Leutnant Ritters Badereise.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Richtung, Fühlung, Vordermann!” und
in: „An die Gewehre”


Das kannte man im Regiment garnicht anders, als daß Leutnant Ritter sich jedes Jahr am 1. Februar von neuem an seinem alten Gelenkrheumatismus erkrnkt meldete. Vier Wochen hütete er dann das Zimmer, teilweise auch das Bett und am 1. März war er dann so weit, um auf sechs Wochen nach Wiesbaden fahren zu können. Mitte April kehrte er von dort zurück und dann ging es ihm eine ganze Zeit lang glänzend, dann weniger gut, Den Herbst und den Winter kratzte er sich so durch , Mitte Januar begann der Zusammenbruch und am 1. Februar lag er auf der Nase.

Das wiederholte sich nun schon seit zehn Jahren mit der größten Regelmäßigkeit und mit der Genauigkeit eines auf den hundertsten Bruchteil einer Sekunde regulierten Uhrwerkes. Und so konnte und wollte der Herr Oberst es denn auch nicht glauben, als er am 1. Februar des letzten Jahres, als er mit der üblichen Frage: „Nun, was gibt es neues?” des Regimentsbüro betrat, von dem Adjutanten die Antwort erhielt: „Herr Leutnant Ritter hat sich nicht krank gemeldet.”

Der Kommandeur machte ein ganz erstauntes Gesicht: „Nanu? Das verstehe ich nicht, heute ist doch der Erste.”

„Zu Befehl, Herr Oberst, aber trotzdem —”

Der Adjutant schwieg und zuckte die Achseln: Was sein Herr nicht verstand, durfte er natürlich erst recht nicht verstehen.

Endlich fuhr der Oberst aus seinem Nachdenken empor: „Aber es muß doch einen Grund haben, daß Leutnant Ritter sich nicht krank meldet.”

„Das schon,” stimmte der Adjutant dem Vorgesetzten bei. „Und vielleicht hat der Herr Leutnant sich nur deshalb nicht krank gemeldet, weil er gesund ist.”

Der Oberst sah seinen Adjutanten an, als hätte der den Verstand verloren, dann sagte er: „Nehmen Sie es mir nicht übel, lieber Borken, aber was Sie da eben redeten, war, gelinde gesagt, Kohl, denn wenn ein Mensch einmal an Gelenk­rheumatismus erkrankt war, dann behält er dieses Leiden auch bis zu seinem Tode. Ich kenne das von meinem armen Bruder her nur zu genau, was hat der nicht alles dagegen versucht, geholfen hat vieles, aber natürlich nur vorübergehend, wirklich helfen tut nichts und daß Ritter sich nur deshalb nicht krank meldet, weil er nicht krank ist, das ist völlig ausgeschlossen. Wer sich zehn Jahre lang am 1. Februar zu Bett legen muß, kann da nicht plötzlich aufbleiben, das wäre mehr als ein Wunder und die Zeiten sind vorüber. Sprechen Sie doch einmal ernstlich mit ihm, was er denn hat.”

Und das Resultat dieser Unterredung mit Ritter war, daß dieser dem Kommandeur durch den Adjutanten mitteilen ließ, es ginge ihm unbegreiflicher Weise so gut, daß er sich in diesem Jahre die Badereise schenken können.

„Das kann er nicht,” fuhr der Oberst auf. „Denn er ist nicht gesund, das bildet er sich nur ein. Ich weiß, was Gelenk&hy;rheumatismus bedeutet. Ich kenne das von meinem armen Bruder her, was hat der nicht alles dagegen versucht, geholfen hat vieles, aber natürlich nur vorübergehend, denn wirklich helfen tut nichts. Ich bin für das Wohl und Wehe meiner Untergebenen verantwortlich und wenn Leutnant Ritter denn nicht freiwillig in das Bad reisen will, weil er sich einbildet, gesund zu sein, da muß man ihn dadurch zu der Reise zwingen, daß man ihn zu der Reise zwingt. Veranlassen Sie doch bitte, daß der Assistenzarzt Herrn Leutnant Ritter einmal gründlich untersucht. Im allgemeinen haben die Assistenzärzte ja keine blasse Ahnung, ohne daß ich mit dieser Behauptung den Herren irgendwie zu nahe treten will, aber der unsrige bildet ja nach allem, was man über ihn hört, eine rühmliche Ausnahme. Er hat dem Dackel meiner Frau, als der kürzlich den Husten hatte, ein Mittel verschrieben, das sofort half. Schicken Sie den doch bitte gleich heute nachmittag zu Ritter hin.”

Das Ergebnis dieser Untersuchung war, daß Herr Leutnant Ritter tatsächlich gesund sei und keiner Badereise bedürfe.

Als der Herr Oberst diese Meldung erhielt, wurde er wütend und fluchte nicht schlecht: „Na, habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt, Borken, diese Assistenzärzte haben keinen Schimmer, nicht den leisesten Dunst einer Ahnung. Einen Dackel können sie zur Not kurieren, aber auch nur dann, wenn der ihnen etwas vorhustet, sonst stellen sie die Diagnose auf Verstopfung und geben dem Köter ein Klistier. Wenn der Assistenzarzt versagte, wie es vorauszusehen war, müssen wir den Herrn Stabsarzt bemühen. Ersuchen Sie den also bitte in meinem Namen, gleich heute nachmittag eine sehr eingehende Untersuchung des Kranken vorzunehmen.”

Das geschah denn auch und das Ergebnis dieser Untersuchung war, daß der Kranke vollständig gesund sei und in diesem Jahr wirklich keiner Badereise bedürfe.

Als der Oberst diese Meldung erhielt, raufte er sich beinahe die Haare: „Und ein Mann, der nicht einmal Gelenk­rheumatismus feststellen kann, nennt sich Stabsarzt. Na, nur ein wahres Glück, daß wenigstens wir Offiziere nicht verpflichtet sind, uns von den Militärärzten behandeln zu lassen. So viel weiß ich, ich vertraue mich keinem der Herren an, nicht einmal, wenn ich gesund bin. Behauptet der Mann allen Ernstes, Leutnant Ritter wäre nicht krank und stellt damit, wenn auch nur indirekt, die Behauptung auf, Gelenk­rheumatismus wäre heilbar. Das ist er aber nicht, das weiß ich von meinem armen Bruder her. Was hat der nicht alles dagegen versucht, geholfen hat vieles, wenn natürlich auch nur vorübergehend, aber wirklich geholfen hat nichts. Ich darf nicht schuld daran sein, daß die Krankheit wie bei meinem armen Bruder so auch bei Leutnant Ritter die Herztätigkeit mit in Mitleidenschaft zieht. Das muß wenigstens so lange wie nur irgend möglich verhindert werden, und deshalb veranlassen Sie bitte, daß der Herr Oberstabsarzt heute nachmittag den Kranken in meinem Auftrage auf das allergenaueste untersucht.”

So machte sich denn der Herr Oberstabsarzt am Nachmittag auf den Weg. Der war natürlich über die Gutachten der beiden ihm unterstellten Militärärzte sehr genau unterrichtet, und deshalb von vornherein fest entschlossen, mit seinem Urteil das der beiden anderen Herren umzustoßen, schon um dadurch zu beweisen, daß ein Oberstabsarzt klüger ist als ein Stabsarzt und ein Assistenzarzt zusammen. Er wollte den Gelenk­rheumatismus schon feststellen, darum war ihm nicht bange, aber so leicht, wie er es sich gedacht hatte, war das denn doch nicht. Es gelang ihm erst nach einer Stunde angestrengtester Arbeit und er gestand sich selbst, daß man schon ein Oberstabsarzt sein müßte, um das Leiden konstatieren zu können.

Am nächsten Morgen hielt der Herr Oberst einen ausführlichen Bericht über das Ergebnis der Untersuchung in Händen: „Die Krankheit wäre selbstver­ständlich noch da, sogar stärker als in früheren Jahren und auch etwas gefährlicher als sonst, weil sie nicht so offen zu Tage träte, nicht wie bisher in den Gliedern und Gelenken säße, sondern tiefer in den Sehnen und Muskeln. Auch das Herz schiene ein ganz klein wenig angegriffen, vorläufig allerdings in einer kaum bemerkenswerten Weise.”

Der Herr Oberst strahlte, das Attest fand seinen vollsten Beifall und namentlich das in dem Bericht dick unterstrichene Wort „selbstver­ständlich” schmeichelte seiner Eitelkeit: „Habe ich das nicht gleich gesagt, lieber Borken, wer den Gelenk­rheumatismus einmal hat, der wird ihn nie wieder los, ich kenne das von meinem armen Bruder her. —”

Dem Adjutanten graute bei der Vorstellung, die Geschichte noch einmal anhören zu müssen, so warf er denn, um den Herrn Oberst auf andere Gedanken zubringen, ein dickes Aktenbündel wie zufällig auf die Erde und machte sich dann daran, die lose herumliegenden Blätter wieder aufzulesen. Aber der Kommandeur hielt ihn zurück: „Lassen Sie doch das, das kann ja nachher eine Ordonnanz besorgen, aber was ich sagen wollte, mein armer Bruder! Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon einmal von dem erzählte. Der hatte dasselbe Leiden wie der arme Ritter, was hat der nicht alles dagegen versucht, geholfen hat ja vieles, aber natürlich nur vorübergehend, aber wirklich geholfen hat nichts, denn da hilft eben nichts. Nur ein wahres Glück, daß wir Ritters Krankheit jetzt endlich zweifellos festgestellt haben, da wird ihm auch in diesem Jahr die Badereise vorübergehend sehr gut tun.”

So fuhr Leutnant Ritter denn wieder nach Wiesbaden, er mußte, ob er wollte oder nicht, und die Taschen voll Geld, das er sich von allen möglichen Fonds „zur Wiederherstellung seiner Gesundheit” hatte geben lassen, langte er an der „Heilmühle” an, jener Anstalt, in der nur kranke Offiziere für ein billiges Geld Aufnahme und Behandlung finden. Er war ja dort Stammgast, so wurde er herzlich begrüßt, aber nach erfolgter Untersuchung wurde er dann doch gefragt: „Was wollen Sie denn hier? Sie sind ja ganz gesund. Ärztliche Vorschriften bestehen in diesem Jahre nicht für Sie, erholen Sie sich, amüsieren Sie sich, machen Sie weite Spaziergänge und vertreiben Sie sich die Zeit, so gut es geht.”

Das tat er denn auch und da sich in Wiesbaden noch nie ein Mensch gelangweilt hat, der gesund ist und Geld hat, so gingen die Wochen wie im Fluge dahin. Nur noch ein paar Tage, dann mußte er in die Garnison zurück und an dem vorletzten Tage seines Aufenthaltes unternahm er einen weiten Spaziergang in die Umgebung der Stadt. Er wollte einmal feststellen, wie weit er jetzt, im Gegensatz zu früher, ohne die geringsten Schmerzen zu verspüren, marschieren könne. So legte er denn einen Kilometer nach dem anderen zurück und stellte von Zeit zu Zeit mit Hilfe des Schrittmessers fest, wie groß die Entfernung war, die er zurückgelegt hatte. Es war trotz des Aprils ein selten schöner, fast zu warmer Tag. Gar mancher Schweißtropfen fiel von seiner Stirn zur Erde nieder, bis er dann plötzlich mit Schrecken merkte, daß auch noch andere Tropfen hernieder fielen. Er hatte bisher mehr auf den Weg als auf den Himmel geachtet, nun sah er erst die dunkelschwarzen Wolken, die sich dort zusammenzogen.

Und er war beinahe zwei Meilen von der Stadt entfernt, hatte keinen Mantel und keinen Schirm und nirgends bot sich ihm ein schützendes Dach vor dem Regen, der nun einsetzte, um sich dann plötzlich in einen Regenschauer zu verwandeln. Er floh vor dem Unwetter dahin, so schnell er nur konnte, aber als er endlich ein Dorf erreichte und in ein Haus trat, war er bis auf die Eingeweide durchnäßt. In einem Wagen erreichte er am Abend die Stadt und kaum in der Heilmühle angelangt, legte er sich sofort zu Bett und deckte sich bis an die Nase zu, denn ihn fror niederträchtig. Nur ein wahres Glück, daß er gesund war, sonst hätte dieser Spaziergang für ihn leicht schlimme Folgen haben können.

Die blieben, Gott sei Dank, aus, wenigstens vorläufig, denn gesund wie ein Fisch im Wasser kam er wieder in der Garnison an. Aber kaum war er acht Tage dort, da bekam er einen derartigen Anfall von Gelenk­rheumatismus, wie kaum zuvor. Er mußte sich krank melden und wand und krümmte sich vor Schmerzen.

Als der Herr Oberst davon erfuhr, blickte der lange nachdenklich vor sich hin, dann aber machte er ein freude­strahlendes Gesicht und sagte zu seinem Adjutanten: „Der arme Ritter tut mir ja furchtbar leid, aber ich wußte ja, daß es gegen das Leiden keine Heilung gibt, das kenne ich von meinem armen Bruder her. Wie gesagt, es tut mir aufrichtig leid, daß er krank ist, aber es ist nur ein wahres Glück, daß wir ihn nach Wiesbaden schickten, denn wenn er trotz des dortigen Aufenthaltes so krank geworden ist, dann möchte ich nur wissen, wie krank er heute wäre, wenn er seinen Willen durchgesetzt hätte und nicht in das Bad gefahren wäre?”


zurück zur

Schlicht-Seite