Nüters Samowar.

Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Meine kleine Frau und ich.”


Frau Elisabeth strahlte vor Freude, sie feierte heute ihren Geburtstag. Gestern abend erst war sie von einem achttägigen Besuch bei ihrer Mutter zurückgekehrt, und ihr Mann hatte diese Zeit dazu benutzt, im Salon den alten Wärmespender fortnehmen und dafür einen schönen, großen, amerikanischen Ofen setzen zu lassen. Ein solcher Ofen war von jeher ihr Lieblingswunsch gewesen. Als sie mit ihrem Gatten noch zur Miete wohnte, mußte sie sich ja bescheiden mit dem, was sie vorfand, aber als ihr Mann sich endlich entschlossen hatte, die reizende kleine Villa zu kaufen, die sie nun ihr eigen nannten, da war der Wunsch nach einem „Amerikaner” von Tag zu Tag mächtiger in ihr geworden.

Und jetzt war er erfüllt. Sie konnte das Glück kaum fassen, und immer und immer wieder betrat sie den Salon, in dem der neue Ofen des Augenblicks harrte, da er angezündet wurde. Noch heute sollte dies große Ereignis vor sich gehen, denn Frau Elisabeths Geburtstag war im Oktober, und kalt und sausend pfiff der Herbstwind um das Haus, während Regen und Hagel prasselnd gegen die Fensterscheiben schlugen.

Wie sie sich freute auf die Glut, die nun bald dem neuen Ofen entströmen würde. Praktisch und sparsam, wie sie war, berechnete sie aber auch gleich den Nutzen, den ihr das Geschenk brächte. Die vier im Parterre gelegenen Zimmer gingen durcheinander; zuerst kam das Eßzimmer, dann das Empfangszimmer, daneben der Salon und endlich das Erkerstübchen, von dem aus man einen entzückenden Blick über Wald und Feld hatte. Sicherlich konnte man mit dem Amerikaner die drei letzten Zimmer heizen, so daß also nur noch übrigblieb, täglich eine Kleinigkeit in der Eßstube einzulegen — eine große Ersparnis für die Hausfrau, eine große Erleichterung für die Dienstboten. Ein amerikanischer Ofen geht ja nie aus, man wirft morgens und abends nach, und das Feuer brennt ewig.

„Gnädige Frau, der Töpfer ist da,” meldete das Mädchen.

Freudig eilte sie dem Eintretenden entgegen — noch in der letzten Sekunde besinnt sie sich, sonst hätte sie ihm die Hand gereicht. Das hätte sich doch nicht geschickt, ebensowenig, wie es sich schickt, einem Fremden gegenüber Freude oder Schmerz zu zeigen.

„Ach, Sie sind es nur, Töpfermeister?” Sie betonte das Wort „nur”, um damit anzuzeigen, daß sie jemand anders erwartet hatte, und doch ersehnte sie die Ankunft des vor ihr Stehenden seit Stunden.

Sie sieht nun zu, wie der Töpfer den bis an den Ofen heranreichenden großen Teppich zurück­schlägt und sich dann an die Arbeit macht. Sie verfolgt jede seiner Bewegungen und wendet kein Auge von ihm ab.

Aber noch ein anderer steht da und sieht mit großen, erwartungsvollen Augen auf das, was da vorgeht. Das ist Nüter, der Sohn des Hauses und das einzige Kind des Herrn Dr. med. Ascheborn und seiner Gattin.

Nüter ist, wie jedes Kind in den Augen der Eltern, ein Wunderkind. Er ist nun bereits zwei Jahre alt und körperlich und geistig sehr entwickelt. Er läuft den ganzen Tag im Haus herum, weiß von jedem Stück, das er in die Hand bekommt, wo es hingehört, findet die Zuckerdose und den Honigtopf in allen nur möglichen Verstecken, die die Mutter in schlaflosen Nächten ersonnen hat, er findet in dem Schlüsselkorb mit tödlicher Sicherheit den Schlüssel zum Eßschrank, in dem Kakes, Bonbons und sonstige Süßigkeiten aufbewahrt werden — kurz, er ist ein sehr kluges Kind. Nur sprechen kann er noch nicht — sieben Worte sind ihm mit vieler Mühe beigebracht worden, das achte, „Kucker”, er meint natürlich Zucker, hat er von selbst gelernt. Diese acht Worte bilden sein ganzes Repertoire, aber die Eltern sind darüber nicht traurig, im Gegenteil, der Junge ist geistig so rege, daß es für die Gesundheit des Kindes sogar gefährlich wäre, wenn er schon mehr sprechen könnte und sich dadurch geistig noch mehr anstrengte.

Bei der Taufe hatte er die Namen Paul Kurt erhalten, aber die paßten nicht für das gewöhnliche Leben, da bedurfte man eines Kosenamens. Ohne den geht es ja nun einmal bei kleinen Kindern nicht ab, und das Herz der Eltern erfindet bei den Liebkosungen ihrer Kleinen oft die seltsamsten Bezeichnungen; habe ich es doch selbst einmal mitangehört, wie ein Vater seinen Jüngsten, ein Bild von Kraft, Schönheit und Gesundheit, jubelnd in die Arme schloß und vergebens nach Worten rang, nichts schien ihm für den Liebling gut und apart genug: „O Du — Du — Telephondraht Du,” seufzte er endlich, und damit hatte er seinem Herzen Luft gemacht. Und der Telephondraht kreischte vor Vergnügen laut auf.

Nüter war eine Nachbildung von Hanne Nüte, der bekannten Reuterschen Gestalt. Wer den Namen zuerst für Paul Kurt aufgebracht hatte, wußte kein Mensch, genug, er war da, und wie sich um den Ruhm, der Geburtsort Homers zu sein, sieben Städte stritten, so kämpften hier sieben Tanten miteinander, von denen jede für sich den Ruhm in Anspruch nahm, zuerst „Nüter”gesagt zu haben.

Also Nüter stand in seinem schneeweißen Kleide, mit der großen fliegenden, roten Atlasschleife auf der rechten Schulter — das Festkleid war zu Ehren des Geburtstages angezogen worden — neben seiner Mutter und schaute mit seinen großen, blauen Augen, die unter dem dichten, blonden Haar, das ihm die ganze Stirn bedeckte, hell hervorleuchteten, staunend und bewundernd auf den fremden Mann. Aber allmählig[sic! D.Hrsgb.] mochte ihm das Bewußtsein aufdämmern, daß er von seinem Standpunkt aus nicht genug sehen konnte, langsam setzte er sich in Bewegung, nach Kinderart mit den ganzen Beinen, anstatt mit den Füßen gehend, und machte endlich in unmittelbarer Nähe des Ofens Halt. Neugierig guckte er durch das Marienglas in den Ofen hinein, wo die Anthrazitkohlen zu glimmen und zu glühen begannen und allmählich die Scheiben rötlich färbten. Neugierig streckte Nüter die Hände aus, aber das Wort „Samowar”, das die Mutter ihm zurief, ließ die erhobenen Ärmchen schnell sinken. Seitdem das Kind sich einmal am glühenden Samowar die Hände verbrannt hatte, war dies das Zauberwort, mit dem man es bannte, wenn er seine Finger nach unerlaubten Dingen ausstreckte. Bald war ein Buch, die Zuckerdose, der Schreibtisch des Vaters für ihn Samowar — Sachen, die er nicht berühren durfte, und stets folgte er gehorsam dem Ruf. Aber heute war die in ihm erwachte kindliche Neugier stärker als die Furcht vor der Strafe, die stets eintrat, wenn er auch nur eine Sekunde zögerte, gehorsam zu sein; so klopfte er denn mit seinen kleinen Fingern erst leise und dann immer stärker gegen das Marienglas und stieß ein freudiges und zugleich erstauntes „O” aus, als seine Hand durch das Glas hindurchdrang.

„O” war eins der acht Worte, die Nüter ohne Anstoß zu sprechen vermochte und das stets die freudige Bewundeung der Mutter hervorried: in diesem Augenblick ließ es aber das Mutterherz erbeben, nicht des Kindes, sondern der Scheibe wegen, und einige energische Schläge auf die schuldigen Finger bewiesen Nüter, daß Marienglas doch Samowar sei und brenne.

Zum Glück hatte der vorsichtige Gatte gleich einige Reservescheiben mitkommen lassen, und so hatte der angerichtete Schaden weiter keine Folgen, als daß Nüter die geschlagenen Finger in den Mund steckte und aus halb geöffneten Augen seine Mutter ansah: es war dies das Stadium, in dem er nicht wußte, ob er weinen sollte oder nicht; sah die Mutter ihn gleich wieder freundlich an, so war auch bei ihm gleich wieder eitel Freude und Sonnenschein; wurde er aber nicht weiter beachtet, so ließ er seinen Tränen freien Lauf.

Heute hatte die Mutter keine Zeit für ihn, und schon wollte er sein Konzert beginnen, dessen Finale stets eineTracht Schläge bildete, als etwas Neues seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Der Töpfer hatte die neue Scheibe eingesetzt und begann nun der gnädigen Frau den Ofen zu erklären, „denn Bescheid wissen muß man mit ihm, sonst ist das mit so 'nem Amerikaner wie mit uns Menschenkindern, jedes will apart behandelt sein.” Nun erklärte er der genau hinhorchenden Frau Elisabeth den Mechanismus. „Also dies zieht man heraus, wenn es langsamer brennen soll, und dies dreht man nach links — dann brennt es schneller, und was die Schrauben sind, die müssen immer fest zu sein, damit die Hitze nicht unnötig entweicht, denn gnädige Frau wissen ja aus der Schule, die wir ja nun heute nicht mehr besuchen, daß die Hitze um so größer ist, je fester der Verbrennungsraum abgeschlossen ist. Und dann, was hier unten die kleinen Klappen sind, die müssen je nachdem sein, entweder geöffnet oder fermiert, also geschlossen, je nachdem man das nun haben will, ob warm oder kalt. — Sehen Sie, so ist warm, und so ist kalt! Aber was die Hauptsache ist, das ist das Pökern, wie man das hier bei uns zu benennen pflegt — da müssen gnädige Frau hier diesen Griff mit seinem viereckigen Kopf oben auf die viereckige kleine Stange setzen und dann gelegentlich pökern — sehen Sie, dann fällt, was sich die Asche ist, hier unten runter, und was die Kohlen sind, die Anthraziter, die haben sich dann mehr Luft und können dann ordentlich glösen.”(1)

Und er setzte den Mechanismus in Bewegung und rüttelte und schüttelte, daß die Asche, mit hellen Funken vermischt, aus den Rosten hindurch herniederfiel, und dieses schöne Schauspiel veranlaßte Nüter zu erneuten Ausrufen seines „Oh — oh”, die diesesmal von der Mutter gebührend gewürdigt wurden.

Die gnädige Frau hatte nun alles verstanden, und nun wurden der Diener und die Dienstmädchen hereingerufen, damit auch sie lernten, mit dem Amerikaner umzugehen. Ein fürstliches Trinkgeld belohnte den Töpfermeister für die Mühe, die er sich gegeben, und dann entfernte sich dieser, nachdem er vorher den guten Rath ertheilt hatte, den Ofen nur nicht wieder ausgehen zu lassen — „was die Arbeit ist, das ist ja nicht so schlimm, den wieder anzukriegen, aber mit dem Schmutz, den das macht, ist das ein böses Ding.”

Je besser der Ofen brannte, je angenehmer die Zimmer­temperatur wurde, desto größer wurde die Freude Frau Elisabeths. Aber des Menschen Herz kann weder Freude noch Schmerz in sich verschließen, es sehnt sich danach, andern gegenüber davon zu erzählen und zu sprechen. Frau Elisabeth war allein mit Nüter zu Haus — ihr Mann war, wie immer, auf Praxis — und so empfand das Geburtstagskind Langeweile und Verdruß. Erst die Mittagsstunde und die eintretenden Gatulanten gaben ihr die gute Laune zurück, die umso besser wurde, je mehr sie um den Besitz des Amerikaners beneidet wurde.

Am Nachmittag war eine kleine Gesellschaft im Hause des Doktors, und nachdem man das Diner zu sich genommen, ging man in den Salon, wo der Kaffee serviert wurde. Auch Nüter, der bis dahin bei dem Kindermädchen gewesen war, ward nun vorgeführt und, wie sich das bei einem Wunderkinde von selbst versteht, nach Gebühr bewundert. Nüter war auch wirklich süß, und er befand sich in der denkbar besten Laune, denn der Anblick der vielen Kaffeetassen rief in ihm die Erinnerung daran wach, daß auf dem Boden jeder Tasse wenigsten ein Stück „Zucker” schwämme, und er war es von Vater und Mutter her gewöhnt, daß diese ihm stets den Rest des im Kaffee geschmolzenen Zuckers in den Mund steckten. Große Genüsse standen ihm also bevor, und er bemühte sich, dieselben durch ein sittsames und artiges Benehmen zu verdienen.

„Also von ober her wird der Ofen gefüllt?” fragte da verwundert eine Dame, die nur zweibeinige Amerikaner kannte.

„Jawohl, von oben, meine Liebe,” antwortete Frau Elisabeth mit einer Sicherheit, die nur gründliches Wissen verleiht, und zum Diener gewandt, setzte sie hinzu: „Jean, ich glaube, Sie können auch nachwerfen, besorgen Sie sich nachher Feuerung.”

„Sehr wohl, gnädige Frau.” Jean war eine Perle; es giebt auch männliche Perlen, obwohl es „die” Perle heißt.

Jean verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem eleganten Kohlenhelm zurück. Er nahm von dem Ofen den oberen Aufsatz ab und schickte sich an, die Kohlen in die glühende Tiefe hinabzuschütten.

„Erst rütteln, Jean, damit die Asche herunterfällt,” mahnte Frau Elisabeth.

„Nein, wie Sie aber auch genau Bescheid wissen, meine liebe Frau Doktor — Sie sind wirklich die Perle einer Hausfrau.”

Weibliche Perlen sind keine Seltenheit.

„Sehr wohl, gnädige Frau,” erwiderte Jean; er stellte den Kohlenkasten wieder hin und ließ sich auf ein Knie nieder, um den zum Rütteln erforderlichen Handgriff, der auf dem Ofenvorsatz lag, aufzuheben.

Aber der Handgriff war nicht da.

Jean ließ sich auch auf das zweite Knie nieder, um dadurch mit den Augen tiefer zu kommen und unter den Ofen sehen zu können.

Aber der Handgriff war nicht da.

Jean erhob sich wieder und schob leise und unhörbar mit dem rechten Fuß den Ofenvorsatz beiseite.

Aber der Handgriff war nicht da.

Frau Elisabeth verfolgte gespannten Blickes die Bewegungen ihres Dieners.

„Suchen Sie etwas, Jean?”

„Sehr wohl, gnädige Frau, der Handgriff fehlt.”

„Unbegreiflich,” erwiderte Frau Elisabeth, „so fragen Sie die Mädchen.”

Jean verschwand geräuschlos, um gleich darauf zu melden: „Die Mädchen wissen nicht, wo er ist.”

Frau Elisabeth begann unruhig zu werden.

„Ich verstehe das garnicht; ich selbst habe doch heute Mittag den Griff dort noch liegen sehen — haben Sie aber auch wirklich ordentlich nachgesucht?”

Jean machte ein Gesicht, wie gute Diener es stets thun, wenn sie sich in ihrer Würde beleidigt fühlen, aber trotzdem ließ er sich nochmals auf ein Knie nieder und durchforschte mit seinen Augen alle Ecken in der Nähe des Ofens.

Aber der Handgriff war nicht da.

Da druchdrang Frau Elisabeth plötzlich die Erinnerung an den heutigen Morgen: Sie wandte sich an den Knaben, der, auf dem Schoß einer Dame sitzend, eben den Zuckersatz aus einer leeren Tasse auslöffelte.

„Nüter, weißt Du nicht, wo der Griff ist?” Und sie versuchte, ihm durch Handbewegungen den Zweck des Griffes zu erklären.

Auch Nüter hatte das vergebliche Suchen des Dieners bemerkt, nur was gesucht wurde, hatte er nicht begriffen, und so antwortete er denn auf die Frage der Mutter ohne Besinnen: „Di-di.”

Für ihn war „Di-di” soviel wie „aus”, „fort”, wie er auch stets auf die Frage des Mädchens: „Nüter, wollen wir nun spazieren gehen?” mit „Di-di” antwortete.

„Di-di” wiederholt Nüter und lacht, während er zugleich vor Wohlbehagen mit den Füßen strampelt.

Also Nüter hat den Haken fortgetragen — das ist der Mutter nun klar; schleppt er sich doch den ganzen Tag mit Sachen im Haus herum, und hat der Vater doch erst kürzlich ein Buch, das er gesucht, im Aschkasten wiedergefunden.

Frau Elisabeth nimmt den Knaben auf ihren Arm und spricht zu ihm mit zärtlichster Betonung: „Wo hat Nüter den Haken hingethan?”

Allgemeine Spannung; selbst Jean, der sonst nie zuhört, was gesprochen wird, harrt erwartungsvoll des Wortes.

„Da,” ruft Nüter plötzlich und als alle der Richtung seiner ausgestreckten kleinen Hand folgen, sehen sie zwei zierliche Nippfiguren, die oben auf der Bücherbord stehen. Gleichzeitig faltet der kleine Knirps die Hände und schnalzt mit der Zunge, was bei ihm heißt: Bitte, bitte, gieb mir das.

„Nichts bekommst Du,” schilt die Mutter, „erst sagst Du, wo Du den Haken hingeschleppt hast.” Da fällt ihr noch rechtzeitig ein, daß der Bube ja nur sieben Worte sprechen kann, so setzt sie ihn denn auf die Erde nieder und sagt: „So, Nüter, nun sei auch ein artiges Kind, und sag' Mama, wo der Haken ist.”

„Di-di” ruft Nüter wieder, denn das Kindermädchen tritt ins Zimmer, und Nüter weiß, daß er nun zu Bett muß.

„Go-go,” sprechen seine Lippen, das ist das einzige, was er von seinem Abendgebet weiß, und er spricht es gewöhnlich schon mit gefalteten Händen, wenn er seine Abendsuppe bekommt.

Sonst rührt dies kindliche „Gott — Gott” der Mutter Herz, sie pflegt den Liebling dann zu küssen und zu hm zu sagen: „Schlaf wohl, mein Herzblatt.”

Aber heute darf er noch nicht schlafen, erst muß er verraten, wohin er den Haken gebracht hat.

Frau Elisabeth sieht aller Blicke auf sich ruhen, stets hat sie ihr Kind als das artigste und folgsamste der Welt gepriesen, nun gilt es, die Wahrheit ihrer Worte zu zeigen.

Sie greift in einen Kasten voll der herrlichsten gefüllten Bonbons und sucht von den schönen den schönsten, von den großen den größten heraus und hält ihn dem Kinde vor.

„So, Nüter, nun sei süß, nun sei ein artiges, folgsames Kind, nun geh und bringe den Haken, dann schenkt Mama Dir auch die Bonbons.”

„Bo-bo,” macht Nüter und streckt bittend die Hände aus, aber der Mutter Herz ist kalt und hart.

„Erst such, eher bekommst Du nichts.”

Nüter läuft nach der Eßstube, und die Schar der Erwachsenen folgt ihm — ein Bild, gleich dem, wenn Mr. Cumberland(2) einen Hypnotisierten durch einen Blick zum Folgen zwingt, er mag wollen oder nicht, er muß — und so müssen auch hier die Großen dem Kinde folgen, sie müssen doch sehen, wie die Sache endigt.

Vor dem Eßschrank bleibt Nüter stehen und versucht die Thür zu öffnen.

„Also hierhin hat er ihn getragen,” denkt die Mutter, „natürlich, das ist ja der einzige Ort, der für ihn Interesse hat.” Sie macht die Thür auf, und begierig streckt Nüter die Hände aus nach dem Platze, auf dem sonst der Kasten mit den gefüllten Bonbons zu stehen pflegt, und als er ihn nicht vorfindet, fängt er gar jämmerlich zu weinen an.

Der Gesellschaft fängt die Hakengeschichte an langweilig zu werden, das Kind hat wirklich nur Interesse für Essen und Trinken, und man begiebt sich wieder in den Salon zurück. Nur Frau Elisabeth bleibt noch bei dem Kleinen; sie nimmt ihn auf den Arm und spricht zu ihm wie zu einem Erwachsenen. Andächtig lauscht er ihren Worten, aber seine Aufmerksamkeit wird durch das Bellen eines Hundes abgelenkt, und er hat fortan auf alle weiteren Fragen keine andere Antwort als: „Wau — Wau.”

Und noch immer steht Jean in respektvoller Haltung neben dem Ofen und wartet des Hakens, der da kommen soll.

Endlich reißt auch der Mutter die Geduld, und sie schlägt den Buben, daß er wie ein Wilder zu schreien beginnt. Sie giebt dem Mädchen den Befehl, den Knaben sofort zu Bett zu bringen, und sie selbst begiebt sich zu ihren Gästen zurück. Aber die Geburtstags­stimmung ist verflogen — sie sieht nicht mehr die noch im rosigen Schein leuchtenden Weingläser, sondern sie sieht dieselben bereits schwarz und dunkel, und im Geiste hört sie die Worte des Töpfermeisters: „Lassen Sie den Ofen man nur nicht ausgehen.” Sie denkt an den geweissagten Schmutz — und wenn sich auch sonst die Versprechungen und Weissagungen der Handwerker nicht immer erfüllen, das „Schmutzmachen” trifft stets zu. Und der Salon ist erst in ihrer Abwesenheit, nachdem der Ofen gesetzt war, gründlich rein gemacht worden.

„Jean, Sie müssen sofort zum Töpfer und zum Schlosser, beide müssen gleich herkommen.”

„Sehr wohl, gnädige Frau.”

Jean verschwindet und der Hausherr begleitet ihn, nachdem er sich bei seinen Gästen entschuldigt, da er für die Bowle sorgen wolle.

Die Bowlen im Hause des Doktors erfreuten sich des denkbar besten Rufes, sowohl was das Quantum als die Qualität anging, und der Doktor vertraute die Zubereitung derselben keinem andern als sich selbst an. Auch heute morgen hatte er die Bowle selbst angesetzt. Die frische Ananas, die er sich aus Hamburg von Heimerdinger hatte kommen lassen, hatte er selbst geschält und eigenhändig in Scheiben geschnitten, und als die alte Gehimräthin zum dritten Mal innerhalb einer Stunde nach ihm schickte, ließ er sagen, er habe augenblicklich keine Zeit, er wäre bei einer sehr wichtigen Operation; er wußte ja genau, daß auch heute der alten Dame dasselbe fehlte wie seit Jahren, nämlich nichts. Dann hatte er die Ananas in den Bowlentopf gelegt — in einen Topf, in dem ein Kind, das hineinfiel, ertrinken konnte —, dann einen Zuckerhut zerschlagen, einige Stücke desselben in den Topf hineingeworfen und dann Mosel aufgegossen, „nicht zu knapp”, wie sein Lieblingswort lautete. Den Dienstboten hatte er den Bowlentopf ans Herz gelegt, als wäre er sein größter Schatz. Dann war er auf Praxis gefahren, und als er mittags nach Hause kam, galt sein erster Besuch der Bowle, und er bezahlte sich diese Visite mit einem Glas des edlen Getränkes; und während er kostete, umspielte ein glückliches Lächeln seine Lippen, er war mit sich zufrieden. Nun galt es nur noch den Sekt einzugießen. Jede Flasche wurde erst sorgfältig, nachdem sie entkorkt war, an die Nase geführt — eine Flasche, die nach dem Korken riecht, kann ja alles vererben — und erst nachdem sie als tadellos befunden, dem Mosel zugegossen.

Mit lautem Halloh wurde er von den Freunden begrüßt, als er mit dem Diener zusammen den gewaltigen Bowlentopf in das Zimmer geschleppt hatte. Nun erst fing es an, gemüthlich zu werden. Die Gäste kannten das von früher her, denn der Doktor trank selten, dann aber auch gründlich. Betrunken wurde er nie, und wenn er an solchen Abenden zu einem Kranken geholt wurde, war er so klar im Kopf und seine Hand so sicher, als wäre nichts anderes als Wasser über seine Lippen gekommen.

Die Gläser wurden gefüllt und das erste Glas der Hausfrau dargebracht. Alle tranken langsam und bedächtig, wie sich das bei einem guten Trunk geziemt, aber am langsamsten und bedächtigsten trank der Hausherr, war es doch ein Theil seiner Kunst und seines Könnens, was da vor ihm in dem großen Topf wogte.

Aber je mehr und länger der Doktor trank, desto mehr rümpfte er die Nase, desto mehr schwollen die Adern auf seiner Stirn — kein Zweifel, die Bowle war verdorben, sie hatte einen Beigeschmack, sie schmeckte nach — nach — wonach denn nur — er hatte doch sonst eine so feine Zunge, und doch konnte er diesen Geschmack nicht definieren.

Er stürzte hinaus in die Küche, sein Ruf als „Bowlenbrauer” stand auf dem Spiele — er rief die Mädchen: „Wer ist in meiner Abwesenheit bei der Bowle gewesen? Gesteht — oder ich jage Euch beide heute Abend noch aus dem Dienste.”

Die Mädchen zitterten und bebten vor dem Herrn, den sie noch nie so zornig gesehen hatten. „Niemand!” schwuren sie beide gleichzeitig.

„Ihr lügt!” donnerte er; als sie aufs neue ihre Unschuld beteuerten, examinierte er wie ein Untersuchngsrichter.

„Wer war außer euch noch in der Küche?”

„Jean.”

Der war über allen Zweifel erhaben — der trank selbst viel zu gern eine gute Bowle, der verdarb sicherlich nichts.

„Wer sonst noch?”

„Niemand, Herr Doktor, nein, ganz gewiß nicht,” kreischten sie erschrocken auf, als er drohend den Arm erhob. „Niemand, ganz gewiß nicht — nur noch Nüter.”

Der erhobene Arm sank schlaff hernieder, eine schreckliche Ahnung durchfuhr den Hausherrn; er stürzte in den Salon zurück, auf den Bowlentopf zu, und mit einem Schenklöffel suchte und fischte er auf dem Grund herum, bis er gefunden, was er argwöhnte: den eisernen Haken des amerikanischen Ofens.

Aber als er, was er bisher doch nur geargwöhnt, als Thatsache vor sich sah, blieb er einen Augenblick wie erstarrt stehen, während seine Gäste in ein schallendes Gelächter ausbrachen und Frau Elisabeth sich einer Ohnmacht nahe fühlte; denn was sollten die Gäste nun trinken?

Einen Augenblick nur stand der Hausherr unbeweglich, dann aber stürzte er die Treppe hinauf und riß die Stubenthür auf, hinter der sein Sohn in seinem Bettchen lag und schlief. Als Nüter Schritte in der Stube hörte, erwachte er und rief, als er den Eintretenden erkannte: „Papa — Papa!”

Doch das Vaterherz, sonst höher schlagend bei diesen Worten von seines Kindes Lippen, blieb heute kalt, und dem Knaben den gefischten Eisenhaken vorhaltend, damit das Kind wisse, weshalb es seine Schläge bekomme, hob er ihn aus dem Bett, legte ihn über das Knie, und sich vorher noch gewaltsam zur Ruhe zwingend, damit die Züchtigung nicht zu stark ausfiele, ließ er seine strafende Hand auf jene Körperstelle niederfallen, die sonst in ihrer rosigen Schönheit, einer reifen Aprikose nicht unähnlich, das Auge des Vaters und des Arztes zu entzücken pflegte.

„Dies ist für die verdorbene Ananas — dies für den Zucker — dies für den Mosel — dies für meine verlorene Arbeit und dies und dies und dies und dies für den unnöthig vergeudeten Sekt.”

Dann ging der Doktor wieder hinab zu seinen Freunden, für die Frau Elisabeth schon andern Wein aus dem Keller hatte holen lassen. Oben zeterte und schrie das Kind, als ob es sterben wollte — aber es blieb am Leben, und fortan war, wie so vieles andere, auch der eiserne Haken „Samowar”, den anzufassen sich Nüter nie wieder getraute.


Fußnoten:

(1) Der Text von Beginn ab bis zum Ende dieses Absatzes fehlt in der Fassung des Verlags M.Simpson. (zurück)

(2) Siehe auch„Cumberland” in: „Die Traumdeutung” und in: „Zum ersten Male Strohwittwer”. (zurück)


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© Karlheinz Everts