Sein Schwur.

Erzählung von Freiherr von Schlicht.
in: „Svenska Tidningen” vom 15.5.1919 unter dem Titel „Hans ed”
(Die Fortsetzung findet sich in der 2. Ausgabe des selben Tages) und
in: „Unsere Feldgrauen”


Er wurde in seiner Kompagnie, wenn man von ihm sprach, nie anders als „der Rote” genannt, nicht etwa, als ob er der einzige war, der bei seinem Dienstantritt dem Regiment als offenkundiger Sozialdemokrat überwiesen wurde, ach nein, er war da nicht der einzige, fast mehr als die Hälfte der Mannschaften war Rote, und sie waren stolz darauf. Aber trotzdem, „der Rote” war und blieb nun einmal der offiziell Rote, weil er schon vor Beginn seiner Dienstzeit in einer sozialdemokratischen Versammlung eine aufreizende Rede gegen das Militär gehalten hatte, die ihm eine mehrere Monate lange Gefängnisstrafe einbrachte, er war der einzige bereits politisch Vorbestrafte, und das hatte den Feldwebel wohl veranlaßt, ihm einmal öffentlich vor der Front zuzurufen: „Das sollen Sie, der Rote, sich bei dieser Gelegenheit gesagt sein lassen, bei Ihnen kommt es uns allen viel weniger auf Ihre militärischen Leistungen an, als auf Ihre militärische Gesinnung, und ehe die Ihnen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, werden Sie aus meinem Munde kein Wort des Lobes zu hören bekommen, und wenn Sie auch tausendmal den besten Parademarsch und die tadellosesten Gewehrgriffe machen. Das können Sie, der Rote, sich merken.”

Und bis auf seine Gesinnung war der wirklich ein tadelloser Soldat, groß und kräftig gewachsen, mit starker Brust, schnurgeraden Beinen, einem hübschen, intelligenten Gesicht mit hellen, klugen, blauen Augen. Es war für jedes Vorgesetzten Auge eine Freude, wenn er exerzierte, er spielte bei den Griffen mit dem Gewehr wie mit einem Gummiball, seine Beine schlugen bei dem Marsch den reinen Trommelwirbel in der Luft, und auch in den Instruktionsstunden blieb er auf keine Frage die Antwort schuldig. Er war entschieden der klügste und befähigste Mann der ganzen Kompagnie, und deshalb war es nach der Ansicht aller Vorgesetzten ein doppelter Jammer, daß gerade dieser militärisch so ausgezeichnet veranlagte Mann ein Roter sein mußte. Man versuchte, ihn zu bekehren, man wirkte väterlich wohlwollend auf ihn ein, man gab ihm gute, patriotische Bücher zu lesen, die von den letzten Kriegen und von ihren Helden, von den Königen und den deutschen Kaisern handelten. Und da er sie lesen mußte, las er sie auch, weil er sonst wegen Ungehorsams bestraft worden wäre. Aber niemand konnte es ihm verbieten, daß er im stillen leise und spöttisch lachte, wenn man ihm abermals ein solches Buch in die Hand drückte, und niemand konnte ihn hindern, sich sein Teil zu denken, während er auf dem Exerzierplatz die Befehle der Vorgesetzten ausführte — diese Befehle, die aus einem denkenden Menschen einen Teil einer Maschine machten, die jedes selbständige Handeln und Empfinden ausschaltete, die den einzelnen geradezu erniedrigten und ihn zu einem willenlosen Geschöpfe stempelten. Überhaupt der ganze Militarismus! Er wußte es besser, daß das Heil des Volkes einzig und allein darin bestand, sobald wie möglich ein Milizheer einzuführen, wie es die Schweiz hatte. Und mußte man nicht das Lachen bekommen, wenn man diesen Vorgesetzten zusah, die da rechtsum, linksum, Front und kehrt und ähnliche Albernheiten mit einer Wichtigkeit betrieben, als hinge dereinst das Schicksal des Vaterlandes einzig und allein davon ab. Dazu das ewige Einerlei des Dienstes, immer und immer wieder dasselbe. Und dann die Vorgesetzten! Diese jungen Leutnants, die kaum trocken hinter den Ohren waren, und die sich aufspielten, als sei die Welt nur ihretwegen geschaffen worden. Die Hauptleute, die in der beständigen Furcht vor der Verabschiedung von ihren Mannschaften das Unmöglichste forderten, um wenigstens das Menschenmögliche zu erreichen. Die Herren Stabsoffiziere, die sich so unendlich klug vorkamen und die so klein, ach so winzig klein wurden, sobald eine Exzellenz oder ein General nur sein Kommen anmeldete. Und selbst die höchsten Exzellenzen, die die Weisheit angeblich mit Löffeln gefressen hatten, auch die wurden eines Tages ganz klein, sobald sie den Abschied bekamen. Gab es einen größeren Gegensatz, als den zwischen einer hohen Exzellenz, vor der vorgestern noch ein Armeekorps gezittert hatte, und demselben Mann vierundzwanzig Stunden später im schwarzen Rock und Zylinder, eine abgetane Größe, die nicht einmal mehr der dümmste Rekrut zu grüßen brauchte? Der ganze Mummpitz war ja eigentlich nur zum Lachen, und oft wollte er den glühenden Haß, der sich in ihm gegen den ganzen Militarismus festgesetzt hatte, aus seinen Gedanken verdammen. Er wollte das, was er doch nicht zu ändern vermochte, lediglich von der lächerlichen Seite nehmen, aber er brachte das doch nicht fertig. Er gedachte dann immer wieder des Schwures, den er sich selbst in jenen langen Monaten täglich aufs neue leistete, als er in der Gefängniszelle seine Strafe abbüßte, weil er es trotz seiner Jugend gewagt hatte, in öffentlicher Versammlung derartig aufreizend gegen das Militär zu sprechen. Jeden Morgen, wenn er in seiner Zelle auf der Pritsche erwachte, hatte er sich seinen Eid erneuert, und immer wieder dachte er an den, so oft er seinen Hauptmann vor der Front sah. Der Mann tat ihm eigentlich leid, denn er wußte wie alle in der Kompagnie, daß der, weil er nicht besonders begabt war, täglich aufs neue um seine Existenz kämpfte, das auch schon mit Rücksicht auf Frau und Kind, da er nicht reich war. Aber er war nun einmal sein Hauptmann. Als Vorgesetzter vielleicht besser und nachgiebiger, als es mancher andere an seiner Stelle gewesen wäre, aber trotzdem sein Hauptmann, den er schon deshalb aus ehrlichster Überzeugung haßte und dem sein Schwur gegolten hatte, den er sich damals ablegte und der mit den Worten beginnt: Wer da auch später immerhin dein Hauptmann werden mag — — —

Aber was er sich im Frieden gelobte, konnte er nur ausführen, wenn es Krieg gab, aber den würde es ja nicht geben, selbst wenn die Fürsten es wollten. Die Genossen würden den Krieg schon zu verhindern wissen. Wie ein Mann würden sie sich alle gegen den Krieg erklären, freiwillig würde keiner von ihnen dem Rufe zur Fahne folgen, mit Gewalt würde man sie zusammentreiben müssen, und wer konnte wissen, wer da Sieger blieb.

Bis es dann doch Krieg wurde, und bis da alles ganz anders kam, als „der Rote” und mit ihm zahllose andere Genossen es sich gedacht hatten. Der Kaiser hatte den Krieg nicht gewollt, er hatte alles getan, was er nur konnte, um ihn zu verhindern. Und als erst alle Einzelheiten bekannt wurden, wie falsch und wortbrüchig der russische Freund und Vetter gehandelt, da gab es nirgends mehr ein Auflehnen gegen diesen Krieg, da betrachtete selbst „der Rote” sein Gewehr mit beinahe liebevollen Blicken, während er zu sich sagte: „Du wirst deinen Anschauungen natürlich treu bleiben, aber trotzdem während des Krieges deine Pflicht tun, nicht nur dem Zwange gehorchend, sondern gern und freudig. Und wenn dein Regiment an die Ostgrenze kommt, da kann sich mancher Russe, der mit dir und deinem Gewehr Bekanntschaft macht, von Herzen gratulieren, aber er muß sich damit beeilen, denn sonst könnte es damit für ihn zu spät werden.”

Aber anstatt nach dem Osten kam sein Regiment nach dem Westen. Das wollte ihm zuerst nicht recht in den Sinn, sein Haß galt eigentlich nur den Russen, bis dann die aus Belgien kommenden Nachrichten auch bei ihm die Wut gegen die Franzosen entflammten, bis auch er es kaum noch abwarten konnte, in das Gefecht zu kommen und bis er dann mit seiner Truppe an der ersten Schlacht teilnahm. Eine Schlacht von drei Tagen, die mehr einem Schlachten glich, wenn man es mit ansah, wie die feindlichen Schwadronen von der preußischen Kavallerie zusammengehauen, wie die französische Infanterie von unseren Maschinengewehren niedergemäht wurden.

Aber er, der mit offenen Augen an dem Kampfe teilnahm, sah noch etwas anderes, nicht den für ihn selbstverständlichen, beispiellosen Mut der Truppen, für die es keinen Aufenthalt im Vorwärtsstürmen und erst recht kein Zurück gab. Er sah die beispiellose Zucht und Ordnung des deutschen Heeres, und er sah, wie selbst im stärksten feindlichen Feuer die Griffe und die Bewegungen ausgeführt wurden, als stände man auf dem Exerzierplatz.

Und er sah noch eins: die preußischen Leutnants, denen bisher sein Haß, sein Spott und sein Hohn gegolten hatte, und zu denen selbst er jetzt mit Verwunderung aufblickte. Waren diese jungen Menschen, die da mit Todesverachtung ihren Leuten voran gegen den Feind stürmten, dieselben, die noch vor wenigen Wochen mit dem Monokel im Auge, in Lackstiefeln und dem möglichst unvorschriftsmäßig hohen Kragen durch die Straßen der Stadt schlenderten und sich als die Herren der Schöpfung von den kleinen Mädchen bewundern ließen? Waren diese Leutnants, die da jetzt mit den Mannschaften das Strohlager teilten, die mit ihnen das Mannschaftsessen aus der Feldküche verzehrten, die da vor allen Dingen nie knurrten und murrten, waren das dieselben Menschen wie die, die sich noch vor einigen Wochen darüber mokiert und es als eine ihnen zugefügte Beleidigung betrachteten, wenn ein Diner, zu dem sie geladen waren, nicht all ihren Erwartungen entsprach? Und waren diese Leutnants und diese Vorgesetzten, die auf dem Marsche und im Biwak mit ihren Mannschaften plauderten und hin und wieder sogar einen Scherz machten, die da so taten, als ob es keine Schranke und keine Grenze zwischen den Vorgesetzten und den Untergebenen gäbe — waren das dieselben Menschen, die da zu Hause oft vom Hochmutsteufel gepackt waren und die jeden armen Teufel erbarmungslos in Arrest steckten, wenn der einmal nicht ganz vorschriftsmäßig gegrüßt hatte? Als ob von solchen Kleinigkeiten das Wohl des Heeres und im Falle eines Krieges der Sieg abhinge.

Nun war der Krieg da, und der Sieg war bisher den deutschen Fahnen treu geblieben. Wirklich nur deshalb, weil die neue feldgraue Uniform es den Gegnern erschwerte, uns nicht nur auf weite, sondern auch auf nahe Entfernung zu erkennen, siegten wir Deutschen nur deshalb im Verein mit der glühenden Kampfbegeisterung? Oder würden die graue Uniform und der Patriotismus allein doch nicht zum Siege ausreichen, wenn unser Heer nicht im Frieden nicht trotz, sondern gerade wegen des verlachten, verspotteten und angegriffenen Systems, des Kommißdrills, so ausgebildet wäre, wie es nun einmal ausgebildet war?

Auf manchem langen Marsch, in den Gefechtspausen, abends im Biwak und an den spärlichen Ruhetagen im Quartier beschäftigte er sich mit solchen und ähnlichen Gedanken. Er dachte zuweilen zurück an seine Rede gegen den Militarismus, und immer wieder fragte er sich, ob er die heute, wenn er sie noch einmal halten sollte, ebenso sprechen würde wie damals, als er eigentlich doch noch ein dummer Junge war, der noch keine fünf Minuten gedient hatte und der trotzdem gegen das Heer losdonnerte unter dem Beifallsgetobe der Genossen, von denen sicher viele, wenn nicht alle gleich ihm jetzt in das Feld gezogen waren, wenn nicht einberufen, dann als Freiwillige.

Wie dem aber auch immer war, ob er im tiefsten Innern aufgehört haben mochte, ein Gegner des Militarismus zu sein, ob sein Haß gegen das Militär sich im geheimen in eine gewisse Bewunderung umwandelte, was lag daran, seinen Schwur mußte er halten, wenn er nicht vor sich selbst ehrlos werden wollte, und wer das nicht begriff, der mußte sich in seine Lage hineinversetzen, als er damals bei der erbärmlichen Kost monatelang hinter vergitterten Fenstern und hinter verschlossenen und verriegelten Türen gesessen hatte, als sei er ein Mörder oder sonst ein schwerer Verbrecher. Und er hatte doch nichts getan, als seiner Überzeugung mit lauten Worten Ausdruck gegeben. Aber man durfte ja eben keine Überzeugung haben, die mit der gesetzlich vorgeschriebenen im Widerspruch stand. Nur wer gleiches wie er erduldete, konnte es verstehen, wie die Wut und der Haß monatelang in sein Herz hineinfraßen, nur der verstand, daß er diese fürchterliche Zeit überhaupt nur ertrug, weil er sich fortwährend seinen Schwur erneuerte.

Und nun war die Zeit da, ihn zu erfüllen, und daß er es immer noch nicht getan hatte — oft kam ihm sogar der Gedanke, er würde es auch in Zukunft nicht tun, aber dann lachte er gleich darauf stets hell und spöttisch auf. Er hatte bisher damit nur gezögert, weil es keine Eile hatte. Trotz aller bisherigen Siege würde der Krieg noch lange dauern, und der Schwur, den er sich geleistet, war gewissermaßen seine Lebensaufgabe. Hatte er die erfüllt, war seine Rache gekühlt, dann hatte er eigentlich nichts mehr auf dieser Welt zu tun.

Was aber dann, wenn er selber fiel, bevor er seinen Eid einlösen konnte? Aber nein, er würde nicht vorher sterben, das wußte er so genau wie sonst nichts. Im dichtesten Kugelregen hatte er schon gestanden, er war mit seiner Kompagnie gegen feindliche Artillerie und Maschinengewehre angestürmt, zu Dutzenden und zu Hunderten waren die Kameraden um ihn herum gefallen, er selber hatte noch nicht den leisesten Streifschuß bekommen, und er würde auch nicht getroffen werden. Nein, es eilte nicht, er konnte sich Zeit nehmen, seinen Vorsatz wahrzumachen.

Bis er ann doch eines Tages wieder an sich irre wurde. Die Gelegenheit war für ihn so günstig wie nur möglich gewesen. Während das Gefecht gestern um ihn herum tobte, daß man es kaum noch zu unterscheiden vermochte, von welcher Seite denn eigentlich die Kugeln kämen, ob vom Feind oder vom Freund, hatte er sich in der nächsten Nähe seines Hauptmanns befunden. Dreimal hatte er versucht, sein Wort zu halten, dreimal war es ihm nicht gelungen. Und doch mußte es sein. Was ging ihn sein dummes Gewissen an, das da plötzlich angefangen hatte, mit ihm zu sprechen? Sein Gewissen! Lächerlich! Hatten die anderen sich damals ein Gewissen daraus gemacht, ihn monatelang einzusperren, ihn wie ein wildes Tier zu behandeln? Es hätte nur noch gefehlt, daß sie ihn in Ketten legten, wie sie es ihm androhten, wenn er nicht aufhören würde, derartig zu schreien und zu toben, weil er sich nicht in sein Geschick finden konnte und nicht wollte.

Sein Gewissen! Er hatte bisher nichts davon gewußt, daß er eins besaß. War etwa dieser Krieg mit seinen Schrecknissen, aber auch mit all dem Großen und Schönen, das er im Gefolge hatte, schuld daran, daß das nun täglich in ihm erwachte? Möglich war es schon, wie ihm ja auch erst während dieser Zeit klar geworden war, was es hieß: Mit Gott für König und Vaterland! Bisher hatte eigentlich nur sein kleines Heimatsdorf existiert, an dem er mit großer Liebe hing, aber das Vaterland? Nun kämpfte er für dessen Sicherheit, nicht nur dem Muß gehorchend, sondern aus ehrlichster Überzeugung. Sein Heimatsdorf lag mitten im Deutschen Reich, dahin verirrte sich kein russischer Kosak und kein französisches Geschoß. Um das Vaterland ging es, um das große, schöne Vaterland.

Aber mehr noch als das Vaterland galt ihm sein Eid, und wenn sein dummes Gewissen nicht bald aufhörte, zu ihm zu sprechen, dann mußte er das irgendwie gewaltsam zur Ruhe bringen, aber wie? Mit dem Alkohol war es nicht getan, das hatte er schon ein paarmal heimlich versucht, aber dann hatte es erst recht geschlagen, das aber natürlich nur, weil er nicht genug Alkohol hatte bekommen können, dessen Verkauf an die Mannschaften in diesem Kriege streng verboten war.

Hätte er es vermocht, dann hätte er sich sein Gewissen herausgeschnitten. Aber das ging ja nicht, so mußte er zusehen, wie er mit dem fertig wurde. Das würde sich mit der Zeit schon wieder beruhigen, er hatte ja auch Zeit, der Krieg dauerte noch lange.

Aber was dann, wenn sein Hauptmann vor ihm fiel? Der schien gegen die feindlichen Kugeln nicht so gefeit zu sein wie er, ein leichter Streifschuß hatte den neulich am linken Arm getroffen. Allerdings war die Verletzung so unbedeutend gewesen, daß er es nicht nötig gehabt hatte, sich deswegen krank zu melden. Aber es war doch immerhin eine Verwundung, und die gab zu denken.

So gelobte er sich denn eines Tages endlich, am nächsten Morgen seinen Schwur einzulösen. Mochte da kommen, was da wollte, er würde an sich nicht ehrlos werden. Er würde sich ja selbst nicht mehr achten können, wenn er aus dem Feldzuge heimkehrte, ohne daß er — — — Nein, morgen sollte es geschehen, mochte sein Gewissen ihm auch noch so viel zureden, das war ja lächerlich, er war doch ein Mann. Aber trotzdem warf er sich in der Nacht auf seinem Biwaklager ruhelos hin und her, und immer wieder sah er seinen Hauptmann vor sich. Er liebte den nicht, dazu war ihm der Vorgesetzte viel zu fremd, aber er achtete ihn wegen der Lauterkeit seiner Gesinnung, wegen der Vornehmheit seines Wesens, wegen seiner Gerechtigkeit und wegen seines Mutes, mit dem er schon so oft seinen Leuten im Kampfe vorausgeeilt war.

Wenn nur nicht gerade der sein Hauptmann gewesen wäre! Hätte er das damals gewußt, als er in seiner Gefängniszelle saß — — — aber gleichviel, er hatte geschworen, und nur ein Schuft hielt nicht sein Wort.

Aber als dann am nächsten Morgen die Kompagnie mit den anderen Truppenteilen marschbereit dastand, kam plötzlich der Bataillons­adjutant herangeritten, um mit dem Hauptmann ein paar Minuten zu sprechen, bis dieser sich dann mit heller, scharfer Stimme an seine Leute wandte: „Es werden von jeder Kompagnie zehn Freiwillige gesucht. Ich darf euch nicht sagen, um was es sich handelt, nur soviel darf und muß ich euch mitteilen: wer sich meldet, dessen Leben ist verscherzt, der sieht die Heimat und die Eltern und seine Liebste niemals wieder, trotzdem aber hoffe ich, daß sich auch in meiner Kompagnie zehn Freiwillige melden.”

Aber nicht nur zehn Mann meldeten sich, sondern die ganze Kompagnie trat wie auf Kommando drei Schritte vor, kein einziger wollte als Feigling gelten. Alle traten drei Schritte vor, um dann wieder stehen zu bleiben, bis dann aus der ganzen Kompagnie noch ein einziger Mann abermals drei Schritte vortrat und sich unmittelbar vor dem Herrn Hauptmann aufstellte — es war „der Rote”.

Der Hauptmann wandte sich dem Manne zu und sah ihn mit seinen großen Augen offen und frei an, und so lange ließ er den Blick auf den Musketier ruhen, daß dieser schließlich unwillkürlich die eigenen Augen zu Boden senkte. Da wandte der Hauptmann sein Pferd zur Seite, ritt ein paar Schritte im Trabe davon und rief dann den Mann zu sich heran, um ihm gleich darauf zu sagen: „Ich möchte mit Ihnen einen Augenblick sprechen, und das, was wir einander zu sagen haben, das brauchen die anderen Leute nicht zu hören, nicht wahr, das ist doch Ihnen lieber?”

Überrascht und verständnislos sah der Msuketier seinen Hauptmann an. Er begriff den Vorgesetzten wirklich nicht, was hatte der ihm zu sagen, das die anderen nicht hören durften? Bis er dann alles zu erraten glaubte und nun seinerseits dem Vorgesetzten zurief: „Der Herr Hauptmann wollen mir verbieten, mich als Freiwilliger zu melden? Der Herr Hauptmann glauben, weil ich nun einmal in der ganzen Kompagnie ,der Rote' genannt werde und weil ich damals im Gefängnis saß, da wäre ich nicht würdig, mit den anderen in den sicheren Tod zu gehen, und da soll ich zurückbleiben, gewissermaßen als Strafe? Wollten der Herr Hauptmann mir das sagen?”

Er sagte es mit zuckenden Lippen, und aus seinen Augen sprach die Scham und die verhaltene Angst, daß er mit seiner Vermutung recht haben könne. Aber Gott sei Dank, er hatte sich geirrt, denn der Herr Hauptmann schüttelte den Kopf und sah ihm wieder lange offen und frei in die Augen, bis er dann sagte: „Ihre Befürchtung ist unnötig. Ob Sie früher ein Roter waren und es vielleicht auch heute noch in Ihrem Innern sind, das geht mich nichts an. Ich erinnere Sie an das schöne Wort unseres Kaisers bei dem Ausbruch des Krieges: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! Dies Wort gilt auch für Sie, Sie sind lediglich ein Deutscher, ein deutscher Soldat, dem ich es aus voller Anerkennung gern eingestehe, daß Sie nicht nur im Frieden, sondern bisher im Kriege einer meiner besten Leute, wenn nicht der Beste in der ganzen Kompagnie waren. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist etwas anderes, als Sie erwarteten,” und langsam und ernst, jedes Wort scharf betonend und dem Manne abermals so fest in die Augen sehend, als wolle er in dessen tiefster Seele lesen, setzte er hinzu: „Ich weiß, warum gerade Sie darauf bestehen, als Freiwilliger mitzugehen. Sie wollen sterben, damit Sie nicht doch in einer schwachen Stunde der Versuchung unterliegen, Ihren Schwur einzulösen, und um in Ihren eigenen Augen nicht ehrlos zu erscheinen.”

Starr und unbeweglich, totenblaß mit entsetzten Augen stand der Mann da und blickte seinen Vorgesetzten an. Wie war es möglich, daß der seine geheimsten Gedanken erraten, daß der wußte, was blitzschnell in seinem Innern vorgegangen war, als es hieß: Freiwillige vor! Wie konnte der Vorgesetzte wissen, daß sein Gewissen ihm da zugerufen hatte: Du mußt dich melden, denn du löst dein Wort ja doch nicht ein, und wenn du fällst, dann brauchst du dir später keine Vorwürfe zu machen, weil du es nicht tatest, da hat dein eigenes Sterben dich eben daran verhindert.

Woher wußte der Vorgesetzte das alles? Er selber hatte im dichtesten Kugelregen mit keiner Wimper gezuckt, aber jetzt, diesem Unfaßbaren und Unbegreiflichen gegenüber überfiel ihn ein Zittern, das der Vorgesetzte falsch deuten mußte, denn der rief ihm jetzt zu: „Sie brauchen keine Angst zu haben und nicht etwa zu fürchten, Sie hätte eine schwere Strafe verwirkt. Ich kenn Ihre geheimsten Gedanken schon lange. An dem Tage der Kriegserklärung, als ich auf dem Kasernenhof zu meiner Kompagnie sprach und Sie dabei absichtlich scharf ansah, da las ich es in Ihren Augen, daß Sie mir von rückwärts eine Kugel in den Schädel jagen wollten, wenn wir erst im Kriege wären. Nicht, als ob ich, Ihr Hauptmann, Ihnen irgend etwas zuleide getan hätte, sondern lediglich, weil ich Ihr Hauptmann war, weil Sie sich einmal vor Ihrem Diensteintritt, als Sie das ganze Soldatenleben noch nicht kannten, geschworen haben: wenn ich erst Soldat bin und wenn es dann hoffentlich Krieg gibt, dann soll mein Hauptmann mir mit seinem Leben alles büßen, was ich habe durchmachen müssen. Nicht wahr, so ist es doch?” So ruhig und so gelassen, als handle es sich um die gleichgültigsten Dinge, erzählte der Vorgesetzte ihm alles. Der hatte gewußt, daß sein Leben täglich an einem dünnen Faden hing, und er hatte doch nichts getan, um sich seines Feindes, der ihm nach dem Leben trachtete, zu entledigen. Und doch hätte es ihm nur ein Wort gekostet, dann wäre „der Rote” vor das Kriegsgericht gestellt und seiner ehrlosen Gesinnung wegen standrechtlich erschossen worden, denn daß er, „der Rote”, seine Schuld geleugnet hätte — nein, das hätte es nicht gegeben.

Und leugnen tat er es auch jetzt nicht, er senkte nur ganz tief den Blick, um den Vorgesetzten nicht ansehen zu müssen — er schämte sich vor dem — er schämte sich vor sich selbst.

Bis dann nach einer langen Pause die Stimme des Hauptmanns erklang: „Sie können Ihre Augen ruhig wieder aufschlagen. Ich habe immer geglaubt, daß Sie ein anständiger Mensch wären, jetzt weiß ich, daß Sie es sind. Und noch eins will ich Ihnen verraten: ich habe es gewußt, daß Sie Ihren schmählichen Vorsatz niemals ausführen würden, niemals, und wenn der Krieg tausend Jahre dauern sollte. Ich habe nicht eine Sekunde Angst vor Ihnen gehabt und würde die auch in Zukunft nicht haben. Und deshalb brauchen Sie auch meinetwegen nicht mit den Freiwilligen zu gehen. Das ist das, was ich Ihnen unter vier Augen sagen wollte.”

„Ich möchte aber trotzdem als Freiwilliger mitgehen,” kam es leise und fast unhörbar über die Lippen des Roten.

„Dann sollen Sie es auch, ich verspreche es Ihnen, nun aber wollen wir zu der Kompagnie zurückkehren.”

Eine kleine Viertelstaunde später waren die Freiwilligen von dem Herrn Hauptmann ausgewählt, und als die zehn, dem sicheren Tode Geweihten, mit leuchtenden, kampfesfreudigen Augen vor ihm standen, da ging der Vorgesetzte die kleine Front entlang und gab jedem die Hand zum Abschied, auch dem „Roten”.

Der glaubte seinen Augen und dem Druck der Hand nicht trauen zu dürfen, dann aber erwiderte er plötzlich diesen Händedruck so fest und so warm, als sei der, der da vor ihm steht, sein bester Freund, von dem er für immer Abschied nahm.

Wenig später rückten die Freiwilligen ab, nicht einer kam zurück, am allerwenigsten „der Rote”, der als erster den Tod suchte. Von mehreren Schüssen gleichzeitig getroffen, brach er in sich zusammen, und sein letzter Gedanke war: Gott sei Dank, nun brauchst du deinen Schwur nicht mehr zu halten!


„Svenska Tidningen” vom 15.5.1919:


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