Der Scheintodte.

Humoristische Plauderei aus dem Militärleben.
Von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 15.Jan. 1899,
in: „Hagener Zeitung” vom 19.1.1899,
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 24.Aug. 1899,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 25.Nov.1899
in: „Das Manöverpferd”,
in: „Der schwerfällige Major” und
in: „Aus Heer und Marine”.


Offen und ehrlich gestanden: ich habe vor dem Lebendig­begraben­werden einen nicht unbedeutenden Respect und habe demzufolge in meinem Testament Anordnungen getroffen, die es ausschließen, daß ich als Scheintodter begraben werde. Ich denke es mir furchtbar, zu leben und doch todt zu sein, oder, was Dasselbe ist, todt zu sein und dennoch zu leben. Vielleicht kommt meine Abneigung, um kein stärkeres Wort zu gebrauchen, gegen den Scheintod daher, daß ich als Soldat soviele Scheintodte kennen lernte.

Deutlich steht der Herr Major vor mir, groß und stark, von Gesundheit strotzend, immer vergnügt, immer lustig, das Urbild jenes braven Mannes, der ein Glas Rothwein liebt und die nächsten dreiundzwanzig nicht verachtet. In einer kleinen Garnison war er Selbstherrscher aller Reußen, und das Schild an seiner Hausthür und der Posten, der das Pflaster vor dem Hause abtrat, kündeten an, daß der Herr Major Commandeur des Jäger–Bataillons war. Hätt's der Major nicht an den beiden angeführten Kennzeichen täglich bemerkt, ich glaube, er hätte selbst nicht gewußt, was er war. Er war der angenehmste Vorgesetzte, den man sich denken konnte, die Hauptleute und die Herren Lieutenants konnten thun, was sie wollten, im Winter ließ der Herr Major sich Wochen lang in der Caserne nicht sehen. Die Actenstücke zur nöthigen Unterschrift wurden ihm in die Wohnung gebracht, im Uebrigen ließ er die Karre laufen wie sie lief. Du großer Gott, wozu hatte er denn seinen Adjutanten, wenn er nicht einmal in Ruhe seinen Winterschlaf halten konnte? Der Adjutant gönnte seinem Herrn die Ruhe, so lange es irgend ging — war das Frühjahr aber ins Land gezogen, dann klopfte der Tintenspion seinen Brotherrn aus dem Schlummer und sagte:

„Herr Major, morgen müssen wir Bataillons­exerciren abhalten.”

„So, müssen wir?” klang es traurig zurück; „können wir es nicht noch ein paar Tage verschieben?”

Aber der Adjutant war hart und unerbittlich.

„Na, wenn's eben sein muß, dann nur zu, veranlassen Sie das Weitere.”

Und der Adjutant befahl Alles, Zeit und Ort des Rendezvous, Stärke der Compagnien, Anzug, kurz Alles, und der Herr Major las dann den Bataillonsbefehl und freute sich, wie kurz, klar und bündig er das Alles wieder einmal in höchst eigener Person angeordnet hatte; selbst sein Adjutant hätte Das nicht besser machen können.

Beim Exerciren commandirte der Major, was der Adjutant ihm vorsagte, und er tadelte, was diesem auffiel, und er hörte auf, wenn dieser ihm sagte: „So, nun ist's genug.” Dann ritt er stolz mit gezogenem Schwert an der Spitze seines Bataillons in die Stadt zurück und ließ sich von der voran marschirenden Capelle unterwegs die schönsten Märsche vorspielen; einer Erholung und Ermunterung bedurfte er doch, wenn er sich im Dienste des Vaterlandes so angestrengt hatte.

Seine Leistungen glichen einer großen Null mit einem vorangestellten Minuszeichen, jeder Mann wunderte sich, daß er immer noch nicht „in die Wurst” gethan wurde, und in stillen und seltenen Stunden reuiger Einkehr wunderte er sich selbst darüber, daß er als Soldat noch lebte. So oft ein Militär–Wochenblatt zur Ausgabe gelangte, dachte man: „So, nun ist er erledigt, nun ist er todt.” Aber man irrte sich, er blieb am Leben und so erhielt auch er gleich vielen Anderen den Beinamen „der Scheintodte”. Unter diesem Namen war er im ganzen Armeecorps bekannt, selbst die Leute seines Bataillons nannten ihn nie anders. Fünf Manöver hatte er schon mitgemacht und was noch mehr sagen wollte,, „ausgehalten” — manches Mal hatte er Dinge zu hören bekommen, die schon nicht mehr schön waren. Einmal hatte er sich mit seinem Bataillon, das die Avantgarde bildete, derartig verlaufen, daß er den Feind überhaupt nicht mehr fand. Vor der Kritik hatte selbst er Angst gehabt, und selbst sein Gaul hatte sich in richtiger Ahnung der Dinge, die sein Reiter zu hören bekommen werde, geweigert, zur Kritik zu gehen — kurz vor dem Feldherrnhügel, auf dem die Excellenzen hielten, hatte der Gaul jedes Mal Kehrt gemacht und war mit eingeklemmter Rübe davongejagt.

„Kommen Sie nur, Herr Major, kommen Sie nur,” rief ihm der Commandirende nach, „auf Sie warten wir gerade.”

„Das kann ich mir lebhaft denken,” stöhnte er in seinem Innern, und zu seinem Adjutanten gewandt, sagte er: „Passen Sie auf — nun bin ich todt.”

Der Adjutant gab für das Leben seines Patienten garnichts, absolut garnichts, auch nicht einmal für einen Groschen Milch in zwei Tüten, trotzdem sagte er: „Nur Muth, Herr Major, so leicht stirbt sich's nicht.”

Bei der Besprechung wurde dem Major der Hut derartig eingetrieben, daß er ihm schließlich nicht nur auf der Nase, sondern auf den Schultern saß — er sah und hörte nichts mehr von Dem, was um ihn herum vorging. Trotz der hell leuchtenden Mittagssonne umgab ihn fintere Nacht, er merkte es nicht, daß sein Gaul, niedergedrückt von den Vorwürfen, die auf seinen Herrn herniederfielen, in die Kniee gesunken war, die Excellenzen gleichsam demüthig um Mitleid und Erbarmen mit seinem Gebieter anflehend.

Die ältesten Excellenzen, und was noch viel mehr sagen will, selbst die jüngsten Lieutenants, die man doch wahrhaftig nicht mit Glacé–Handschuhen anfaßt, konnten sich nicht entsinnen, jemals einen derartigen Angriff(1), wie er dem Herr Major zutheil wurde, in Empfang genommen oder auch nur angehört zu haben.

Jeder schwur darauf, daß der Scheintodte nun thatsächlich eine Leiche sei, aber das Unglaubliche geschah, er blieb am Leben.

Der Herr Major las das Militär–Wochenblatt, das seine Verabschiedung nicht enthielt, fünf Mal, zuletzt mit seinem Adjutanten und zu allerletzt wettete er mit seinem Tintenspion zehn Flaschen Champagner gegen einen Cognac, daß sein Abschied in dem Blatt stehen müsse, aber der Herr Major verlor und betrank sich an diesem Abend mit seinem jungen Freunde bis zur Bewußtlosigkeit — erst am nächsten Morgen merkten sie, daß sie von den zehn Flaschen Sekt zwölf ausgetrunken hatten.

Der Scheintodt lebte und er lebte vielleicht heute noch, wenn — ja wenn es eben kein Wenn gäbe.

Es war Recruten–Vorstellung, und der commandirende General hatte sich in unangenehmer Erinnerung des letzten Manövers, zu diesem „Ehrentag der jungen Soldaten” wie man etwas euphemistisch zu sagen pflegt, angemeldet. Das Erscheinen des hölzernen Pferdes in den Mauern Trojas kann kein größeres Entsetzen hervorgerufen haben, als in der kleinen Garnison die Nachricht, daß Excellenz käme.

Ein Zittern und Beben ging durch das Jägerbataillon; zuerst zitterten die Recruten: daß sie wenig konnten, hatten sie ja gewußt; daß sie aber gar nichts konnten, wurde ihnen jetzt klar gemacht, daß ihnen die Augen übergingen. Die Leute zitterten vor ihren Unterofficieren, Officieren und Hauptleuten, die Unterofficiere vor ihren Lieutenants und Hauptleuten, die Lieutenants vor ihren Compagniechefs und Alle zusammen vor Sr. Excellenz.

Vor dem Major zitterte Keiner, der zitterte nur vor sich selbst, wenn er sich im Spiegel sah — an ihm zitterte Alles: von den Haaren seines Toupets bis zu dem Hühnerauge am linken großen Zeh.

Der Major war kein Feigling, o nein, er hatte den letzten Feldzug mitgemacht und das eiserne Kreuz erster Classe schmückte seine Brust, feige war er nicht, aber ein Unglück lag in der Luft, ihm ahnte nichts Gutes — —

Excellenz kam und war, was Keiner zu hoffen gewagt hatte, sehr gnädig. Der wahre Grund seines Erscheinens in der Garnison bestand darin, daß er dem Major durch eine gute Vorstellung seiner Recruten Gelegenheit geben wollte, die letzte Scharte auszuwetzen.

Die Recruten der beiden ersten Compagnien standen tadellos angezogen und fein säuberlich aufgebaut auf dem Casernenhof, als die Excellenz mit dem Herrn Major erschien.

Ein freundliches: „Guten Morgen, Jäger!” begrüßte die Leute, dann wandte sich Excellenz an den Herrn Major: „Ich bin nur als Zuschauer hier, bitte lassen Sie sich durch meine Anwesenheit nicht im Geringsten stören.”

Das hieß auf deutsch: „Mein Sohn, mache was Du willst, ich werde später kraft meines Amtes den dazu gehörigen Senf geben.”

Der Herr Major dienerte und dienerte von solcher excellenten Güte gerührt und wandte sich dann an die Hauptleute und Lieutenants, die seiner Befehle harrten: „Bitte, lassen sich die Herren durch meine Anwesenheit nicht im Geringsten stören.”

Excellenz machte ein merkwürdiges Gesicht — Einer mußte doch schließlich die Besichtigung vornehmen, und nach den Bestimmungen war der Major doch der nächste dazu, wie Fritz Reuter sagt.

Der Blick Sr. Excellenz brachte den Herrn Major wieder zur Besinnung, gute Tage sind schwerer zu ertragen als schlechte, ihm hatte die Gnadensonne so lange nicht geschienen, daß sie ihm nun momentan durch den Helm brannte und er für Secunden einen Sonnenstich befürchtet hatte. Jetzt gab er seine Befehle und die Recruten führten vor, was sie sollten: der Eine nahm Gewehr über und der Andere nahm Gewehr ab, nachdem er vorher das Gewehr über genommen hatte, und der Dritte präsentirte, nachdem er vorher das Gewehr über nahm.

Ohne Gewehr über geht es nun einmal nicht — das „Gewehr über” ist das Einmaleins und das A B C beim Militär: der Soldat, der sein Gewehr nicht auf der linken Schulter hat, ist nur ein halber Soldat.

Da bemerkte der Herr Major, daß Se. Excellenz den Leuten den Rücken zuwandte und sich angelegentlichst mit dem Adjutanten unterhielt — ein wahres Glück, daß Excellenz den Griff nicht sah, den ein Recrut machte — der war hundsmiserabel!

„Gut, mein Sohn, sehr gut,” lobt der Major trotzdem mit lauter Stimme, damit Excellenz es hört.

Excellenz hört es und dreht sich um, er ist ja nur gekommen, um zu loben, was zu loben ist.

„Machen Sie Ihren Griff auch mir einmal vor.” Der Recrut thut's und bringt sich beinahe dabei um.

„Nur ruhig Blut, mein Sohn, ich thue Ihnen nichts, versuchen Sie es noch einmal.”

Wer nichts kann, der leistet nichts, weder mit ruhigem noch mit unruhigem Blut, und so wird denn auch dieser Griff jammervoll.

„Schafskopf,” brummt Excellenz vor sich hin, und es bleibt ungewiß, wen er mit diesem epitheton ornans meint, ob den Recruten, der so wenig leistete, oder den Vorgesetzten, der sich über solche Leistungen in Lobeshymnen erging.

Die größte Dummheit, die ein Untergebener machen kann, besteht entschieden darin, daß er die Vorgesetzten auf sein Vorhandensein in diesem Weltenraum aufmerksam macht, die besten Frauen sind diejenigen, von denen man nicht spricht, die besten, klügsten und verständigsten Untergebenen diejenigen, die selbst nicht sprechen.

Hätte der Herr Major sein „Gut, mein Sohn, sehr gut” für sich behalten, so hätte Excellenz sich ruhig mit dem Adjutanten weiter unterhalten und am Schluß der Besichtigung gesagt: „Das, was ich gesehen habe, hat mich in jeder Weise befriedigt.” Das hätte ganz der Wahrheit entsprochen; wenn die Excellenz garnichts gesehen hätte, konnte auch unmöglich ir gend etwas nicht befriedigt haben.

Nun aber war Excellenz hellhörig und helläugig geworden — man ist doch schließlich nicht zum Spaß Excellenz und für nichts und weiter(2) nichts bezieht man doch auch nicht sein hohes Gehalt, und sich ein X für ein U vormachen lassen wollte er doch auch nicht, und wenn der Major glaubte, daß er ihn, die hohe Excellenz, zum Narren haben könnte, so irrte er sich ganz bedeutend.

„Jammervoll,” sagte da Se. Excellenz ohne jede weitere Einleitung und ohne jeden weiteren Schluß.

„Sehr schlecht,” beeilte sich der Major dem Recruten zuzurufen, der eben die schöne Wendung „Links — um” gemacht hatte.

„Wenn ich sage jammervoll, Herr Major, dann ist es jammervoll und nicht sehr schlecht, ich wünsche nicht, daß Sie meinen Tadel durch Ihre Bemerkungen abschwächen, mein Urtheil ist das allein maßgebende.”

Ei verflucht!

Der Major wollte sich, weil er so vorlaut gewesen war, auf die Zunge beißen, aber selbst Das konnte er nicht einmal, denn die Zunge klebte ihm vor Angst am Gaumen und war trotz allen Zuredens nicht zu bewegen, ihren Platz zu verlassen.

„Jetzt werde ich einmal besichtigen,” sprach Excellenz, und Alle, die es hörten, fielen innerlich in Ohnmacht.

„Ziehen Sie sich einmal den rechten Stiefel aus,” befahl er einem Soldaten — der that's und hatte ein Loch im Strumpf.

„Jammervoll,” knurrte Excellenz, „wenn die Leute so angezogen sind, können sie natürlich auch nichts leisten.”

Niemand widersprach — folglich behielt Excellenz Recht.

Nach mehreren Stunden, in denen auf dem Casernenhof Heulen und Zähneklappern geherrscht hatte, verabschiedete sich der hohe Herr und seine Kritik lautete: „Meine Herren was ich sah, waren keine ausgebildeten Recruten, sondern militärische gekleidete Civilisten, die in den Händen eine Waffe tragen, mit der sie nicht umzugehen wissen.”

Dem Herrn Major schwollen bei dieser Kritik, die gerade keine allzu optimistische Auffassung von den Leistungen der jungen Soldaten erhielt(3), die Zornesadern auf der Stirn. Nachdem die Excellenz abgereist war, suchte er seine Wohnung auf, und dort fand ihn bald darauf sein Adjutant todt in seinem Lehnstuhl — er hatte sich thatsächlich todtgeärgert, todtgeärgert nicht über den Vorgesetzten — über die sich zu ärgern hatte er sich schon lange abgewöhnt — sondern er hatte sich über sich selbst todtgeärgert, über seine eigene, grenzenlose Dummheit, die da lobte, wo nichts zu loben war, und die dadurch den Zorn des Gewaltigen heraufbeschwor.

Wäre der Scheintodte nicht einem Schlaganfall erlegen und eines natürlichen Todes gestorben, er lebte heute noch irgendwo als active Excellenz, einem Scheintodten bricht nichts auf der Welt das militärische Genick, er kann die größten Thorheiten machen — er bleibt am Leben und avancirt.

Der Scheintodte gehört zu jenen Menschen, die mehr Glück als Verstand haben, und Das befähigt sie, die höchsten Ehrenstellen zu erreichen.


Fußnote:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „Anpfiff”. (zurück)

(2) In der Fassung der beiden späteren Bücher heißt es hier: „wieder”. (zurück)

(3) In der Fassung der beiden späteren Bücher heißt es hier: „enthielt”. (zurück)


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