Die Tischordnung.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Badische Presse”, Unterhaltungsblatt vom 7.3., 10.3. und 14.3.1895,
in: „Stralsundische Zeitung”, Sonntagsbeilage vom 5.5.1895,
in: „Humoresken und
in: „Humoresken und Erinnerungen”


Im hohen Familienrat war es beschlossen worden: wir sollten unsere erste Gesellschaft gaben, so ginge es nicht weiter, zwei Jahre wären wir nun schon verheiratet und hätten alle an uns ergangenen Einladungen angenommen, aber noch keine einzige erwidert. Zwar wäre es ja richtig, daß mancherlei Umstände, wie der Besuch des Storches und die damit verbundenen Unruhen und Unbequemlichkeiten uns bisher verhindert hätten, unseren gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen, aber dennoch —

Über dieses „dennoch” schwieg Tante Nelly, die uns den gestern im Familienrat gefaßten Beschluß übermittelte, sich vollständig aus, und überließ es uns, all das Gute, das gestern über uns gesprochen sein mochte, uns zu denken. Vor Familien­beschlüssen habe ich infolge trauriger Erfahrungen einen heillosen Repekt, und daher küßte ich mit aller Ergebenheit Tante Nellys etwas verwelkte Hand.

„Wie gut ihr seid, so an uns und für uns zu denken! Wie immer, habt ihr auch diesmal das Richtige getroffen, seid versichert, daß wir mit Freuden euren Wunsch erfüllen werden.”

Aber kaum hatte Tante Nelly uns verlassen, um die frohe Mär von der bevorstehenden Gesellschaft überall zu verkünden, als ich wutentbrannt ein Buch über die christliche Dukdung, das Tante Nelly meiner Frau mitgebracht hatte, in die Ecke warf.

„Hol' der Teufel die ganze weibliche Verwandtschaft! Weiß der Kuckuck, wo sie die Unverfrorenheit hernehmen, sich um Sachen zu kümmern, die sie doch gar nichts oder im Grunde genommen noch weniger angehen,” und dröhnend schlug ich mit der Faust auf den Tisch.

„Aber Alfred,” bat meine Frau, „wenn du schon so klagst, was soll ich denn erst sagen? Bedenke doch, ich habe doch die ganze Arbeit davon, du hast doch weiter nichts zu tun, als dich an den gedeckten Tisch zu setzen, das Mittagessen zu verzehren und hinterher mit deinen Gästen eine gute Zigarre zu rauchen.”

Das leuchtete mir ein, und nach einigem Nachdenken fuhr ich fort: „Gut — die Gesellschaft wird gegeben, aber wann? Je eher daran, desto eher davon. Heute ist Sonnabend, sagen wir also Montag.”

„Aber Alfred,” klagte meine Frau, „wo denkst du hin? Bis dahin können wir ja nicht einmal Antwort auf unsere Einladungen haben.”

„Gut — also Dienstag.”

„Dienstag ist Diner bei Geheimrats.”

„Na, denn Mittwoch.”

„Mittwoch ist Ball bei dem Kommandeur, aber Donnerstag ginge es vielleicht.”

„Donnerstag habe ich Skatklub, du weißt, wer ohne triftigen Grund fehlt, bezahlt fünfzig Pfennig Strafe; warum sollen wir uns die Gesellschaft unnötig verteuern, die fünfzig Pfennig können wir uns sparen.”

„Freitag dann vielleicht?”

„Freitag habe ich einen Jammer, das ist seit Jahr und Tag so und wird voraussichtlich bis auf weiteres so bleiben.”

„Leider Gottes,” bestätigte meine Frau, „also dann am Sonnabend, heute über acht Tage.”

„Einverstanden,” pflichtete ich ihr bei, „nun aber die schwerste Frage, wen laden wir ein?”

„Erstens Tante Nelly,” begann meine Frau, „zweitens Tante Hanna —”

„Drittens Tante Berta, viertens Tante Male, fünftens Tante Ida, — sechstens — nein, mein Kind, daraus wird nichts. Eine, meinetwegen auch zwei Tanten lasse ich mir gefallen, aber was darüber ist, das ist vom Übel.”

Nach drei Stunden war endlich die Liste derjenigen, über deren Besuch wir uns „unendlich” freuen würden, festgestellt, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch, um die Einladungs­karten auszufüllen. Aber kaum hatte ich Tante Nelly in ihrer Eigenschaft als die Älteste unserer sämtlichen Anverwandten um das Vergnügen ihrer Gesellschaft gebeten, als meine Frau zu mir in das Zimmer trat.

„Du wünschest?” fragte ich

„Ach Alfred, ich habe solche schreckliche Angst vor der Gesellschaft, was sollen wir nur essen?”

„Aber Kind, wie kann man nur über solche einfachen Dinge sich den Kopf zerbrechen? Erstens Suppe, zweitens Fisch, drittens Geflügel, viertens Gemüsegang, fünftens Braten, sechstens Eis, siebentens Butter und Käse, achtens Kaffee, neuntens Zigarren, last not least recht viel Kognak.”

„Ja, gewiß,” bestätigte meine Frau, „aber was für Suppe, was für Fisch und was für Geflügel?”

„Laß mich nur erst die Einladungen schreiben,” bat ich, „dann wollen wir das andere besprechen.”

Eine halbe Stunde später lief Hermine, das Mädchen für alles, nach dem Postkasten, und ich ging in das Zimmer meiner Frau, um mit ihr die Verpflegungsfrage zu besprechen. Ich weiß nicht mehr, wieviel Menüs wir aufstellten und wieder verwarfen, aber der Morgen graute, als wir uns endlich mit dem festen Vorsatz schlafen legten, das Menü am nächsten Tag endgültig festzulegen.

Das war am Sonnabend abend, aber es wurde Donnerstag mittag, bis es „unwiderruflich” beschlossen war, was wir unseren Gästen vorsetzen wollten. Fünf Tage lang aßen wir in Gedanken alle Gerichte, die es überhaupt in Europa und den angrenzenden Weltteilen gibt, fünf Tage lang schwankten wir zwischen Hummer und Kaviar, und als wir uns „unwiderruflich” für Kaviar entschieden hatten, mußten wir Austern nehmen, weil wir das andere nicht bekommen konnten.

So kam der Freitagabend heran. Unsere Gäste hatten alle zugesagt, nicht ein einziger hatte sehr bedauert, der liebenswürdigen Einladung nicht Folge leisten zu können. „Der König rief, und alle, alle kamen,” zitierte ich mit Pathos. Unten in der Küche wirkte und schaffte seit dem Mittag eine Kochfrau; Hermine, das Mädchen für alles, hatte im Laufe des Nachmittags bereits viermal den Dienst gekündigt, weil es ihr zuviel war, und war viermal durch eine versprochene kleine Gehaltserhöhung zum Bleiben bewogen worden, kurz, die Gesellschaft war, bevor sie begonnen, bereits im besten Gange.

Und wiederum dämmerte der Morgen, als ich zu meiner Frau sprach: „Komm', laß uns schlafen gehen.”

Sie stimmte mir bei, aber während wir die Treppe zu dem Schlafzimmer hinaufstiegen, blieb sie plötzlich wie erstarrt stehen.

„Aber Kind, was hast du?” fragte ich besorgt, „hoffentlich bist du nicht krank; das wäre famos, dann könnten wir die Gesellschaft noch wieder absagen.”

Aber meine Frau überhörte das Ruchlose meiner Worte: „Denke dir nur, wir haben ja noch gar keine Tischordnung gemacht.”

Ich lachte laut auf: „Wenn das alles ist, morgen ist auch noch ein Tag —”

„Morgen —” unterbrach mich meine Frau, „morgen habe ich so viel zu tun, daß ich überhaupt nicht weiß, wie ich fertig werden soll. Nein, das müssen wir heute noch besorgen.”

Wir gingen die Treppe wieder hinab und entzündeten von neuem die Lampe in meinem Zimmer. Meine Frau setzte sich an meinen Schreibtisch und ergriff Feder und Papier. „Also du führst natürlich Tante Nelly.”

„Aber ich denke gar nicht daran,” erwiderte ich, „gebe ich deshalb ein paar hundert Mark für diese Gesellschaft aus, um mich den ganzen Abend über Tante Nellys falsche Zähne und falsche Schmachtlocken zu ärgern? Führe du sie doch selber!”

„Aber ich kann doch keine Dame führen — mich muß doch der Landgerichtsrat Ahlmeyer führen!”

„Was, dieser widerliche Mensch?” brauste ich auf, „nein, für den bist du viel zu gut — der kann Tante Nelly führen.”

„Aber Tante Nelly kann ihn ja nicht ausstehen,” jammerte meine Frau, „er hat sie einmal gefragt, warum sie jetzt braune Locken trüge, während sie früher stets schwarze getragen hätte — das verzeiht sie ihm nie.”

„Dann laß den Professor mit ihr glücklich werden,” bat ich, „der Mann ist ja Altertums­forscher von Haus aus, vielleicht entdeckt er an Tante Nelly noch allerlei Schönheiten und heiratet sie —”

„Und wir werden enterbt, das fehlte gerade noch, nein, das geht nicht, der Professor muß die Frau Direktorin führen —”

„Damit sie ihn den ganzen Abend wieder mit ihren Gedichten elendet,” entgegnete ich, „der Professor hat mir neulich mal beim Skat sein Leid geklagt, wie die Frau ihn damit quält. Wenn er mir auch persönlich unsympathisch ist, so soll er wenigstens bei mir vor seinem Quälgeist Ruhe haben.”

„Nun, dann tu mir die Liebe und mach die Tischordnung allein,” bat mich meine Frau etwas gereizt, „ich bin überhaupt so müde, daß ich kaum die Augen aufhalten kann. Wenn du fertig bist, kannst du mich ja wecken und mir dein Werk vorlesen, aber das sag' ich dir, fertig muß die Sache heute abend noch werden.”

Meine Frau verließ mich, und ich zündete mir zunächst eine neue Zigarre an, um mir die Angelegenheit in aller Ruhe vorher zu üerblegen. Es kamen vierzehn Herren und vierzehn Damen; das sollte doch wunderlich zugehen, wenn man die nicht so setzen könnte, daß es für jedermann eine Freude sei. Lächerlich!

Ich begann ernstlich nachzudenken, aber je mehr ich grübelte, desto größer wurde der Wirrwarr, den die achtundzwanzig Personen in meinem Gehirn anrichteten. Ich mußte die Sache zu Papier bringen. Fein säuberlich schrieb ich die Namen der Herren auf die eine Spalte des Bogens, die der Damen auf die andere. Nun hatte ich meine lieben Gäste vor mir und konnte mit ihnen umspringen nach Herzenslust.

„Wollen die Herren so freundlich sein und zu Tisch engagieren, bitte, ganz nach Belieben,” sprach ich mit lauter Stimme.

Dabei ergriff ich einen Bleistift und verband die Herren und Damen in buntem Durcheinander mit Strichen kreuz und quer.

„Gott, ist die Sache einfach,” dachte ich, als meine Gäste, wenigstens schon auf dem Papier, einen kleinen Strich hatten, aber als ich mir die so entstandene Tischordnung näher besah, mußte ich eingestehen: so geht es nicht. Ich führte meine Frau, ein blutjunger Leutnant Tante Nelly und der Professor seine jüngste Tochter.

„Meine Herren, Sie haben sich vergriffen,” sprach ich, „die Beleuchtung hier im Zimmer ist allerdings auch etwas mangelhaft, und ich bitte tausendmal um Entschuldigung, bitte, wollen Sie nochmals engagieren.”

Mit einem Gummi trennte ich die mehr oder weniger zärtlich vereinten Paare und ergriff dann den Bleistift: „En avant, messieurs!” Ich, als Hausherr, ging mit gutem Beispiel voran, machte die Augen zu und fuhr auf gut Glück in die Frauenabteilung. „Die behältst du,” sprach ich zu mir selbst, und als ich die Augen wieder öffnete, hatte ich Tante Nelly erwischt.

„Es ist Schicksalsfügung,” tröstete ich mich, „nun, ein Herr und eine Dame sind versagt, bleiben noch von jeder Gattung dreizehn.”

Und wieder fuhr mein Bleistift auf dem Papier herum, und wiederum wurde es Unsinn.

„Nein, meine Herren, das geht nicht,” sprach ich, „Herr Professor, Sie können doch nicht auch Tante Nelly führen wollen, und mein sehr verehrter Herr Direktor, was wollen Sie denn mit der Frau Konsul sprechen, die nur Englisch versteht, während Sie nur die alten Sprachen beherrschen?”

Ich stützte mein sorgenschweres Haupt in die Hand. „Samiel hilf!” bat ich.

„Damenwahl.”

Mir war, als wenn mir jemand das erlösende Wort zugerufen hätte, ich sah mich um, aber kein Mensch war da.

„Damenwahl.” Natürlich, wie hatte ich darauf nur nicht gleich kommen können?

„Meine Damen, darf ich bitten, zu Tische zu enagieren.”

„Gott, welch reizende Idee,” glaubte ich eine Dame flüstern und flöten zu hören, dann fuhr der Bleistift im Fluge durch die Welt, und nach zwei Minuten war das schwierige Problem gelöst, so ging es!

Die Uhr schlug sechs, als ich mich schlafen legte. Nun mochte kommen, was da wollte, ich hatte meine Aufgabe glänzend gelöst, der beste Oberhof­marschall und Ober-Ober­zeremonien­meister hätte keine bessere Tischordnung zusammenstellen können, als ich es getan. Mochten die Gäste kommen.

Und sie kamen. Pünktlich um sechs Uhr fuhren die ersten Wagen vor, und wenige Minuten später drückte und küßte ich meinen Gästen die Hände und freute mich über die Maßen, sie bei uns zu sehen.

„Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig, alle da, mein Damen, darf ich bitten, zu Tisch zu engagieren — Pardon, ich wollte natürlich sagen, meine Herren — wenn ich bitten darf?”

Mit Tante Nelly eröffnete ich den Zug, und in einer langen Reihe folgten die Gäste neugierig und hungrig unseren Spuren. Dann nahmen wir Platz, und während Hermine, das Mädchen für alles, die Suppe auftrug und der Diener den Champagner einschenkte, ließ ich meine Blicke im Kreise umherschweifen. Wohin ich sah, nur fröhliche, glückliche Gesichter, und ein Gefühl des Stolzes und der Genugtuung, nicht umsonst die vergangene Nacht durchwacht zun haben, überkam mich. Mit meinen Augen suchte ich meine Frau, der ich die von mir aufgestellte Tischordnung bis zum letzten Augenblick verheimlicht hatte, um auch von ihr einen Blick der Zufriedenheit und Anerkennung zu erhaschen, aber sie war so in ein Gespräch mit dem mir höchst unsympathischen Landgerichtsrat vertieft, daß ich nicht umhin konnte, ihm zuzutrinken, damit er wenigstens für eine Sekunde seinen Mund hielt.

Aus der Ecke des Ofens ertönte lustiges Lachen; dort saß mein Freund, der Referendar Nieman, mit einer jungen Dame, die er, wie die ganze Stadt schon lange wußte, heimlich liebte. Lange hatte ich geschwankt, ob ich das sich zärtlich liebende Paar zusammensetzen sollte, ich wollte nicht gern den Schein eines Heiratsvermittlers auf mich laden. Aber mein lieber Freund hatte mir zugeschworen, er würde noch im letzten Augenblick, wenn wir zu Tisch gingen, heftiges Nasenbluten bekommen, falls ich ihm, dem leidenschaftlichsten aller Skatspieler, nicht „Coeurdame” gebe. Ich hatte mich gefügt, und immer und immer wieder trank er mir zu, um mir und sich selbst eine Freude zu bereiten. Denn der Sekt war gut, und da ich mit diesem Getränk nicht kargte, wurde die Stimmung bald immer fröhlicher und lustiger. Selbst Tante Nelly war die personifizierte Liebenswürdigkeit und schien alle ihre Untugenden für heute abend zu Hause gelassen zu haben, und die Frau Direktorin kritzelte mit einem Bleistift in ihrem Notizbuch, das sie bei allen Gesellschaften neben sich liegen hatte, aber in das sie nur dann ihre Gedichte niederzuschreiben pflegte, wenn sie ganz besonders guter Laune war. Den Professor hörte ich mit lauter Stimme über die neuesten Ausgrabungen sprechen, der junge Leutnant versuchte seiner Dame vergebens die entsetzliche Dummheit seiner Rekruten zu schildern, kurz, alle, die da waren, amüsierten sich vortrefflich, und die Wangen meiner kleinen Frau färbten sich bei der lebhaften Unterhaltung mehr und mehr.

„Tante Nelly, was meinst du, wenn wir nun eine Zigarre rauchen?”

„Ganz, wie du meinst, mein Lieber.”

Sie war so süß wie Sacharin, und aus Dankbarkeit küßte ich ihr die Hand. Dann ein kurzes Schurren mit den Stühlen, ein leises Räuspern und Hüsteln, als wenn alles Brot, das gegessen worden war, in der Gurgel stecken geblieben wäre, dann wurde die Tafel aufgehoben. Mit Tante Nelly eröffnete ich den Reigen, und in einem langen Zug folgten die übrigen Gäste hinterher. Weiter folgte ein Händedrücken und ein Händeküssen: „Meine gnädige Frau — mein gnädiges Fräulein — meine sehr verehrte, gnädige Frau.” Endlich waren achtundzwanzig Hände geschüttelt.

„Meine Herren, wenn ich bitten darf — wer von den Herren raucht oder einen Kognak befiehlt —”

Als Pfadfinder ging ich voran, und in langem Zuge folgten die Herren hinterher:

„Bitte, Henry Clay — Upmann — Bock, bitte sich zu bedienen.”

Die Zigarren brannten, der Kognak brannte auch, aber die Unterhaltung war immer dicht vor dem Ausgehen. Woran lag das? Mußten die Kehlen noch mehr angefeuchtet werden? Ich klngelte dem Diener und ließ Bier anbieten, Münchener, Pilsener, Hiesiges und Erlanger, frisch vom Faß.

„Danke,” sagte der erste Gast.

„Danke, nein,” der zweite.

„Vielleicht nachher,” der dritte.

„Ein andermal,” der vierte.

So ging das in den verschiedensten Variationen, alle dankten, nur der junge Offizier und ich nahmen ein Glas.

Mühselig schlich die Unterhaltung weiter; einige Herren flüsterten miteinander und sprachen so leise, daß ich nur die Worte „ungewandt und wenig rücksichtsvoll” verstehen konnte, und wieder andere sahen heimlich nach der Uhr, und der glückliche heimliche Bräutigam sah sehnsuchtsvoll nach der Tür, als wenn er von dort sein Glück erwarte.

Ich wußte nicht mehr, was ich mit meinen Gästen anfangen sollte, und ein Gefühl der Befangenheit überkam mich.

„Meine Herren, wenn wir vielleicht wieder zu den Damen gehen wollen —”

„Gewiß, gern,” schallte es ringsherum, „es ist auch Zeit, daß wir an den Nachhauseweg denken, es ist schon spät, bereits ein halb elf Uhr.”

„Aber meine Herren, es ist ja noch so früh am Tage,” versuchte ich abzulenken, dann gingen wir in den Salon, wo die Damen in einem Halbkreis auf kleinen Sesseln saßen, die Kaffeetasse in der Hand. Die Unterhaltung schien hier wenig lebhaft gewesen zu sein, denn wir wurden mit einem „Ach, endlich erinnern sich die Herren unserer wieder ” begrüßt. Jeder Herr postierte sich hinter dem Sessel einer Dame, die Geistesfunken, die hin- und herüberflogen, erloschen gar bald, und nach einer Viertelstunde rüstete sich alles zum Aufbruch.

Tante Nelly eröffnete den Reigen, und in langem Zuge folgten die Gäste hinterher.

„Meine lieben Kinder, nehmt meinen besten Dank, es war wirklich zu reizend bei euch.”

„Aber ich bitte dich, liebe Tante, wir haben zu danken. — Meine gnädige Frau, es war unendlich liebenswürdig von Ihnen, daß Sie unserer einfachen Einladung gefolgt sind. — Bitte gehorsamst, Herr Geheimrat, nichts zu danken — mein lieber Herr Leutnant, wir hoffen, Sie einmal wieder bei uns zu sehen — meine sehr verehrte Frau Direktor, vielleicht zeigen Sie mir gelegentlich einmal das Gedicht, das der neckische Geist des Champagners Ihnen bei Tisch einzugeben schien — mein lieber Freund, hoffentlich hat dir deine Coeurdame so gefallen, daß du mir bei dem nächsten Skat dafür alle vier Jungens gibst — aber ich bitte, mein gnädiges Fräulein, selbstverständlich bringt der Diener Sie nach Hause.”

So, nun waren sie alle wieder draußen, und mit einem „Gott sein Dank” setzte ich mich auf den Treppenabsatz, um auszuruhen von dieses Tages Qualen, da stürzte auch schon meine Frau herbei, atemlos die Hände ringend, und die Augen voller Tränen.

„Alfred, Alfred, was hast du alles angerichtet?”

„Ich?” fragte ich erstaunt, „ich denke, das Anrichten wäre Sache der Köchin gewesen.”

„Laß deine schlechten Witze,” entgegnete meine kleine Frau erregt, „dazu ist die Sache viel zu ernst. Wie kannst du aber auch nur solche Tischordnung machen!”

„Aber erlaube mal,” erwiderte ich, in meiner Würde als Festordner auf das tiefste gekränkt, „davon verstehst du nichts, alles war wundervoll arrangiert, und alle haben sich ausgezeichnet unterhalten.”

„So ausgezeichnet, daß die Gäste schon vor elf Uhr nach Hause gingen, und daß ich mich bei Tisch halbtot geredet habe, nur damit die Ungeschicklichkeiten, die du begangen, nicht besprochen werden sollten.”

„Worin bestehen denn eigentlich meine Ungeschicklichkeiten?” fragte ich gereizt, „ich habe mir alle nur denkbare Mühe gegeben, allen Anforderungen gerecht zu werden, was habe ich denn gefehlt?”

„Aber Alfred, wie kannst du nur so fragen? Hast du es denn gar nicht bemerkt, daß jeder verheiratete Herr seine eigene Frau zu seiner Linken hatte, daß der Professor neben seiner Tochter saß, daß dein Freund, der Referendar, seine zukünftige Schwiegermutter zu seiner Linken hatte, und daß der junge Leutnant, anstatt ein junges Mädchen zu führen, die Mutter dreier erwachsener Töchter als Tischdame hatte, daß Tante Nelly, anstatt mit dir dem Tisch zu präsidieren, mitten zwischen den Gästen und noch dazu in unmittelbarer Nähe des Landgerichtsrats, ihres erbittertsten Feindes, saß, daß ich, anstatt —” fast ohnmächtig sank ich hintenüber.

„Halt ein,” bat ich, „genug des Unglücks. Aber wenn alles so ist, wie du sagst, warum war Tante Nelly dann mir gegenüber die Liebenswürdigkeit selbst?”

„Um den Landgerichtsrat zu ärgern und um ihm zu zeigen, daß er in ihren Augen Luft sei —”

„Ja, aber,” fuhr ich etwas kleinlaut fort, „worüber haben sich dann die aderen so köstlich unterhalten, und worüber haben sie denn bei Tisch so viel gelacht?”

„Aber Alfred, natürlich über dich und über deine Tischordnung. Die alte Frau Geheimrätin, die absolut keinen Zug vertragen kann, setztest du neben die Tür, und die Frau Obersteuerinspektor, der nichts widerlicher ist als Wärme, gibst du ihren Platz gerade vor dem zum Überfluß noch übermäßig geheizten Ofen —”

„Über mich haben sie gelacht,” wiederholte ich tonlos, „und ich gedachte es so gut mit ihnen zu machen. Und nun habe ich es keinem recht gemacht, keinem — doch,” fuhr ich freudig fort, „einen weiß ich, der mir für seine Tischdame und für seinen Platz dankbar ist, paß auf, morgen erhalten wir die Verlobungs­anzeige von meinem Freund, dem Referendar, ich glaube, heute abend ist die Sache in Ordnung gekommen. Nun aber gute Nacht.”

Und es war am nächsten Morgen noch nicht acht Uhr, als der Postbote mir einen Brief überbrachte. „Einen Brief vom Referendar,” sprach ich frohlockend und triumphierend zu meiner Frau. „Als Verlobte empfehlen sich, siehst du wohl, ich habe doch recht gehabt. Nun wollen wir mal sehen, was der alte Kerl schreibt.”

Ich öffnete den Brief und las:

„Sehr geehrter Herr!”

(„Nanu,” sprach ich, „ich denke, ich bin sein lieber Freund.”)

„Ich kann nicht umhin, Ihnen meine Verwunderung über den Platz auszusprechen, den Sie mir bei Ihrer gestrigen Gesellschaft gaben. Sie werden sich entsinnen, daß Sie mir meine Schwiegermutter in spe, um deren Wohlwollen ich bisher vergebens warb, zu meiner Linken setzten. Ich war dadurch in meiner Unterhaltung auf das äußerste geniert und versuchte vergebens, durch erkünstelte Heiterkeit den Alp, der auf mir lag, abzuwälzen. Ich suchte in eine lustige Stimmung zu kommen und trank mit vollen Zügen Ihren schönen Wein, und zu meiner Schande sei es gesagt, ich trank ein klein wenig zu viel. Und das war mein Unglück. Meine Schwiegermutter in spe, die mich den ganzen Abend scharf beobachtete, teilte mir vor einer Stunde mit, sie habe mit ihrer Tochter Rücksprache genommen, und sie bitte mich, die Besuche in ihrem Hause einzustellen, denn nie und nimmer würde sie ihr einziges Kind einem Manne anvertrauen, der sich in einer Gesellschaft, in Gegenwart so vieler Herren und Damen betränke.

Sie, mein Herr, sind die Veranlassung, daß mir das Glück meines Lebens genommen ist, und Sie werden es begreiflich finden, daß ich unter diesen Umständen den Verkehr mit Ihnen abbrechen muß..

Genehmigen Sie usw.”

Immer und immer wieder las ich diese Zeilen. Dann aber sprang ich wutentbrannt in die Höhe. „Der Mensch muß ja noch betrunken sein, denn ein vernünftiger Mann kann ja unmöglich einen solchen blühenden Unsinn schreiben. Ich gehe sofort zu ihm, diesen Vorwurf lasse ich nicht auf mir sitzen.”

Aber alle meine Bemühungen erwiesen sich als fruchtlos, das Band, das die Herzen verbunden hatte, war zerrissen für immer.

Gebrochen an Leib und Seele, wankte ich nach Hause, und mit feuchten Augen kam mir meine Frau entgegen: „Denk' dir nur, soeben war Tante Nelly hier, um sich bitter zu beklagen —”

Ich lief davon und floh in mein Zimmer, dessen Tür ich zweimal hinter mir abschloß. Lange starrte ich, in dumpfes Brüten versunken, vor mich hin, dann aber tat ich einen Schwur, den ich gehalten habe bis auf den heutigen Tag! Nie wieder mache ich in meinem Leben eine Tischordnung, sondern ich lasse meine Gäste stets nach Belieben angagieren und sich dort hinsetzen, wo es einem jeden gefällt.

Denn wo ist der Mensch, der von sich sagen kann: „Ich habe es bei meiner Tischordnung allen recht gemacht?”


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