König Eduards Testament

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Nebraska Staats-Anzeiger und Herold” vom 11.5.1906,
in: „Deutsche Roman-Zeitung”, 43. Jahrgg. 1906, 2.Bd., S. 425ff. und 458ff.,
in: „König Eduards Testament” und
in: „Der Mann mit den vier Frauen”


König Eduard, wie der neue Onkel meistens genannt wurde, war der Stolz der ganzen Familie, obgleich eigentlich niemand so recht wußte, warum, wesdhalb und wieso.

Vor vielen Jahren war Onkel Eduard, der damals natürlich noch kein Onkel, sondern ein Neffe war, als er wegen Faulheit und Trägheit von der Schule fortgeschickt wurde, nach Hamburg gekommen und dort bei einem Kaufmann in die Lehre gegeben worden. Seine Familie war natürlich außer sich. Daß gerade ihr so etwas passieren mußte, wo sie zu den Honoratioren der kleinen Stadt gehörte! Man versuchte, Eduards Verhalten so viel wie nur möglich zu vertuschen, man sprach von seiner unüberwindlichen Liebe zum Kaufmannsstand und ähnlichen sehr schön klingenden Dingen, aber auch das ließ sich nicht mehr aufrecht­erhalten, als es eines Tages hieß: Eduard hat seinem Herrn und Meister den Inhalt eines Leimtopfes ins Gesicht geschleudert und ist auf und davon, wohin, weiß niemand, wahrscheinlich nach Amerika. Von der Stunde an war Eduard für die Familie tot, um so mehr, als er nie etwas von sich hören ließ. Seine Eltern waren beide schon in seiner frühesten Jugend verstorben, und seine Verwandten schien er ganz vergessen zu haben. Er war und blieb verschollen, und alle atmeten erleichtert auf. Allem Anschein nach hatte der liebe Herrgott ihn zu sich genommen, und das war von dem lieben Herrgott sehr freundlich, denn für diese Welt war er doch nicht zu gebrauchen gewesen.

Um so größer war daher das Erstaunen und vor allen Dingen der Schrecken, als der totgeglaubte Eduard eines Tages gesund und munter in seiner Vaterstadt wieder auftauchte. Er war jetzt beinahe ein Fünfziger, aber trotzdem ein noch sehr gut aussehender Mann mit lachenden, fröhlichen Augen. Auf seine Kleidung gab er sehr viel, und als äußeres Zeichen seiner Wohlhabenheit trug er eine schwere goldene Kette und an dieser eine schwere goldene Uhr, und an dem kleinen Finger der rechten Hand einen Diamantring. Und diesem Diamantring verdankte er es in erster Linie, daß er plötzlich vom verlorenen Sohn zum Stolz der ganzen Familie avancierte.

Mehr als dreißig Jahre war Onkel Eduard in der Fremde gewesen, und vieles hatte sich seitdem natürlich in der Familie verändert, viele waren gestorben, und aus den ehemaligen gleichaltrigen Vettern und Cousinen waren ehrbare Männer und ehrbare Frauen geworden, die schon wieder heiratsfähige Töchter besaßen. Das erste Wiedersehen war natürlich etwas sehr verlegen und peinlich gewesen, zuerst hatte man ihn gar nicht wiedererkannt, dann hatte man sich geschämt, daß man sich in der ganzen Zeit so gar nicht umm ihn gekümmert hatte, und man hatte ihn um Entschuldigung gebeten. „Aber da Du ja selbst nie schriebst, Eduard, und da wir gar nicht wußten, wo Du in der Welt warst, konnten wir Dir ja auch nicht schreiben. Aber Du mußt deshalb nicht glauben, daß wir nicht an Dich gedacht hätten, o nein, wir haben sogar sehr viel an Dich gedacht, jeden Weihnachtsabend und natürlich ganz besonders an Deinem Geburtstag.”

Wenn ich jetzt die ganze Verwandtschaft frage, wann mein Geburtstag ist, da weiß es natürlich kein Mensch, dachte Onkel Eduard im stillen belustigt, dann meinte er: „Laßt es nur gut sein, Ihr braucht Euch wirklich nicht zu entschuldigen, und daß Ihr so viel an mich gedacht habt, beschämt mich tief, denn ich habe nie an Euch gedacht, dazu hatte ich gar keine Zeit, ich hab' den ganzen Tag arbeiten müssen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend.”

Im stillen meinte man, er hätte trotzdem einmal an die Heimat denken können, laut aber sagte man nur: „Du Ärmster, so hast Du Dich quälen müssen? Na, nun bleibst Du aber vorläufig hier und ruhst Dich aus.”

„Ich bleibe sogar ganz hier, jetzt mögen andere arbeiten, ich habe genug,” und war es Absicht oder Zufall, daß er gerade in diesem Augenblick den Diamantring an seinem kleinen Finger drehte?

„Onkel Eduard bleibt ganz hier.” Das Wort rief in allen Kreisen der Verwandtschaft die größte Befriedigung hervor, und jeder betrachtete es als etwa ganz Selbstverständliches, daß man ihn in Zukunft durch doppelte und dreifache Liebe für die Gleichgültigkeit entschädigen müsse, mit der man bisher seinen Lebensweg verfolgt hatte. Selbstverständlich nur, weil dies die Christenpflicht gebot, denn daran, daß Onkel Eduard Junggeselle und anscheinend sehr reich, also der Erbonkel par excellence sei, dachte man natürlich nicht, wenigstens nicht offiziell, und die geheimsten Gedanken gingen ja niemand etwas an, besonders dann nicht, wenn man sie nicht aussprach. Und das zu tun, hüteten sich alle. Und vor allen Dingen schien Onkel Eduard diese geheimsten Gedanken gar nicht zu erraten, er nahm alle Liebenswürdigkeiten als etwas ganz Selbstverständliches hin und nur zuweilen schien es, als blickten seine lustigen Augen noch lustiger, gleichsam als wollten sie sagen: Kinder, gebt Euch doch keine Mühe, ich durchschaue Euch ganz genau. Aber er sagte gar nichts, er lebte still und friedlich dahin und ruhte aus von den Anstrengungen eines an schwerer Arbeit reichen Lebens. Und selbst seine Verwandtschaft mußte ihm das Zeugnis ausstellen, daß er sich bemühe, der beste Onkel der Welt zu sein. Er verlangte sogar nicht einmal, daß ihm etwas geschenkt würde. „Tut mir die einzige Liebe,” bat er, „und beschenkt mich nicht. Was ich brauche, habe ich, und wenn mir etwas fehlen sollte, kaufe ich es mir selbst, dann habe ich wenigstens die Gewißheit, daß ich es auch so bekomme, wie ich es haben will. Vor allen Dingen macht mir keine Handarbeiten, ich hasse die Dinger, schon weil während der Arbeit selbst so viel dabei gescholten wird, trotzdem sie ein Zeichen der Liebe sein sollen. In derselben Stunde, in der ich die erste Schlummerrolle erhalte mit der Aufschrift ,Nur ein Viertelstündchen', wnadere ich wieder nach Amerika aus, und die Nichte, die mir den ersten Wonnekloß arbeitet, erwürge ich ebenso wie den Neffen , der mir eine Laubsägearbeit macht.”

Das hörten alle Nichten und Neffen mit Freuden, und auch die Erwachsenen waren über diese Worte glücklich. Man hatte so wie so schon so viel Menschen zu beschenken, und einen Mann wie Onkel Eduard konnte man doch nicht mit Kleinigkeiten abspeisen. Wenn man dem etwas gab, mußte es doch schon etwas sehr Schönes sein, und das kostete viel Geld, und gerade das war in der Familie nicht allzu reichlich vorhanden.

Und im Anschluß an diese erste Rede hielt Onkel Eduard gleich noch eine zweite: „Damit gleich alles zwischen uns klar gemacht wird,” wie er meinte. Dann sagte er: „Ihr schenkt mir nichts, und ich schenke Euch auch nichts, wenigstens nie etwas anderes, als bares Geld. Ich habe hier im ganzen zehn Nichten, sieben Neffen, drei Vettern und vier Cousinen, so daß jede zweite Woche im Jahr Geburtstag ist. Und Ihr könnt von mir verlangen, was Ihr wollt, aber daß ich mir jede zweite Woche den Kopf darüber zerbreche, was Paula, Anna, Käthe, Emil, Berta, und wie sie alle heißen, sich wünschen, daß ich jede zweite Woche alle Läden durchstöbere, nur um schließlich irgendeinen Unsinn zu kaufen, das könnt Ihr nicht von mir verlangen. Ihr bekommt bar Geld und damt basta.”

„Echt amerikanisch,” dachte die Verwandtschaft. Poetisch fanden sie seine Worte ja gerade nicht, aber schließlich: bar Geld lacht, und wenig würde Onkel Eduard schon nicht schenken. So freuten sich denn alle auf die Taler, die Goldstücke und die Hundertmarkscheine, die ein jeder je nach seinem Alter erhalten würde.

Aber in diese Freude mischte sich gar bald ein Wehmutstropfen, denn Onkel Eduard schenkte nicht in bar, sondern in Wechseln auf die Zukunft, und die Höhe derselben verschwieg er.

„Sieh mal, mein lieber Karl,” sagte er eines Tages zu seinem Neffen, der seinen Geburtstag feierte und sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob er mit seinen vierzehn Jahren in bezug auf das Geldgeschenk zu den Kindern oder schon zu den Erwachsenen gerechnet werden würde, „sieh mal, mein Junge, wenn ich Dir jetzt bar Geld schenke, dann ist es in wenigen Tagen für nichts und wieder nichts ausgegeben, und ich habe mir mein Geld viel zu sauer verdient, als daß Du jetzt auch nur den kleinsten Teil davon für Bonbons und Kuchen ausgibst. Deshalb lege ich Dir lieber etwas Geld auf die Sparkasse, und wenn Du erwachsen bist, wird Dich das Geld, das Du dann ausgezahlt erhältst, mehr freuen, als heute.”

Und wie bei dem Neffen Karl machte er es bei allen Verwandten, bei groß und klein, bei jung und alt. Und wenn er zum Gratulieren kam, sagte er nur stets: „Ich habe etwas für Dich auf die Bank gebracht.” Aber über das Wieviel schwieg er sich jedesmal aus, und fragen mochte man natürlich nicht, das hätte ja sonst beinahe so ausgesehen, als ob man sich etwas aus Onkel Eduards Geld mache, und den Verdacht durfte man doch nicht aufkommen lassen.

„Wieviel Vermögen Onkel Eduard wohl eigentlich haben mag?” Das war die große Frage, die beständig die Gemüter der Verwandten beschäftigte. Man hätte es rasend gern gewußt, teils aus Neugierde, teils, um wenigstens ungefähr zu wissen, wieviel man später unter Umständen erben würde oder wenigstens erben könnte. Aber fragen konnte man natürlich nicht. Und Onkel Eduard selbst sprach nie über sein Geld. Nur einmal hatte er gesagt: „Wenn ich daran denke, wie ich früher arbeiten muße nur, um überhaupt leben zu könne, und wie ich jetzt im Überfluß dasitze, dann bilde ich mir wirklich oft ein, ich wäre ein König.” Und von diesem Tage an hieß er in der Familie nur noch „König Eduard”, und halb im Ernst, halb im Scherz ließ er es sich gefallen.

Aber die Hauptsache war, er hatte erklärt, daß er im Überfluß lebe. Das erweckte im ersten Augenblick große Hoffnungen, dann aber sah man ein, daß das Wort „Überfluß” sehr dehnbar sei. Onkel Eduard brauchte ja nichts für sich selbst, er rauchte sehr gute Zigarren und trank sehr guten Whisky, aber sonst gab er ja kaum etwas für sich aus, er war ja beständig in der Verwandtschaft eingeladen und hatte in jeder Familie seinen bestimmten Tag, an dem er dort zum Mittag- und meistens auch zum Abendessen erschien. An Anfang hatte man ihn mit tausend Freuden eingeladen, schon um ihm zu zeigen, wie man über seine Rückkehr glücklich sei, aber auf die Dauer, jahraus, jahrein, empfand man es denn doch als Last, ihn so häufig zu Gast zu haben. Einmal hatte es seine Schwierigkeiten mit dem Speisezettel, denn Onkel Eduard konnte doch nicht heute bei Tante Sophie dasselbe essen, das er gestern bei Onkel Fritz gegessen hatte, dann aber mußte man sich auch mit dem Reinmachen, der Wäsche und tausend anderen Dingen stets so einrichten, daß er nichts davon merkte, denn mit solchen Sachen durfte er nicht belästigt werden. Onkel Eduard merkte natürlich ganz genau, wie er den andern häufig zur Last war, und mehr als einmal bat er: „Kinder, laßt mich doch im Hotel essen,” aber ein Sturm der Entrüstung war jedesmal die Antwort darauf: „Das darfst Du uns nicht antun, was würde die Stadt dazu sagen! Es ist ja so wenig, was wir für Dich tun können, und diese Freude, daß wir uns wenigstens etwas um Dich kümmern dürfen, wirst Du uns doch nicht rauben.”

So ging ein Jahr nach dem anderen dahin. Eiegntlich begriff es die Verwandtschaft nicht ganz, daß Onkel Eduard es so lange in der kleinen Stadt aushielt, und ganz begriff Onkel Eduard es selber nicht. Oft dachte er daran, seinen Wohnsitz nach der Residenz zu verlegen, aber irgend etwas hielt ihn hier fest, über das er sich selbst nicht klar war, bis er eines Tages zu der Erkenntnis kam, daß er trotz seiner zweiundfünfzig Jahre verliebt sei, verliebt bis über beide Ohren in seine Nichte Käthe. Das war ein zwanzigjähriges, lustiges, junges Ding, zierlich und graziös wie eine Elfe, fröhlich und übermütig wie ein Kobold, die mit großen, blauen Augen lachend in die Welt sah, bis sie dann doch eines Tages traurig den Kopf hängen ließ.

„Wo drückt Dich der Schuh?” fragte Onkel Eduard in herzlicher Teilnahme, als er einmal mit ihr allein war.

Aber statt zu antworten, fiel sie ihm um den Hals und weinte bitterliche Tränen.

Zärtlich streichelte Onkel Eduard ihre blonden Locken und das kleine, zarte Gesicht. Er versuchte sie zu trösten, so gut er konnte, nicht durch Worte, sondern nur durch die Liebe, die er in den leisen Druck seiner Hand hineinlegte. Und doch war er selbst todestraurig, denn diese Minute bewies ihm, daß sie in ihm nie etwas anderes gesehen hatte als nur den Onkel. Es war ja auch ein Wahnsinn von ihm gewesen, zu glauben, daß sie ihn anders lieben könne, ihn, der doch in ihren Augen ein Greis sein mußte.

Mit einem schweren Seufzer begrub er seine Liebe, dann fragte er, gleichsam, als hätte sie ihm schon die Geschichte ihres Kummers erzählt: „Wie heißt er denn?”

„Fritz, Onkel Eduard,” schluchzte sie.

„Also Fritz,” wiederholte er, und dann nahm er sie auf seinen Schoß. Sie schmiegte sich wie ein Kind an seine breite Brust und dann erzählte sie ihm alles: Er war der erste Provisor in der Apotheke, und so schön, und so nett, und so fleißig, und sie liebten sich schon lange, aber gestanden hätten sie es sich erst vor ein paar Tagen, aber an eine Heirat sei nie zu denken, denn er sei ganz arm, und er müsse seine Mutter mit ernähren und auch noch einen Bruder, der vollständig gelähmt sei.

„Ach, Onkel, es ist zu schrecklich — ich habe ihn doch so über alles lieb.”

Wieder strich er zärtlich über ihre Haare und über ihr kleines Gesicht: „Na warte nur, bis ich tot bin,” meinte er schließlich, „ewig kann das ja nicht mehr dauern, und wer weiß, vielleicht ist dann so viel für Dich da, daß Du ihn doch heiraten kannst.”

Mit großen Augen sah sie ihn ganz entsetzt an, dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals, als wolle sie ihn festhalten für immer: „Nein, Onkel Eduard, Du sollst nicht sterben, Du nicht. Meinetwegen alle anderen Menschen, aber Du mußt bei mir bleiben, Du bist so lieb und gut. Und wenn ich denn Fritz nicht bekommen kann, dann will ich Dich wenigstens behalten, bis ich tot bin.”

Er küßte sie zärtlich auf die Stirn und versuchte, sie von neuem zu trösten. Sie sei noch so jung, vielleicht könne doch noch alles gut werden und die echte Liebe verzage nicht gleich, sondern blicke freudig und voller Hoffnung in die Zukunft.

Käthe versprach, seine Worte zu beherzigen, aber trotzdem wurde sie von Tag zu Tag immer stiller und immer trauriger, und Onkel Eduard erging es ebenso. Er konnte es nicht mit ansehen, wie Käthe litt, und beständig sagte er sich: mach sie glücklich. Aber wenn er dann an den anderen dachte, den er haßte, ohne ihn je gesehen zu haben, dann war ihm, als würde er es nicht überleben, daß der andere bei ihr das Glück fände, das er selbst vergebens erhofft hatte.

Bis dann doch der Tag kam, an dem er Herr über sich selbst wurde, an dem er als Sieger aus dem Kampf hervorging.

„Aber dabei sein will ich nicht, wenn die beiden sich verloben, das ist mehr, als ein Mensch von mir verlangen kann.”

Aber am Mittag desselben Tages, gerade als die ganze Familie eben zu Tisch gehen wollte, der Provisor in Frack und weißer Binde erschien, um feierlich Käthes Hand zu erbitten und dabei erzählte, er habe in der Lotterie das große Los gewonnen — hunderttausend Mark! — und er könne sich nun eine eigene Apotheke kaufen und eine Frau ernähren, da saß Onkel Eduard doch dabei und freute sich im stillen an dem namenlosen Glück seiner Käthe. Und als der Herr Provisor mit seinem feierlichen Antrag fertig war, da geschah etwas ganz Unerwartetes, da fiel Käthe nicht ihrem geliebten Fritz um den Hals, sondern sie sprang Onkel Eduard auf den Schoß und küßte ihn, daß ihm fast der Atem verging. „Du lieber, guter, Du einziger Mensch Du!”

„Was kann ich denn dafür, daß Dein Fritz in der Lotterie gewonnen hat?” fragte er ganz ernsthaft, aber seine lustigen Augen versuchten vergebens, den Schalk zu verbergen, und von neuem schmiegte sie sich zärtlich an ihn.

Von dem Tage an war es für die Familie eine feststehende Tatsache, daß Onkel Eduard ungezählte Millionen besaß, denn an den Lotteriegewinn glaubte natürlich kein Mensch, obgleich sowohl Fritz wie Onkel Eduard jeden Meineid daraufhin leisten wollten. Wie reich mußte ein Mensch sein , der an einem Tage hunderttausend Mark verschenken kann? Das war ja gar nicht auszurechnen! Und ganz unwillkürlich wurden alle noch freundlicher gegen ihn.

Um so größer war daher die allgemeine Enttäuschung, als es plötzlich hieß: „Onkel Eduard will nach Berlin übersiedeln, das Leben in der Kleinstadt behagt ihm nicht mehr.”

Wäre die Welt eingestürzt, so hätte das auf die Verwandtschaft keinen größeren Eindruck machen können. Zuerst waren alle sprachlos, aber als sie die Sprache wiedergefunden hatten, versuchten sie einzeln und zusammen, Onkel Eduard umzustimmen. Der aber blieb unerbittlich; seitdem seine Käthe geheiratet hatte und in eine andere Stadt gezogen war, hielt ihn hier ja gar nichts mehr.

So traf er denn alle Vorbereitungen, um nach der Residenz überzusiedeln, aber es kam nicht so weit: eines Morgens durcheilte die Schreckenskunde die kleine Stadt, daß Onkel Eduard tot im Bett aufgefunden sei — ein Gehirnschlag hatte seinem Leben ein sanftes und schnelles Ende bereitet.

Onkel Eduard war tot! Und der erste Gedanke, der alle beseelte, war: ob er wohl ein Testament hinterlassen hat? Wie oft hatte man ihn früher nicht fragen wollen, ob er testiert hätte! Aber man hatte es nicht gewagt, das hätte ja so ausgesehen, als ob man auf eine etwaige Erbschaft rechnete, und das ging doch nicht. Jetzt aber machten sich alle Gewissensbisse, daß sie nicht doch danach gefragt hatten. Was dannn, wenn er ohne Testament gestorben war?

Aber alle Befürchtungen erwiesen sich als grundlos, und wenige Tage nach seiner Beisetzung versammelte sich die ganze Familie in dem Rathaus, um bei der Vorlesung des Testaments zugegen zu sein. Alle bemühten sich, aufrichtige Trauer zur Schau zu tragen, aber trotzdem gelang es niemand, die Aufregung, die Neugier zu unterdrücken. Was würden die nächsten Minuten ihnen bringen? Gewiß, sie hatten Onkel Eduard alle sehr gern gehabt, wennngleich seine häufigen Besuche ihnen viele Kosten und viele Arbeit verursacht hatten, aber trotzdem, wenn das Geld nun einmal da war, warum sollte man es da nicht nehmen?

Da erhob sich der Notar: „Auf Wunsch des Verstorbenen, der auch mir ein lieber Freund war, habe ich Ihnen zunächst die Summen bekanntzugeben, die der Entschlafene für Sie an Geburtstagen auf der Bank eingezahlt hat.”

Er machte eine kleine Pause, gleichsam, als wolle er die Spannung der Anwesenden noch erhöhen, dann las er die Summen vor, und es hätte nicht viel gefehlt, und alle Anwesenden wären ohnmächtig geworden. Onkel Eduard mußte jedesmal nie mehr als ein Fünfmarkstück eingezahlt haben, denn selbst die Erwachsenen erhielten nur ein paar hundert Mark.

Der Notar tat, als bemerke er das Entsetzen der anderen gar nicht, sondern erbrach das Testament. „Ich bitte um freundliches Gehör.”

Man versuchte, sich zu sammeln — jetzt kam ja erst die Entscheidung.

Onkel Eduards letzter Wille war kurz und bündig, aber darum nicht minder schmerzhaft. Er lautete einfach: „Ich vermache mein ganzes Vermögen im Betrage von einer Million Mark meiner Vaterstadt.”

Das war zu viel!

Tante Sophie fiel in Ohnmacht, und der vierzehnjährige Karl fing bitterlich an zu weinen. Dem hatte sein Vater für den Fall, daß er viel erben würde, ein neues Fahrrad versprochen, und nun bekam sein Vater gar nichts. Und er mußte weiter auf seinem alten Rad fahren, das nicht mal ordentlich mehr Luft hielt und das nicht mal Freilauf hatte. Und die anderen hatten alle Freilauf, und er hatte schon seinen Freunden erzählt, er bekäme auch eins mit Freilauf, und nun bekam er gar nichts. Und je mehr er daran dachte, desto mehr mußte er weinen.

Da trat der Notar auf ihn zu. „Wie heißt Du mit Vornamen?”

„Karl!” schluchzte der.

„Und warum weinst Du denn so, mein Junge?”

Den wahren Grund ganz allein anzugeben, genierte er sich plötzlich,und so sagte er denn mit weinender Stimme: „Weil Onkel Eduard tot ist — — und weil ich nun kein neues Rad bekommen.”

„Na, tröste Dich nur,” meinte der Notar, „vielleicht bekommst Du doch noch eins.” Dann nahm er seinen Platz wieder ein. „Bevor wir auseinander gehen, habe ich Ihnen mitzuteilen, daß noch ein zweites Testament des Verstorbenen vorliegt, und ich habe die Pflicht, Sie mit dem Inhalt desselben ebenfalls bekanntzumachen.”

Ein „Aha!” ging durch die Reihen, und alle atmeten erleichtert auf. Und Tante Sophie, die man bisher vergebens versucht hatte, aus ihrer Ohnmacht zu erwecken, schlug ganz von selbst wieder die Augen auf. Es war ja auch gar nicht möglich, daß sie alle hätten leer ausgehen sollen!

Der Notar öffnete das zweite Kuvert und entnahm demselben zuerst einen Brief.

„Meine lieben Verwandten! Fürchtet Euch nicht! Das Testament, in dem ich die Stadt zum Erben einsetze, ist schon deshalb gesetzlich ungültig, weil die Unterschrift der Zeugen und des Notars fehlen. Ich habe Euch nur einen kleinen Schrecken einjagen wollen, und wenn mir in diesem Augenblick etwas aufrichtig leid tut, so ist es, daß ich bei der Vorlesung desselben nicht zugegen sein kann, um Eure entsetzten Gesichter zu sehen und um über Eure Enttäuschung laut aufzulachen. Ich werde in diesem Augenblick für Euch genau wieder der schlechte Mensch sein, der ich für Euch als Junge war, weil ich die griechischen Vokabeln nicht lernen konnte, und weil ich meinem Lehrmeister auskniff, der mich ungerechterweise züchtigen wollte. Als ich reich zurückkehrte, war ich natürlich der Stolz der Familie. Aber ich trage Euch das nicht nach, denn auch Ihr seid ja Menschen, und dem Gelde beugen sich alle. — Ihr habt mir viele Freundlichkeiten erwiesen, aus welchen Gründen, soll dahingestellt bleiben, Liebe hat mir nur eine entgegengebracht, Käthe, und sie soll deshalb auch die Hälfte meines Vermögens erben.”

Freundliche Blicke waren es gerade nicht,die in diesem Augenblick auf die junge Frau fielen, aber die merkte nichts davon; in ihrer aufrichtigen Trauer um den Verstorbenen war ihr die Höhe der ihr zufallenden Erbschaft ganz gleichgültig.

Der Notar las weiter:

„Käthe ist die einzige, die meinen Tod beweinen wird. Aber vielleicht irre ich mich doch, und deshalb bestimme ich, daß der Rest meines Vermögens, abzüglich der Euch ausgesetzten Legate, zu gleichen Teilen denjenigen zufallen soll, die bei der Testaments­eröffnung mir noch eine Träne nachweinen. Warum sie weinen, ob aus Trauer oder aus Enttäuschung — die ja schließlich auch eine gewisse Trauer in sich schließt — soll ganz gleichgültig sein. Der Notar ist verpflichtet, die Namen derjenigen, die um mich weinen, festzustellen und in meinem Sinne über mein Geld zu verfügen.”

Und da geschah etwas Unerwartetes: mit einem Male weinten alle, die Großen und die Kleinen, die Jungen und die Alten, die Frauen und die Kinder, und selbst die Männer schneuzten sich und trockneten sich die Augen. Und als dann eine Stimme sagte: „Ach, der liebe, gute Onkel Eduard —”, da wurde plötzlich die Erinnnerung an den Toten in allen wach, und die Tränen flossen wie leise Bächlein.

Der Notar sah es, und ein leises, spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund, dann sagte er: „Die Tränen machen Ihnen alle Ehre, aber sie kommen zu spät — nur einem einzigen haben sie genützt, das ist der junge Karl, für den ich das Geld bis zu seiner Mündigkeit zu verwalten haben.”

Unwillkürlich blickten alle in diesem Augenblick auf den Knaben Karl, und während der bisher der Verzug und der Liebling aller Tanten, Onkel, Vettern und Basen gewesen war, fanden sie ihn plötzlich gräßlich und unausstehlich und begriffen nicht, was sie früher an ihm gehabt hatten. Nur der Vater zog ihn zärtlich zu sich heran, und obgleich er sich vorhin über sein dummes Weinen gräßlich geärgert hatte, küßte er ihn jetzt voller Liebe auf den Mund — — er war doch ein sehr guter Junge.


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© Karlheinz Everts