Sylvesterthränen.

Humoreske von Graf Günther Rosenhagen
in: „Hannoverscher Courier” vom 31.12.1893,
in: Humoresken und
in: Humoresken und Erinnerungen


Und jeden Sylvesterabend, wenn die Uhr zwölf schlug, fing Tante Johanne an gar bitterlich zu weinen.

Es war eine alte Sitte in unserer Familie, daß wir den Sylvesterabend stets zusammen verlebten. Der Ort des Zusammenkommens sollte jährlich wechseln, aber wenn der Sylvesterabend herannahte, hatte der betreffende Onkel oder die betreffende Tante immer allerlei Ausflüchte; entweder wurde gerade ein neuer Ofen gesetzt, oder der Kronleuchter war entzwei, oder das Dienstmädchen hatte gebeten, ausgehen zu dürfen. So hatte mein Vater denn dahin entschieden, daß ein für alle Mal in seinem Hause Rendezvous sein sollte. Die Feier selbst verlief immer in derselben Weise; man nahm an der großen Tafel, die mit unzähligen kalten Speisen bedeckt war, Platz und unterhielt sich fleißig mit der großen Bowle und den vielen Vettern, Cousinen und sonstigen Verwandten. Punkt fünf Minuten vor Zwölf erhob sich mein Vater, um zu reden; durch die jahrelange, stetige Wiederholung hatte er hierin eine solche Uebung erlangt, daß seine Rede stets genau in derselben Secunde beendet war, in der die Uhr zum ersten Schlag der zwölften Stunde anhub. Und während dann die übrigen Verwandten mit dem vollen Glase in der Hand um den Tisch herumgingen und sich gegenseitig ein fröhliches neues Jahr wünschten, fing Tante Johanne stets an gar bitterlich zu weinen.

„Tante Johanne, warum weinst Du eigentlich immer?” fragte ich sie als vierzehnjähriger Knabe einmal, als alle Versuche, ihre strömenden Thränen zu trocknen, erfolglos blieben.

Sie wehrte mich ab: „Kind, Kind, wer das so sagen könnte! Es ist doch immer ein wichtiger, ernster Abschnitt und eine sehr traurige Minute,” und verstärkt hervorbrechende Thränen ließen sie verstummen und ihren Körper in convulsivischen Zuckungen erbeben.

Ich war damals, wie gesagt, ein dummer Junge, und meinem kindlichen Gemüth war der „Ernst” dieser Stunde vollständig unbekannt, im Gegentheil, ich freute mich unendlich, wenn die Uhr zwölf schlug, und ich, von den Großen unbeobachtet, mein Glas auf einen Zug leeren durfte.

„Warum ist Tante Johanne nicht ebenso lustig, wie wir Anderen?” fragte ich meinen Vetter Robert, der, mit mir gleichalterig, sich heimlich hinter der Gardine eine Cigarette anzündete.

„Weil sie immer weint,” entgegnete er mit einer Geschwindigkeit, die die Schärfe seines Verstandes errathen ließ.

„Aber warum weint sie immer, sie soll nicht mehr weinen,” fuhr ich fort, und nach weiteren fünf Minuten waren wir darüber einig, daß Tante Johanne am nächsten Sylvesterabend keine Thräne vergießen dürfte. Aber wie war dieses Wunder zu erreichen, wodurch sollte diese Umwälzung in ihrem Innern und in ihren Ansichten hervorgebracht werden; was konnte sie veranlassen, von dieser ihr lieb und theuer gewordenen Gewohnheit abzuweichen? Das war eine Frage, auf die wir vorläufig noch keine Antwort wußten, nur über die Thatsache waren wir einig, Mittel und Wege dazu würden sich schon finden lassen, und wir wollten sie entdecken. Es sollte unser Geheimniß bleiben, keinem Menschen wollten wir etwas davon verrathen, aber wenn am nächsten Sylvesterabend Tante Johanne thränenlos in das neue Jahr hinüberging und alle Welt dadurch in Erstaunen setzte, dann wollten wir Hand in Hand vortreten und sagen: „Seht uns an, wir, die Ihr beständig „dumme Jungs” nennt, haben dies Wunder bewirkt,” — und im Geiste sahen wir uns schon mit einem Kranz von gefüllten Bonbons belohnt.

Am nächsten Tag hatten wir die erste Conferenz, um einen Plan auszudenken, aber die Sitzung verlief erfolglos. Wir gaben dem kindlich leichten Katzenjammer, der unsere Sinne umnebelt hielt, die Schuld und verschoben die Zusammenkunft auf den 2. Januar. Aber diese endete genau wie die erste, die dritte wie die zweite, die vierte wie die ersten drei zusammen. Als wir am 15. Januar noch zu keinem Resultat gekommen waren, beschklossen wir mit Stimmeneinheit, die nächste Sitzung bis zum 1. December zu vertagen. Wir hatten dann noch einunddreißig Tage Zeit, und was kann man nicht Alles in vier Wochen erdenken und ersinnen. Aber am 1. December hatten wir unseren Plan schon lange vergessen, der uns erst am Altjahrstag wieder einfiel. Nun war es aber die höchste Zeit, wenn wir noch Wunder wirken wollten, das sahen wir nach einiger Ueberlegung auch ein und begannen sofort nachzudenken. Aber das war nun nicht so leicht, wie es aussah, denn es war das schönste Frostwetter, und die Eisbahn erglänzte in nie geahnter Schönheit. So liefen wir denn eine Viertelstunde später auf dem Eise herum und schlichen endlich nach vielen Stunden wie Sünder nach Haus, denn wir hatten die Essensstunde versäumt und sahen uns schon im Geist nach den Worten einer alten Schusterrechung „versohlt und hintergeflickt”. Unser Weg führte uns an Tante Johannes kleinem Häuschen vorbei, und plötzlich fiel uns unsere Unterlassungssünde wieder ein. Von demselben Impuls getrieben, blieben wir vor der Gartenthür stehen und starrten die Mauern an, als wenn sie uns helfen könnten.

„Weißt du was,” rief mein Vetter plötzlich, „ ich hab's. Wir nehmen Tante Johanne ihr Brodgeld weg!”

Meine Tante hatte, wie mehr oder weniger alle alten Damen, die Angewohnheit, Mittags ein kleines Schläfchen zu machen. Bevor sie aber schlafen ging, legte sie auf einen Stuhl in der Veranda zehn oder fünfzehn Pfennige. Es war dies für den Brodmann, der Nachmittags immer noch einmal vorfragte, die Mittheilung: „Ich bin mit meinem Brod nicht ausgekommen, ich brauche noch für zehn oder fünfzehn Pfennige mehr.” Der Bäckersmann legte dann das Gewünschte auf den Stuhl, steckte das Geld in die Tasche, und Tante Johanne fand, wenn sie erwachte, die Stippe für den Nachmittagskaffee vor. Lag kein Geld auf dem Stuhl, so hieß das: „Ich bin genügend versehen, ich brauche nicht mehr.”

„Weißt du,” wiederholte mein Vetter nachdenklich, „wir nehmen ihr das Geld fort, dann hat sie heute Mittag nichts zu essen; das wird ein famoser Witz, paß bloß auf.”

Und ehe ich mir darüber einig war, ob ich ihm beistimmen oder widersprechen sollte, war er schon auf die Veranda gestürzt und kehrte frohlockend mit dem Gelde zurück.

„Denk Dir mal, fünfunfzwanzig Pfennige, sie erwartet gewiß Besuch, stell Dir das nur mal vor, wenn die nachher Alle sitzen und auf den Brodmann warten. Das wird ja zum Todtlachen!” Und voller Freude über den gelungenen Bubenstreich eilten wir den väterlichen Prügeln entgegen.

Der Sylvesterabend brach heran, und pünktlich mit dem Schlage sieben hielten die Verwandten in meinem Elternhause ihren Einzug. Erst als wir an der Tafel Platz genommen hatten, merkten wir, daß ein Stuhl noch unbesetzt war.

„Fehlt denn noch Jemand?” fragte meine Mutter. „Ich dachte, wir wären Alle beisammen. Wer fehlt denn noch?”

Aber bei der großen Verwandtschaft von einigen zwanzig Personen war dies nicht so leicht festzustellen. Bei dem Namensaufruf blieb Tante Johanne die Antwort schuldig.

„I, wo mag die denn nur hin sein?” fragte meine Mutter besorgt. „Sie ist doch sonst die Pünktlichkeit selbst.”

„I, wo mag die denn nur hin sein?” wiederholten die Anderen im Chor, und man erging sich in Muthmaßungen, weshalb Tante Johanne wohl nicht käme. Von dem Stehenbleiben der Uhr bis zu einem Schlaganfall mit gänzlicher Lähmung, der ihr das Gehen unmöglich mache — Tante Johanne hatte nach der Aussage einiger Verwandten in den letzten Tagen „gar nicht besonders gut ausgesehen” — Alles wurde erwähnt, besprochen und das pro und contra reichlich erwogen. Aber alle Vermuthungen erwiesen sich als falsch, denn plötzlich erschien Tante Johanne in der Stubenthür, ein Bild des Schreckens und des Jammers.

„Um Gottes willen, Tante Johanne, wie siehst Du aus, was fehlt Dir denn, was ist geschehen?”

Von allen Seiten wurde sie umringt und zu einem Stuhl geleitet, auf den sie vollständig vernichtet niedersank. Wirr hingen ihr die Locken um die Stirn, und Angst und Entsetzen drückten sich in ihren Zügen aus.

„Denkt Euch,” — ihre Stimme klang, als wäre sie soeben aus dem Grabe erstanden.

„Nun?”

„Ich — bin — be—stoh—len.”

„Bestohlen?”

Entsetzt kreischten die weiblichen Verwandten auf, während die männlichen eine würdevolle Ruhe bewahrten.

„Ja, bestohlen, am hellen lichten Tage.”

Vetter Robert und ich kniffen uns gegenseitig vor Vergnügen in die Arme und stießen uns unter dem Tisch mit Füßen.

Meine Mutter sammelte sich zuerst.

„Du Arme,” tröstete sie, „was magst Du da für eine Angst ausgestanden haben. Ist der Dieb wenigstens verhaftet?”

„Denkt Euch nur, obgleich ich unseren Polizisten sofort benachrichtigt, fehlt bisher von dem Thäter jede Spur. Die Frechheit aber, mit der der Einbruch ausgeführt ist, läßt darauf schließen, daß der Dieb in meinem Hause bekannt ist, und so hoffen wir, seiner bald habhaft zu werden.”

Hätte mein Vetter mir nicht im letzten Augenblcik die Hand in den Mund gesteckt, ich hätte unfehlbar vor Vergnügen „Hurrah” gerufen.

„Und ist die Summe groß, die Dir gestohlen ist?” fragte mein Vater. „Wenn Du dadurch in Geldverlegenheit gerathen bist, will ich Dir selbstverständlich gern helfen.”

„Nein, nein, danke,” lehnte Tante Johanne ab, „so schlimm ist es Gott sei Dank nicht geworden, der Dieb scheint verscheuchtzu sein.”

„Und wie viel hat er denn gefunden?”

Athemlose Spannung hatte Alle ergriffen.

„Denkt Euch nur, mein ganzes Brodgeld, fünfundzwanzig Pfennige.”

Endlich durften wir mit einstimmen in den Jubel und das homerische Gelächter, das ertönte — wenige Minuten später wäre ich aber auch erstickt gewesen.

„Aber Tante Johanne,” fragte mein Vater, während ihm vom Lachen die dicken Thränen die Backen entlang rollten, „wie kannst Du Dich darüber nur so erregen?”

Doch Tante Johanne war sehr beleidigt, daß man ihren Kummer nicht theilte und wie gewöhnlich Alles von der leichten Seite nahm. Auch die heitere, ausgelassene Stimmung der Uebrigen vermochte ihre Sorgen nicht zu verscheuchen, und sie blieb den ganzen Abend über still und traurig.

So kam der Augenblick heran, in dem mein Vater sich zu seiner Rede erhob: es war genau fünf Minuten vor Zwölf. Aber während er sonst in früheren Jahren ernst und feierlich gesprochen hatte, redete er heute humoristisch und schloß mit dem Wunsch, daß das neue Jahr zur Entdeckung des Diebes führen möge, auf daß Tante Johanne wieder froh und glücklich würde.

Da ertönte der erste Schlag der zwölften Stnde, und Tante Johanne schickte sich gerade an, ihre erste Thräne zu vergießen — da stürzten wir vor.

„Tante Johanne, Du sollst nicht weinen, freue Dich, der Dieb ist gefunden, hier ist Dein Geld.”

„Wo habt Ihr es her?”

„Wir wollten uns einen Scherz machen, wir nahmen es selbst.”

„O Ihr, Ihr Nichtswürdigen —”

Sie konnte nicht weiter sprechen, ein Thränenstrom erstickte ihre Stimme, da schlug die Uhr den letzten der zwölf Schläge, und vollständig fassungslos wankte Tante Johanne in das neue Jahr hinüber.

So wie in diesem Jahr hat Tante Johanne nie wieder geweint, allerdings haben wir es auch nie wieder versucht, ihre Thränen zu trocknen.


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