Der Schimmelreiter.

Plauderei von Freiherr v. Schlicht.
in: „Das kleine Journal” Nr. 2 vom 3.Jan. 1898,
in: „Abendblatt”, (Chicago Ill.), vom 18.01.1898 und
in: Excellenz kommt


„Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt!” sagt Mephisto, der schlaue Teufel, in gegebener Veranlassung. Hoffentlich weiß er nicht, daß ich den Titel dieser Plauderei gestohlen habe, ich hoffe, daß er Storm's gleichlautende meisterhafte Erzählung nicht gelesen hat — sonst würde es mir vielleicht schlecht ergehen und ich müßte als Plagiator unter Umständen höllische Strafen über mich ergehen lassen, und das würde mir sowohl als Euch sehr unangenehm und schmerzlich sein. Ich gehöre nämlich unbegreiflicherweise zu jenen Menschen, die das Angenehme dem Unangenehmen vorziehen: ich fahre lieber vierspännig zu Dressel und schlemme dort in Austern und gebackener Seezunge mit Krabbensauce, als daß ich zu Fuß nach Haus gehe und mich dort an trockenem Brot satt esse. Demjenigen, der dies unfaßlich findet, rufe ich zu: „Es giebt eben Solche und Solche” — eine Weisheit, die schon so alt ist, daß selbst Kleopatra's Kammerdiener sich mit Recht darüber wunderte, daß sie nicht mehr neu sei. Daß er sich darüber gewundert hat, weiß ich ganz genau, ich habe es aus seinem eigenen Munde gehört.

Ich hoffe, durch diese Einleitung mich von dem Verdacht, ein Gladiator, ach nein, ein Plagiator zu sein, befreit zu haben — wenn nicht, so ändere ich den Titel einfach und sage „Der militärische Schimmelreiter”, dann stehe ich groß da, zumal von dem militärischen Schimmelreiter die Rede sein soll.

Ungeduldig ob dieses leeren Wortschwalls höre ich Redaktion und Publikum mir zurufen: „Fanget an” — ich zweifle zwar daran, daß sie es so metallisch rufen wie Walther Stolzing in den Meistersingern — aber ich fange trotzdem an. Nein, einen Augenblick noch, meine Zigarre ist mir ausgegangen, und ohne Tabak kann ich weder essen, schlafen, lesen, noch arbeiten — nun brennt sie wieder, Gott sei Dank, also los.

Der Herr Premier ist Hauptmann geworden — so etwas kommt ja vor in der Armee, wenn auch nur selten, denn das Avancement ist noch schlechter als die Stimmung eines Menschen, der zum Zahnarzt geht, um sich ohne Narkose vierzehn und einen halben Zahn ausziehen zu lassen. Der Zahnkranke denkt: „Das überlebe ich nicht!” und der Herr Premier, der auf den Hauptmann wartet, denkt: „Das erlebe ich nicht!” — Beide aber irren sich in ihren Gedanken und können sich nicht genug darüber wundern.

Der Herr Premier ist Hauptmann, wirklicher, lebendiger, zweibeiniger Hauptmann mit einem Gehalt, von dem man bei einiger Sparsamkeit sogar alte Schulden bezahlen kann. Ich sage „kann” — ob man es auch thut? C'est une autre chose.

Der erste freudige Gedanke, der den neuerschaffenen Häuptling durchfährt (man könnte auch sagen „durchzuckt”), ist der: „Gott sei Dank, nun ist's vorbei mit der Pi—Pa—Pintscherei.”

Jetzt braucht er nicht mehr zu Fuß zu gehen, jetzt kann er reiten, und für einen Augenblick überlegt er allen Ernstes, ob er sich seine Beine, als überflüssig, nicht abschneiden lassen will — da spart er viel Geld für Pantalons, außerdem möchte er sie zu einem berühmten Professor zur Untersuchung daraufhin einsenden, ob seine Knochen wirklich so krumm sind(1), wie es ihm so oft von seinen Vorgesetzten gesagt worden ist.

Im letzten Augenblick aber fällt ihm ein, daß das Reiten ohne Beine mit einigen Schwierigkeiten verknüpft sein dürfte — so entschließt er sich denn, „die Dinger” vorläufig noch zu behalten, und weiter beschließt er, um reiten zu können, sich ein Pferd anzuschaffen — „ohne dem” geht es ja leider nicht.

Er will bei dem bevorstehenden Kauf sehr vorsichtig sein, sich nicht übers Ohr hauen lassen, vor allen Dingen bei keinem Kameraden kaufen — nein, er wird Niemanden um Rath fragen, sich ganz auf sich selbst, auf seine Kenntnisse und auf seine Schlauheit verlassen, er wird schon ein Roß finden, das seinen Beifall und den seiner Vorgesetzten hat. O, er ist klug und weise und ihn betrügt man nicht!

Und eines schönen Morgens, als das Regiment zu einer Felddienstübung abrückt, erscheint er hoch auf einem Schimmel.

Der größte Fehler, den ein Soldatengaul haben kann, ist der, weiß zu sein — dann lieber noch todt.

Davon weiß der Hauptmann noch nichts, der ist jung und unerfahren, und die anderen Häuptlinge sagen es ihm ja nicht, die sind froh, im Regiment einen Schimmelreiter zu haben.

Die Schlacht beginnt, mit Gras und Blumen spielt der Wind.

Hoch oben auf dem Heidegrab hält der Herr Oberst mit seinem Adjutanten und mit seinem Galoppin und schaut hinab auf das unblutige Schlachtgetümmel. Er hat die Führung des Regiments dem Herrn Oberstlieutenant anvertraut, der mag zusehen, wie er die rothen Flaggen, die den Feind bedeuten, zur Umkehr zwingt. Der Herr Oberst weiß natürlich ganz genau, wie man dies in diesem Falle am besten anfinge, denn dafür ist er ja nicht nur Oberst, sondern auch Regiments­kommandeur. Aber was der Eine weiß, weiß nicht immer auch der Andere, und so ist sich der Herr Oberstlieutenant nicht ganz darüber einig, wie er den Feind schlagen soll. Das Einfachste wäre ja, wenn er zu den Flaggenträgern hinüberritte und zu ihnen sagte: „Kinder, thut mir den einzigsten Gefallen und macht, daß Ihr nach Haus kommt, sonst giebt es hier noch ein Unglück!”

Das ginge wohl, aber es geht doch nicht, denn dann gäbe es erst recht ein Unglück.

So kämpft der Herr Oberstlieutenant mit dem Muthe der Verzweiflung und der Herr Oberst freut sich darüber ganz gewaltig. Der Kommandeur befindet sich überhaupt in der denkbar besten Laune — da unten im Thal wird, natürlich nur weil er das Regiment nicht selbst führt, großer Unfug gemacht — das giebt ihm Stoff zu einer langen, eingehenden Kritik, ach, und er hört sich so gerne sprechen. Mit dem Notizbuch in der Hand hält der Adjutant und notirt die Stichworte, die ihm für die Besprechung zugerufen werden: „Feuerleitung — Feuerdisziplin — Munitionsersatz — Verstärken der Schützenlinie — Sammeln — Unterstützungstrupp —”

So geht das in einem fort.

„Würde es nicht praktischer sein, nachher bei der Kritik das ganze Exerzier­reglement nebst der Schießvorschrift und Felddienst­ordnung den Herren vorzulesen,” denkt der Adjutant, „dann könnte wenigstens mit einiger Sicherheit angenommen werden, daß nichts vergessen wird, während so —”

Der Herr Oberst weckt ihn aus seinen Träumen. „Ach bitte, notiren Sie: Ausdehnung und Gliederung.”

„Zu Befehl, Herr Oberst, Ausdehnung und Gliederung,” aber er kommt nicht dazu, die Worte zu Ende zu schreiben, denn der Herr Oberst ruft plötzlich: „Das ist ja unerhört — finden Sie nicht auch?”

Der Adjutant hat keine Ahnung, was der Herr Oberst meint, trotzdem beeilt er sich natürlich, „Zu Befehl” zu sagen.

„Ach bitte, reiten Sie einmal hin und sehen Sie einmal nach, woran die Sache liegt.”

Das ist viel leichter gesagt, als gethan.

Ein guter Adjutant aber macht Alles, der fragt nicht viel, sondern reitet einfach darauf los.

Er giebt seinem Gaul die Sporen und sprengt im Galopp davon.

Wohin? Irgendwohin, er quält sich nicht lange mit dem Gedanken: „Was hat der Oberst nur gemeint?”, i, wo wird er denn, er wird schon irgendwo etwas finden, was nicht in Ordnung ist, sich nach der Ursache erkundigen, dem Kommandeur Bericht erstatten, und wenn dieser sagt: „Aber das meinte ich ja gar nicht,” so wird er antworten: „Ich glaubte, dies wäre dem Herrn Oberst aufgefallen.”

Und der Herr Oberst wird dann sehr froh sein, denn er hat zwei Monita statt einem.

Also nur immer Galopp, er wird schon was finden.

Das Regiment ist, wie der terminus technicus lautet: auseinandergezogen, die eine Kompagnie ist hier, die andere dort.

Wohin soll er reiten?

Da sieht er den Schimmelreiter in der Nähe und er reitet auf ihn zu:

„Der Herr Oberst läßt fragen woran denn die Sache bei der fünften Kompagnie läge?”

Erschrocken sieht der junge Hauptmann sich um. Mein Gott, ist er schon am ersten Tage seiner Thätigkeit dem Kommandeur unangenehm aufgefallen? Das ist ja schrecklich, was bleibt ihm dann für den Rest seiner langen Hauptmannszeit übrig?

„Ich weiß wirklich nicht, was der Herr Oberst meint,” stottert er.

Der Adjutant weiß es auch nicht — so sagt er auf gut Glück: „Der Herr Oberst will wissen, warum die Kompagnie vorhin bei dem Vorgehen nicht genau geradeaus gegangen ist.”

Das ist ein Vorwurf, den man jedesmal jeder Kompagnie machen kan und der immer gerechtfertigt ist.

Wenige Minuten später jagt der Adjutant wieder zum Kommandeur. „Der Hauptmann der fünften Kompagnie läßt sagen, er hätte einen großen Wassertümpel vor sich gehabt und wäre deswegen ausgebogen.”

„Unglaublich,” sagt der Herr Oberst „unglaublich — als wenn es im Kriege keine Wassertümpel gäbe, bitte, notiren Sie sich den Fall, schreiben Sie: Wassertümpel.”

Der Adjutant bringt die Sache zu Papier und freut sich, daß er bei seinem Ritt zufällig den Richtigen erwischt hat.

Und weiter tobt die Schlacht: die rothen Flaggen stehen immer noch, es ist ihnen nicht beizukommen.

„Ich bin neugierig, wie die Sache aussieht, wenn Sie fertig ist,” spricht der Herr Oberst, „wir wollen den Herrn Oberstlieutenant ruhig weiter machen lassen, uns garnicht hineinmischen; aber nein, was macht der denn nun schon wieder — das geht ja aber gar nicht, wo ist der Ordonnanzoffizier?”

„Hier, Herr Oberst.”

„Bitte, reiten Sie hin, aber en carrière, und fragen Sie den Herrn Hauptmann, warum er jetzt auf einmal läuft — läuft mit der ganzen Kompagnie?”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

Der Galoppin ordnet die Zügel und benutzt diese Zeit, um den Adjutanten zu fragen: „Wen meint er denn nur?”

„Natürlich den Schimmelreiter.”

„Hätte ich mir eigentlich selbst sagen können.”

„Bitte, eilen Sie, Herr Lieutenant.”

„Zu Befehl, Herr Oberst.” Er saust davon und bringt die Meldung zurück, die fünfte Kompagnie wäre gelaufen, weil der Herr Hauptmann es für zweckmäßig gehalten hätte.

„Unglaublich; bitte, notiren Sie mal: zweckmäßig.”

„Wenn die Schlacht nun nicht bald zu Ende ist, reicht mein Notizbuch nicht aus,” denkt der Adjutant, „also nun nur Muth, stürmt die feindliche Stellung.”

Und es ist, als ob die Truppen diese Worte gehört hätten, denn mit lautem Hurrah stürmen sie vor und jagen die Flaggenträger in die Flucht.

Dann kommt die Kritik, die ewigund drei Stunden währt.

„Ganz besonders, meine Herren, ist mir die fünfte Kompagnie aufgefallen — nun Herr Hauptmann, Sie sind ja noch jung und sollen es ja erst lernen, Ihre neue Charge auszufüllen. Die Fehler sind ja bekanntlich auch dazu da, um aus ihnen zu lernen, wie man es nicht machen soll, es schadet ja auch nicht, mein Herr, wenn etwas falsch gemacht wird, trotzdem kann ich nicht umhin, zu sagen, daß die fünfte Kompagnie mir ganz und gar nicht gefallen hat.”

So geht das weiter, und als die Kritik beendet ist, sind alle Fehler, die überhaupt gemacht worden sind, der fünften Kompagnie aufgebrummt.

Vergebens hat der Herr Hauptmann ein paar Mal versucht, die Schuld von sich abzuwälzen.

„Ich bitte ganz gehorsamst um Verzeihung, der Herr Oberst müssen sich irren, das kann meine Kompagnie nicht gewesen sein, ich war dort links an jenem Waldrand, ich erlaube mir ganz gehorsamst zu glauben, daß der Herr Oberst sich irren.”

Unfehlbar sind die Vorgesetzten ja gerade nicht, aber sie halten sich doch theilweise dafür — es ist ihnen unangenehm, wenn sie sich irren, noch unangenehmer aber ist es ihnen, wenn sie von ihren Unterthanen, die in Bewunderung und Ehrerbietung zu ihnen aufblicken sollen, darauf aufmerksam gemacht werden. Das nehmen die hohen Herren sehr übel.

„So? Glauben Sie?” fragt der Herr Oberst sehr von oben herab. „Ich aber glaube es nicht, ich bin meiner Sache ganz sicher. Sie reiten doch einen Schimmel, Herr Hauptmann?”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

Der Herr Oberst weiß ganz genau, daß kein anderes weißes Roß sich in seinem Regiment befindet, trotzdem fragt er:

„Reitet sonst noch einer von den Herren einen Schimmel?”

Allgemeines tiefes Schweigen.

„Sie sehen also, mein sehr verehrter Herr Hauptmann, daß ich mich nicht irre, eine Verwechslung ist völlig ausgeschlossen und ich möchte Sie sehr bitten, in Zukunft mit Ihrem Widerspruch etwas vorsichtiger zu sein.”

Bumms, da hat er den Salat, so was kommt von so was — aber, Herr Hauptmann, wie konnten Sie auch nur? Das ist selbst mir, Ihrem Chronikschreiber, vollständig unverständlich.

Der Herr Oberst hat die Kompagnien unter Führung der ältesten Lieutenants nach Haus abmarschiren lassen und endlich denkt auch er daran, fortzureiten.

„Hat einer der Herren noch eine Frage? Nein? Nun, dann danke ich Ihnen sehr, meine Herren.”

Der Herr Oberst reitet voran, in dem durch die Disziplin und Subordination gebotenen Abstand folgen die Uebrigen.

Der Schimmelreiter, der am Morgen so stolz und glücklich war, sitzt auf seinem Roß wie eine todtgeborene Jungfrau.

Da nähert sich ihm ein Kamerad. „Nur immer den Kopf hoch — einschüchtern lassen gilt nicht, passen Sie auf, wenn Sie nachher im Kasino erst sechs Flaschen Cognac getrunken haben, denken Sie gar nicht mehr an die Kritik.”

„Haben Sie eine derartige Ungerechtigkeit schon einmal erlebt?” braust der Schimmelreiter auf, „ich nicht!”

„Lieber Freund,” besänftigt der Andere, „nehmen Sie es mir nicht übel, aber wie konnten Sie auch so thöricht sein, sich einen Schimmel zu kaufen? Hätten Sie nur einen von uns um Rath gefragt, wir hätten Ihnen Alle gesagt, daß das der reine Selbstmord ist. Urtheilen Sie selbst. Es ist ganz natürlich, daß bei einer Uebung unendlich viel Unfug gemacht wird, und wenn ausnahmsweise keiner gemacht werden sollte, so wird angenommen, daß welcher gemacht worden ist, denn ohne Unfug giebt es keine Kritik. Bei der Besprechung aber soll man nicht in allgemeinen Redensarten sprechen, sondern jeden Einzelnen auf die Fehler, die er gemacht, aufmerksam machen. Der Leitende übersieht das Kampffeld — ein Schimmel fällt immer auf, der hebt sich ab von seiner ganzen Umgebung. Reitet man einen Braunen oder einen Rappen, so ist man sicher — auf weite Entfernungen ist man nicht zu erkennen, den Schimmelreiter aber erkennt man an seinem Roß. Sehen Sie, Geliebter, da ist es ganz selbstverständlich, daß man Ihnen alle Schuld zuschiebt — einer soll's doch nur gewesen sein, und da nimmt man den, den man erkannt hat. Passen Sie auf, das kommt noch viel schöner.”

„Allmächtiger!” stöhnt der Geplagte, „was mache ich denn nur?”

Einen Augenblick denkt der Kamerad nach, dann sagt er: „Wissen Sie was? Streichen Sie den Gaul an.”

„Wollen Sie mich uzen?” braust der Schimmelreiter auf.

„Aber ich denke ja gar nicht daran,” geibt der Andere zur Antwort, „es ist mein heiliger Ernst: Mein Kompagnie-Maler hat eine famose Farbe, ich garantire Ihnen, daß der Gaul nicht abfärbt und daß die Farbe dem Regen Stand hält. Am besten wäre es ja freilich, wenn Sie dem Roß, so oft Sie es besteigen, eine Tarnkappe überziehen könnten, auf daß es unsichtbar werde.”

„Ich werde das Pferd verkaufen.”

„Versuchen Sie es, Geliebter, ich glaube nicht, daß es Ihnen gelingen wird — ein Offizier kauft Ihnen den Schimmel nicht ab und für den Roßschlächter ist er doch noch zu schade. Aber versuchen können Sie es ja immerhin.”

In der nächsten Woche steht der Gaul im Annoncen–Theil des Militär–Wochenblattes zum Verkauf angezeigt, aber kein Käufer meldet sich — er muß seinen Schimmel behalten und ihn reiten, bis er ihn oder sich selbst zu Tode geritten hat.

Tertium non datur, das heißt auf deutsch: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.

Und das heißt auf deutsch:

Das Leben ist für Viele ja kein Himmel,
Der Uebel größtes aber ist ein Schimmel.

Noch von einem anderen Schimmelreiter möchte ich erzählen:

Es sind schon einige Jahre her, als wir (ich hatte damals noch die Ehre und das Vergnügen, den bunten Rock zu tragen) eines Tages durch die Nachricht überrascht wurden, daß am nächsten Tage eine große Felddienst­übung mit einer etwa 30 Kilometer entfernten Garnison stattfinden sollte. Darüber herrschte nun nicht gerade eitel Freude und heller Jubel, sondern Heulen und Zähneklappern, und nicht ohne Grund. Es war mitten im Winter, ich glaube, im Januar, es fror Granitblöcke und himmelhoch lag der Schnee.

Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß man beim Marschiren warm wird; aber selbst diese Erwärmung sollte uns vorenthalten bleiben; wir sollten mit einem Extrazug abdampfen, auf offener Strecke ausgeladen werden und dann dem bösen Feind, wo immer wir ihn träfen, eins auf den Chapeau–Hut geben.

Leider können die Untergebenen die Entschlüsse der Vorgesetzten nicht ändern und so fuhren wir denn am nächsten Morgen um sechs Uhr ab. Truppen, die „verladen” werden, treffen stets, damit sie nur nicht zu spät kommen, mindestens eine Stunde zu früh auf dem Bahnhof ein. Die Wartezimmer darf man nicht betreten — sie würden auch nicht ausreichen, so steht man denn auf der Straße, läßt sich von neugierigen Leuten betrachten, als wenn man ein Wunderthier wäre, und wartet. Na, und wenn es, wie an jenem Morgen, Minus zehntausend­vierhundert­neunundsechszig Grad sind, friert man bei dem Warten etwas mehr als ein Postbote, der bei sechzig Grad im Schatten fünfmal nach der Reihe die Treppen eines fünfstöckigen Hauses hinaufläuft, weil er jedes Mal etwas abzugeben vergaß.

Als wir im Coupé saßen, unterschieden wir uns von Eisblöcken nur dadurch, daß keine Eisbären auf uns ihre Siesta abhielten. Militär–Züge sind aus Prinzip nicht geheizt — aus welchem Prinzip, weiß ich allerdings nicht; warm werden aber wollten und mußten wir, und so können sich nur ungeborene Haifische oder verrückt gewordene Sioux–Indianer darüber wundern, daß die reichlich mitgenommenen Cognacflaschen schon nach der ersten Viertelstunde eine geradezu fürchterliche Leere aufwiesen.

Fünf Minuten später schliefen wir, na, wie denn? Sagen wir — so fest, wie man als Lieutenant für gewöhnlich nur bei dem wissenschaftlichen Vortrag eines Stabsoffiziers zu schlafen pflegt.

Etwas Festeres giebt es auf Erden nicht.

Ein geradezu schauderhaftes Hurrah weckte uns.

„Ist die Uebung schon zu Ende?” fragte schlaftrunken ein dicker Hauptmann.

Aber nein, zu Ende war sie nicht, sie fing erst an.

Der Zug war vom Feinde überfallen, zum Halten gebracht und der Gegner stürzte sich auf die aussteigenden Truppen, um sich aber gleich wieder zurückzuziehen.

Das war schade, denn sonst wäre die Uebung wirklich zu Ende gewesen.

Durch die Schneeberge ging es nun für uns vorwärts — man fiel hin, versank für kurze Zeit, raffte sich wieder in die Höhe, um gleich darauf wieder umzufallen — es sah aus, als wenn das ganze Regiment an Epilepsie litte.

Selten ist an einem Tage so viel geflucht worden wie an jenem Vormittag und die böse Welt behauptet, daß auch ich an jenem Morgen nicht lauter Lobeshymnen auf den Veranstalter des Festes gesungen haben soll.

Nach Verlauf von mehreren Stunden wurde zur Kritik geblasen.

„Wer hält denn die Besprechung ab?” fragte ich einen Kameraden, als wir dem Signal nachgingen, „wer ist denn heute der Weise der Weisen?”

„Napoleon auf dem Kreidefelsen!” lautete die Antwort.

„Wer?” fragte ich, da ich nicht richtig gehört zu haben glaubte.

„Napoleon auf dem Kreidefelsen,” wiederholte er, „wer denn sonst? Aber das ist ja richtig, den kennen Sie ja noch gar nicht; na, kommen Sie nur.”

Er ging voran und ich keuchte hinterher, bis wir an Ort und Stelle angelangt waren.

Alle berittenen Offiziere waren abgestiegen, um sich die Füße warm zu treten, nur einer hielt hoch zu Roß: ein General.

„Sehen Sie sich den genau an,” flüsterte der Kamerad, „das ist er. Haben Sie schon jemals einen Menschen gesehen, der so wenig Aehnlichkeit mit Napoleon hat? Ich nicht. Diesem Umstand verdankt er seinen Beinamen, vielleicht aber auch der anderen Thatsache, daß er keine Ahnung hat. Sie brauchen bei der Kritik nicht zuzuhören, es ist Alles Unsinn, was er sagt, dabei spricht er mit einer Stimme, als wenn er eben dem Grabe entstiegen wäre.”

In dem selben Augenblick begann der Herr General zu reden. „Um Gottes willen,” rief ich entsetzt, „das ist ja schaurig.”

„Nicht so laut, nicht so laut,” mahnte der Freund, „lassen Sie ihn das nur nicht hören, er ist sehr stolz auf sein Organ — er singt auch.”

Ich sank in die Knie.

„Bleiben Sie nur liegen,” hörte ich den Freund weiter sprechen, „sehen Sie sich einmal den Schimmel an, den er reitet. Ist Ihnen ein ähnliches Thier schon einmal vor die Augen gekommen? Er hat ihn schon in den letzten beiden Feldzügen geritten und aus Dankbarkeit für treu geleistete Dienste reitet er ihn auch heute noch. Früher soll es ein sehr junges, wenn auch sehr häßliches Pferd gewesen sein — die Häßlichkeit ist geblieben, die Jugend ist geschwunden. Sieht der Gaul nicht genau aus wie ein schmutziger Kreidefelsen? Unter diesem Namen ist das Roß in dem ganzen Armeekorps bekannt; wissen Sie einen besseren?”

Kein Mensch konnte Roß und Reiter charakteristischer benennen und so behielten sie beide ihren Namen bis zu ihrem Tode, der sie noch an demselben Tage ereilte.

Napoleon sprach mit einer Ausdauer und Ausführlichkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, und der Kreidefelsen schlief im Stehen ein.

Napoleon merkte es nicht, er sprach ruhig weiter und gestikulirte ganz gewaltig auf seinem Felsen hin und her. Zuerst stand der ganz still, unbeweglich wie ein Felsen im tosenden Meer, er rührte und regte sich nicht, als der General aber einmal mit dem linken Knie zu toll herumfuhr, neigte der Felsen sich plötzlich langsam auf die rechte Seite, Roß und Reiter lagen im Schnee.

Schnell sprangen wir hinzu, um den alten Herrn unter dem Pferd hervorzuziehen, es gelang uns auch und Napoleon stand bald wieder auf den Beinen.

Nicht aber der Kreidefelsen, der war kalt und starr, ein Lungenschlag hatte seinem Dasein ein Ende gemacht — er war todt, alle Versuche, ihn in dieses Dasein zurückzurufen, scheiterten auf das Glänzendste. Napoleon warf sich über den Leichnam und schluchzte und weinte wie ein Kind — seine Thränen fielen auf den Kreidefelsen und gefroren da zu blitzenden Edelsteinen.

Langsam traten wir zurück — wer da aber glaubt, daß wir dies aus Mitleid und aus Ehrfurht vor der Trauer und dem Schmerz unseres Generals thaten, der irrt sich ganz bedeutend. So edel waren wir nicht — wir flohen nur, um dem Ende der Kritik zu entgehen.

Es war die letzte, die Napoleon gehalten hat, auch ihn bedeckt jetzt der Rasen und ein Kreidefelsen bezeichnet die Stätte, wo er ruht.


Fußnote:

(1) Vergleiche hierzu Schlichts Autobiographie, Kapitel 2. (zurück)


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