitzuteilen, warum er sie hierher berufen habe.

Aber vorläufig sagte der Herr Oberst gar nichts. Alle sahen ihm deutlich seine große Erregung an, und sie merkten, wie er versuchte, seiner selbst erst wieder Herr zu werden.

Der jüngste Leutnant sah es mit Schrecken. Wenn der Herr Oberst meinetwegen wütend ist — dann, aber das dann vermochte er nicht auszudenken, dazu fehlte es ihm nicht nur an Mut, sondern vor allen Dingen an der nötigen Erfahrung auf diesem Gebiet. Nur so viel wußte er, es war ein Glück, daß er vor wenigen Tagen der Vorschrift gemäß sein Leben mit fünfhundert Mark auf den Todesfall versichert hatte, denn wenn der Kommandeur ihn sich in dieser Stimmung vornahm, dann würde nichts von ihm übrig bleiben. Garnichts.

Der Oberst hatte sich gesammelt und ergriff jetzt das Wort: „Meine Herren.”

Alle stellten sich inPositur und versuchten ein möglichst interessiertes Gesicht zu machen, und die ganz Diensteifrigen standen mit dem Notizbuch in der Hand da, um sofort die goldenen Worte des Kommandeurs niederschreiben zu können.

„Meine Herren,” nahm der Oberst nach einer kleinen Pause nochmals das Wort, „ich habe Sie hierher gebeten, um Ihnen eine sehr frohe Mitteilung zu machen — jawohl, eine sehr frohe,” wiederholte er noch einmal, aber seine Stimme klang, als glaube er selbst nicht recht an das, was er da sage.

Und die anderen Herren glaubten es auch nicht, nur der jüngste Leutnant glaubte es: einmal, weil er wirklich noch so naiv war, um in die Worte seiner Vorgesetzten einen Zweifel zu setzen, dann aber auch, weil er jetzt die glückliche Gewißheit hatte, daß er nicht die Veranlassung dieser Zusammenkunft war. Was sonst vorlag, war ihm ganz gleichgültig. Im stillen faltete er die Hände und dankte dem Himmel, daß die Nacht so dunkel gewesen war, daß selbst das scharfe Auge seines Vorgesetzten sie nicht zu durchdringen vermochte.

„Meine Herren!” fuhr der Oberst nach einer inhaltsreichen Pause jetzt von neuem fort, „ich habe Ihnen die frohe Mitteilung zu machen, daß unser hoher Chef, Se. Durchlaucht, der Fürst, auf der Durchreise nach dem Süden anfangs nächster Woche einige Stunden in unserer Stadt verweilen wird. Se. Durchlaucht will sein Regiment wieder einmal besuchen, er wird eine Parade über die Truppen abnehmen und uns dann die Ehre erweisen, mit uns im Kasino zu frühstücken.”

Das klang nun auch ganz anders, als wenn der Herr Oberst sich über den bevorstehenden Besuch wirklich freue, und ganz unvermittelt machte er seinem Herzen auch Luft: „Ich möchte nur wissen, wer Se. Durchlaucht auf den verrückten, ich meine natürlich auf den wahnsinnigen — na, Sie wissen ja schon, was ich meine — kurz und gut, auf den Gedanken gebracht hat, gerade jetzt zu uns zu kommen, jetzt, wo die Ausbildung der Rekruten noch nicht beendet ist, und wo die unglücklichen Einjährigen auch noch mitten im Drill stecken. Na, aber das hilft nun alles nichts. Eine frohere Mitteilung als die seines bevorstehenden Besuches hätte Se. Durchlaucht uns gar nicht schicken können, und ich bin fest davon überzeugt, daß die Mannschaften sich über die hohe Ehre, die ihnen bevorsteht, ebenso freuen werden, wie wir es tun. Und wir, meine Herren, freuen uns wirklich nicht nur, weil wir das unserem hohen Chef schuldig sind, sondern weil die Freude uns aus dem Herzen kommt. In diesem Sinne habe ich denn auch bereits an Se. Durchlaucht ein Telegramm abgesandt, daß wir seinem Eintreffen voll freudiger Ungeduld entgegensehen.”

Man merkte es dem Herrn Oberst deutlich an, daß er mehr als froh war, diesen Teil seiner Rede hinter sich zu haben. Jetzt aber gab er noch einige dienstliche Anordnungen:

„Wir müssen jetzt also die Ausbildung der Rekruten und auch die der verflixten Einjährigen, die der Deuwel holen soll, bis auf weiteres auf sich beruhen lassen und die kurze Zeit, die wir noch zur Verfügung haben, auf den Parademarsch verwenden. Es wird schwer, wenn nicht ganz unmöglich sein, bis zum Eintreffen Sr. Durchlaucht einen auch nur halbwegs anständigen Parademarsch zustande zu bringen, aber fertig gebracht werden muß das Kunststück trotzdem. Wie Sie das allerdings anfangen wollen, das überlasse ich gaz Ihnen, meine Herren Hauptleute, ich möchte Ihnen da gar keine Vorschriften machen und räume Ihnen da vollständige Freiheit und Selbständigkeit ein.”

Aus dem sehr einfachen Grunde, weil selbst Deine Wrisheit hier zu Ende ist, dachte ein Hauptmann. Es ist ja immer dieselbe Geschichte. Je unmöglicher die Durchführung eines Befehls ist, desto vertrauensvoller wird die Sache uns ans Herz gelegr. Na, meinetwegen könnte Se. Durchlaucht bis an sein Lebensende bleiben, wo er ist.

Und ähnlich wie der eine Hauptmann, dachten auch die anderen. Freuen tat sich von den Häuptlingen niemand auf den bevorstehenden Besuch, und die Freude bei den Leutnants war auch nur gering. Das große Liebesmahl, das dem hohen Gast zu Ehren stattfinden würde, hatte zwar gewiß seine Reize, aber sie sahen voraus, daß der Weg zu den Sektflaschen noch über zahllose Parademärsche gehen würde, bei denen man bald mehr, bald weniger, aber immer vollständig genügend angeschnauzt würde.

Noch viel weniger als die Offiziere waren die Mannschaften von der frohen Botschaft erbaut, die ihnen am Nachmittag von den Feldwebeln mitgeteilt wurde. Schon der gewöhnliche Dienst stellte die größten Anforderungen an ihre Knochen — was würde da erst in den bevorstehenden Tagen von ihnen verlangt werden? Aengstlich sahen sie an sich herunter, ob ihre Beine wohl auch die Anstrengungen aushielten und im Geiste hörten sie alle das Bumbum der großen Trommel, nach deren Klang sie die Knochen zu strecken hatten.

Am meisten aber stöhnten die Einjährigen, als sie erfuhren, daß der hohe Chef des Regiments käme. Und das nicht ohne Grund! Für den Herren Oberst war alles, was Einjähriger hieß, ein ewiger Stein des Anstoßes und des Aergers, schon der Anblick der schwarz–weißen Schnüre an den Achselklappen machte ihn wild, und jeder Einjähriger war für ihn eo ipso der Inbegriff der Schlappheit und Ungeschicklichkeit. Und in diesem Jahre war er, wie er es nannte, mit fünfzehn Einjährigen niedergekommen: hätte er allein darüber zu bestimmen gehabt, er würde nicht einen einzigen angenommen haben.

Die Freiwilligen standen unter der Oberaufsicht eines Leutnants, dem der Herr Oberst seine Zöglinge ganz besonders ans Herz gelegt hatte. Er sollte sie ganz gehörig herannehmen und ihnen vom ersten Tage an klarmachen, daß zwischen ihnen und den anderen Mannschaften nicht der leiseste Unterschied bestände, daß sie nicht dasselbe, sondern auf Grund ihrer höheren gesitigen Befähigung noch viel mehr leisten müßten als die anderen Leute. Dem Leutnant taten die Freiwilligen leid, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als die ihm erteilten Befehle auszuführen. Die Einjährigen wurden gebimmst und gebummsen, daß es für sie wirklich keine reine, ungetrübte Freude war, ihr Jahr abzudienen.

Und nun die Rede, mit der ihnen der bevorstehende Besuch Sr. Durchlaucht mitgeteilt wurde! Alle himmlischen und irdischen Strafen wurden ihnen für den Fall angedroht, daß auch nur ein einziger von ihnen einen schlechten Parademarsch mache; die Gesamtheit sollte dann dafür büßen. Und sie wußten, diese Worte waren mehr als eine leere Drohung, der Oberst würde kein Mitleid und kein Erbarmen kennen, wenn auch nur ein einziger seine Sache nicht gut machte, wenn gerade einer von ihnen unangenehm auffiele.

Nach Beendigung des Dienstes, als die Einjährigen in ihrem Kasino zusammensaßen, wurde natürlich nur von der Rede gesprochen, die man soeben vernommen hatte. Die war ihnen allen in die Glieder gefahren und erfüllte sie mit bangen Sorgen für die Zukunft.

Und da geschah es, daß der Einjährige Müller von der vierten Kompagnie plötzlich den Kameraden zurief: „Kinder, Ihr könnt mit mir machen, was Ihr wollt, aber ich wette 100 : 1, daß ich bei dem Parademarsch falschen Tritt habe und die ganze Kiste umwerfe.”

Zuerst bekamen alle einen mordsmäßigen Schrecken, dann aber lachten sie laut auf, daß gerade Müller solche Furcht hatte. Der war der beste Soldat von ihnen allen, ein großer, strammer Mensch mit geraden Gliedmaßen und einer vorzüglichen Haltung.

Aber Müller ließ sich nicht beirren: „Lacht mich nur ruhig aus, ich wollte, ich könnte mitlachen. Erklären kann ich Euch das nicht näher, aber die Furcht, den Tritt umzuwerfen, ist mir eben wie eine fixe Idee in die Beine gefahren, und wenn man an einer solchen Wahnvorstellung leidet, dann ist dagegen nichts zu machen, da hilft keine Energie und kein Dagegenkämpfen. Da ist man wie hypnotisiert und tut nicht das, was man will, sondern ganz einfach das, was man soll.”

Müller sprach so ernst, daß die Kameraden es mit der Angst bekamen. „Um Gotteswillen, Menschenkind, machen Sie keine jungen Pferde scheu! Denken Sie an Ihre militärische Karriere, Sie wollen Leutnant d.R. werden! — Brocken Sie uns doch nicht allen solche Suppe ein, die kann ja kein Mensch aufessen. — Trinken Sie Selterwasser, gehen Sie zu einer weisen Frau und lassen Sie sich von der besprechen, wenn Sie behext sind!”

Das ging im bunten Durcheinander, aber Müller hörte kaum auf das hin, was die anderen sagten. Er war ganz blaß geworden und der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Er versuchte zu lachen, aber es gelang ihm nicht, und doch war es ja mehr als kindisch, plötzlich auf einen solchen Gedanken zu kommen. Vergebens versuchte er, ihn wieder los zu werden.

Voller Angst sah er dem kommenden Tage entgegen, an dem unter der Oberaufsicht des Herrn Oberst sämtlich zwölf Kompagnien auf dem Kasernenhof Parademarsch üben sollten, damit die Augen des hohen Chefs voller Lob und Anerkennung auf den Beinen der Musketiere ruhten, wenn diese ihm zu Ehren gestreckt wurden.

Denn das Strecken ist die Hauptsache, das versichert in jeder Garnison jeder Unteroffizier jeden Tag, und der Königlich Preußische Unteroffizier weiß es ja am besten, wozu der liebe Herrgott dem Menschen die einzelnen Gliedmaßen gegeben hat.

Der Einjährige Müller war ganz gewiß kein „schlapper Hund”, wie man beim Militär alle diejenigen nennt, die es nach Ansicht aller Kameraden und Vorgesetzten an dem nötigen Schneid fehlen lassen, aber vor dem nächsten Morgen hatte er einen heillosen Bimmel. Warf er wirklich den Tritt um, dann flog er erbarmungslos drei Tage in den Kasten und begrub damit erbarmungslos alle Aussichten auf ein ferneres Avancement. Die fixe Idee, er würde falschen Tritt haben, die ihm plötzlich wie ein Gichtanfall in die Glieder gefahren war, ließ ihn nicht schlafen. Erst gegen Morgen verfiel er in einen unruhigen Schlummer, und im Traum übte er beständig Parademarsch. Er war der einzige, der nie Tritt hatte, und um mit den anderen zusammen gleichzeitig das linke Bein aufsetzen zu können, machte er beständig Wechseltritt. Eins Zwei Drei. Seine Beine kamen im Schlaf nicht einen Augenblick zur Ruhe, sie wirbelten in der Luft herum wie die Trommelstöcke eines Spielmannes, und als sein Putzer ihn endlich weckte, hatte er sich vollständig bloß gestrampelt, die Decken und das ganze Bettzeug lagen auf der Erde und er war von seinem Traummarsch so müde, als wäre er wirklich die ganze Nacht auf den Beinen gewesen.

Aber der Himmel war ihm gnädig, seine Befürchtungen bewiesen sich als grundlos, ein gnädiges Geschick nahm ihn und seine Beine unter seinen ganz besonderen Schutz. So oft die Kompagnie an jenem Morgen auch bei dem Herrn Oberst vorbeimarschierte, sein Tritt war rein wie das Wasser im Glas, er kam überhaupt gar nicht in Versuchung, den Parademarsch zu werfen. Und mit den Kameraden zusammen lachte er mittags selbst über die Angst, die ihn gestern befallen hatte.

Mit dem ewigen Einerlei des Parademarsches vom frühen Morgen bis zum späten Abend gingen die Tage dahin, bis es dann endlich hieß: „Morgen kommt der hohe Chef.”

Und der kam wirklich. Alle stillen Wünsche und Gebete, er möge seinen Entschluß doch noch wieder ändern, hatten nichts genützt. In vollster Gesundheit, umgeben von seiner Suite, stand der Fürst nun auf dem Kasernenhofe und schritt gleich darauf die Front des Regiments entlang, das in Paradeaufstellung aufgebaut war.

Dann kam der Befehl, sich zum Parademarsch zu formieren, und in demselben Augenblick durch fuhr es den Einjährigen Müller wieder wie ein elektrischer Funke: „Du hast nachher falschen Tritt.”

Mit einem Mal war diese gräßliche Vorstellung wieder da, und das machte ihn schon jetzt so nervös und unruhig, daß er auf dem Hinweg zum Paradeplatz zu stolpern begann.

Mit halblauter Stimme herrschte sein Hauptmann ihn an: „Zum Donnerwetter, Einjähriger, passen Sie gefälligst auf, und torkeln Sie nicht wie ein Betrunkener! Wenn Sie das nachher ebenso machen, können Sie was erleben.”

Der Einjährige Müller schwitzte Blut, denn er sah das sichere Verderben vor Augen.

Wenn er wenigstens nicht im ersten Glied gestanden hätte! Im zweiten kann man schon eher eine Dummheit machen, ohne daß sie sofort bemerkt wird.

Jetzt war die Kompagnie an der Stelle, von der aus der Parademarsch angetreten wurde, angelangt. Die anderen Kompagnien waren schon mit einundzwanzig Schritt Abstand im Vormarsch. Die königliche Vierte trat noch auf der Stelle, und der Unteroffizier im rechten Flügel zählte laut jeden Schritt, den die vordere Kompagnie machte; bei dem einundzwanzigsten Schritt mußte die Kompagnie antreten.

„Drei, vier, fünf, sechs,” zählte der Unteroffizier mit unerschütterlicher Ruhe; der war seiner Sache sicher, dem konnte kein Parademarsch etwas anhaben.

„Sieben, acht, neun, zehn.”

Gott sei Dank, noch hatte man Zeit, noch war man nicht so weit.

„Du hast nachher falschen Tritt, Du hast falchen Tritt.”

Der Einjährige Müller wurde den Gedanken nicht los; er fühlte, wie er blaß wurde; der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn.

„Vierzehn, fünfzehn, sechzehn.”

Langsam, aber sicher nahte das Verderben.

Der Hauptmann wandte sich noch einmal nach seinen Leuten um: „Kinder, daß Ihr mir die Beine streckt, und das sage ich Euch, wenn mir einer von Euch keinen Tritt hat —”

„Neunzehn, zwanzig,” rief der Unteroffizier im rechten Flügel.

Der Hauptmann fand keine Zeit, seine Drohung zu Ende zu sprechen; er mußte sofort antreten lassen, wenn er nicht anstatt mit einundzwanzig vielleicht mit zweiundzwanzig oder mit dreiundzwanzig Schritt Abstand vorbei kommen wollte. Und das durfte nun und nimmer geschehen, denn die vorschrifts­mäßigen Abstände sind nun einmal dazu da, um innegehalten zu werden.

„Frei weg!” ertönte das Kommando, und die Leute traten an, vorläufig noch mit losem, bequemem Schritt, denn am Anfang ist jede Kompagnie noch durch die vordere gedeckt. Erst wenn die bei dem, der die Parade abnimmt, vorüber ist, heißt es, die Beine zu strecken, dann kommandierte der mittelste Zugführer ein halblautes „Jetzt”, und dann fliegen die Beine aus den Hüftgelenken heraus, als wenn sie von dannen fliegen sollten.

Und nun war es soweit. „Jetzt!”

Die Erde dröhnte, so fest setzten die Leute die Beine auf, aber keiner schlug den linken Knochen so fest auf den Boden, wie der Einjährige Müller. Er höre ganz deutlich den jedesmaligen Aufschlag seines Fußes, und das gab ihm immer von neuem die Gewißheit: „Noch hast du Tritt, noch hast du Tritt.”

Aber man kam immer näher an die Musik heran, und bei dem Lärm der Instrumente und dem Bum-Bum der großen Trommel hörte man schließlich die eigenen Schritte nicht mehr.

Und da durchfuhr es den Einjährigen Müller wieder: „Du hast falschen Tritt,” und plötzlich war ihm, als setze er ganz allein das rechte Bein zur Erde, während die ganze übrige Kompagnie mit dem linken Bein auftrat.

„Mach Wechseltritt!” rief ihm eine innere Stimme zu, „dann ist alles wieder in Ordnung. Man wird das zwar bemerken, aber das ist immer noch besser, als wenn du ohne Tritt vorbei kommst.”

„Das ist doch Unsinn,” versuchte er sich selbst zu widerprechen, „du hast ja Tritt.”

Dann kam plötzlich wieder die Angst: „du hast keinen Tritt.”

Aber von neuem beruhigte er sich: „du hast doch Tritt.”

Bis dann wiedrum die Angst über ihn kam.

In seinen Schläfen hämmerte und pochte es. Mit „Augen rechts” marschierte er in Reih und Glied dahin; nur noch sechs Schritte, dann waren sie an dem hohen Chef vorüber, dann war die Gefahr überwunden.

Jetzt waren es nur noch vier Schritt, aber anstatt daß die Angst und die Unruhe mit jedem Schritt abnahmen, wurden sie immer größer und stärker. Die bangen Zweifel „Hast du wirklich keinen Tritt?” wurden dem armen Einjährigen mit einem Mal zur tödlichen Gewißheit, er hätte sein Leben darauf verwettet, daß er beständig den falschen Fuß zur Erde setzte. Und plötzlich machte er Wechselschritt, anstatt des linken Fußes setzte er den rechten zur Erde nieder.

Er hatte in seiner Angst vergessen, daß noch jemand hinter ihm marschierte und die Folgen blieben nicht aus. denn in demselben Augenblick, da er das rechte Bein niedersetzte, hob sein Hintermann gleichzeitig mit den anderen Leute der Kompganie den rechten Fuß vom Boden, krümmte das Knie und streckte dann das Bein, wie das Gesetz es befiehlt, mit einem kurzen, energischen Ruck nach vorn.

Und bei diesem Strecken stieß das Bein des Hintermannes plötzlich auf einen Widerstand, das war das rechte Bein des Einjährigen Müller, das fest auf der Erde ruhte, und ehe es wußte, wie ihm geschah, bekam es plötzlich von hinten einen derartigen Tritt in die Kniekehle, daß es kraftlos in sich zusammensank.

Und gleich darauf lag der Einjährige Freiwillige Müller der Länge nach im Sand.

Und über ihn hinweg fiel sein Hintermann und riß im Sturz noch seinen Nebenmann, an dessen linken Rockärmel er sich fest zu halten versucht hatte, mit zu Boden.

Aber während die beiden anderen gleich wieder aufsprangen und ihrer Kompagnie nachliefen, blieb der Einjährige Müller platt wie ein Laubfrosch, alle Viere von sich gestreckt, auf der Erde liegen. Er markierte den Ohnmächtigen! Und das war das Klügste, was er tun konnte.

Er ließ sich in den Schatten kühler Bäume tragen, und als er, absichtlich erst nach langer Zeit, die Augen wieder aufschlug, stand der hohe Chef vor ihm, erkundigte sich teilnehmend nach seinem Befinden und sprach ihm Trost zu. Er hatte sich bei dem Herrn Oberst für ihn verwandt, und dieser Ohnmachtsanfall würde seiner Beförderung nicht schaden.

„Nicht wahr, mein lieber Herr Oberst?” schloß der liebenswürdige Chef.

Der Oberst hätte am liebsten den Einjährigen kaltblütig lächelnd ermordet, aber trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als zu antworten: „Selbstverständlich wird das dem Avancement des Einjährigen nicht schaden.”

Der Einjährige Müller war beruhigt, dieses Mal war er noch mit einem blauen Auge davon gekommen, aber trotzdem gelobte er sich, wenn er einmal wieder eine Parade mitmachen müsse, fortan gleich mit dem falschen Fuß anzutreten und erst in unmittelbarer Nähe des Vorgesetzten den richtigen aufzusetzen.

Der Einjährige Müller war sehr stolz auf diesen Gedanken, und doch war er sehr dumm, denn wenn er den wirklich ausführte, gelangte er bei den nächsten Paraden garnicht bis in die Nähe der Vorgesetzten, sondern lag schon nach den ersten drei Schritten der Länge nach im Sand.


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