Der Reserve-Zecher.

Humoreske von Frhrn. v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 20.Aug. 1901 und
in: „Der höfliche Meldereiter”.


Der Herr Oberst, der, ein begeisterter Junggeselle, in der kleinen und trostlosen Garnison das Scepter über das seinem Commando unterstellte Infanterie–Regiment schwang, war ein gewaltiger Zecher vor dem Herrn. Mit Kleinigkeiten gab er sich in dieser Hinsicht nie ab, und seine Devise, die ihm ein guter Freund auch einmal auf dem Stammseidel hatte eingraviren lassen, lautete: „Wenn schon, denn schon”. Hieraus aber den Schluß ziehen zu wollen, daß er nicht täglich, sondern nur von Zeit zu Zeit gekneipt hätte, wäre nicht nur kühn und vermessen, sondern widerspräche auch direct der Wirklichkeit. Abend für Abend saß er in der Stammkneipe, ließ sich die neuesten Neuigkeiten erzählen, trieb Weltpolitik und trank und trank. Aber er betrank sich nie: einmal, weil Das mit seiner Stellung als Oberst und Regiments­commandeur unvereinbar war, dann aber auch, weil er ungeheure Quantitäten vertragen konnte. Seine Leutnants und Hauptleute waren in dieser Hinsicht weniger gut beanlagt, und so kam es, daß die jungen Herren sehr häufig, wenn sie des Morgens erwachten, starke Kopfschmerzen hatten, während dem Herrn Oberst das Wort „Jammer” so unbekannt war, daß er nicht einmal wußte, wie es geschrieben wurde. Besonders am Sonntag–Morgen ging es den meisten Herren sehr, sehr schlecht, denn der Herr Oberst liebte es, am Sonnabend–Abend die ganzen Herren seines Regiments am Stammtisch um sich zu sehen, und an dem Tage konnte man nicht einmal unter dem Vorwand, am nächsten Morgen frisch zum Dienst sein zu müssen, Müdigkeit vorschützen und sich früher empfehlen. Da mußten Alle bleiben, bis der Herr Oberst ging, und der ging sehr, sehr spät . . . einmal war es sogar vorgekommen, daß er garnicht gegangen war, sondern gleich bis zum Sonntag–Morgen–Frühschoppen sitzen blieb.

Da geschah es, daß eines schönen Tags zu einer mehrwöchigen Uebung einige Reserve–Officiere eingezogen wurden, und unter diesen befand sich ein Herr Müller, der in seinem Civilleben Weinhändler en gros war. Daß Reserve–Officiere über einen großen Durst verfügen und sich nach einer anstrengenden Felddienst­übung garnicht satt trinken können, ist ja eine notariell beglaubigte Thatsache, aber was der Leutnant Müller in dieser Hinsicht leisten konnte, Das überstieg Alles, was der Sergeant, der den Weinkeller nun schon seit vielen Jahren unter sich hatte, jemals erlebt hatte. Er konnte, wie er sich ausdrückte, garnicht so viel Wein herausgeben, wie der Andere trank.

Staunen ergriff Alle, wenn sie dem Leutnant Müller zusahen, und selbst dem Commandeur imponirte der Mann — der konnte es beinahe ebenso gut wie er selbst. Einmal versuchte der Oberst, sich klar zu machen, was der Leutnant Müller wohl trinken könnte, wenn er nicht Leutnant, sondern Oberst wäre. Aber er gab das Rechenexempel bald auf, weil der Neid in ihm wach wurde.

Leutnant Müller führte bald im Regiment den Beinamen „der Reservezecher”, einmal, weil er der Reserve angehörte, dann aber auch noch aus einem anderen Grunde: Wenn am Sonnabend–Abend alle anderen Herren ihre Kräfte verbraucht hatten, zu weiteren Thaten nicht mehr fähig waren und dem Herrn Oberst weder etwas mehr vorkommen, noch ihm nachkommen konnten, da sprang Leutnant Müller in die Verlängerung. Er wurde von den Andern gewissermaßen aus der Reserve in das vorderste Treffen geführt und diente, wie die Reserve im Gefecht, dazu, durch sein Eingreifen die Sache zu einem baldigen Abschluß zu bringen.

Und eines Sonnabends wurde ganz besonders heftig gekneipt. Ein junger Leutnant hatte plötzlich ganz erschrocken ausgerufen: „Herrgott — — nun habe ich doch den Geburtstag meiner Tante vergessen!” und Dies gab Anlaß zu einem großen Trinkgelage. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen, und der Geburtstag der allen Herren natürlich ganz unbekannten alten Dame wurde ganz gehörig gefeiert. Hätte die gute Tante gesehen, was da Alles auf ihr Wohl getrunken wurde, sie wäre stante pede todt geblieben, und ihr Geburtstag wäre zugleich ihr Sterbetag geworden.

Der Neffe war der Erste, der erledigt wurde, dem ward so viel zugetrunken, daß ihm wirklich die Augen übergingen und daß er schließlich überhaupt nichts mehr sah; er schlief ein.

„Wie kann man nur am Geburtstag seiner Tante so früh müde werden,” dachte der Oberst, „allerdings, solche Feste rufen ja ein gewisse seelische Erregung hervor, und diese macht den Körper dann weniger widerstandsfähig. Na, lassen wir ihn schlafen, er wird schon wieder wach werden. Leutnant der Reserve Müller . . . Prosit.”

Der dachte noch nicht daran, müde zu sein. „Prosit, Herr Oberst,” klang es zurück.

Und diese beiden Rufe ertönten noch oft in der Stille, denn still ward es in der Tafelrunde, die Meisten waren so müde, so unbeschreiblich müde, daß sie nur den einen Wunsch hatten: zu Bett. Aber gehen durften sie nicht, denn morgen war gar kein Dienst, selbst der Gottesdienst fiel in gegebener Veranlassung aus.

Als man endlich aufbrach, um sich schlafen zu legen, erhoben sich die beiden Nachtwächter, die die kleine Stadt bewacht hatten, gerade von ihren beiden Ecksteinen, auf denen sie zu schlafen pflegten, um auch ihrerseits zu Bett zu gehen. So ganz früh war es nicht mehr, denn mit Entsetzen constatirten die beiden Beamten, daß sie für ihr Gehalt fünf Minuten zu lange gewacht hatten. Sie setzten sich in Trab, um so schnell wie möglich nach Haus zu kommen, und so hörten sie nichts von dem Stöhnen und Seufzen, das bald darauf aus einigen Officiers­wohnungen durch die offenen Fenster auf die Straße drang, ein Stöhnen, das, wenn sie es gehört hätten, die Beiden vielleicht zu den Worten veranlaßt hätten: „Hier wollen wir man fortgehen, da scheint etwas in Unordnung zu sein, und da thut man in solchem Falle immer am besten, sich da garnicht erst hineinzumischen. Man hat nichts wie Undank davon und noch eine Menge Scheerereien obendrein.”

Mit einem „Auf Wiedersehen um zwölf Uhr beim Frühschoppen” hatte man sich getrennt, aber die Meisten kamen überhaupt nicht, und den Wenigen, die erschienen, sah man es an den Rollmöpsen an, daß es ihnen gar nicht gut ging.

Die Unterhaltung war sehr einseitig, wenn Einer überhaupt etwas sagte, sagte er: „Mein Kopf, mein Kopf”.

Der Reserve-Zecher aber sagte Das nicht einmal, Der sagte gar nichts. Er saß auf seinem Stuhl und blickte stumm vor sich hin, und man merkte ihm an, daß ihn irgend etwas sehr stark beschäftigte.

„Was haben Sie denn nur?” fragte der Oberst. „Was ist denn mit Ihnen los?”

„Ja, denken Sie sich nur, Herr Oberst,” nahm Leutnant Müller jetzt das Wort, „mir ist etwas ganz Sonderbares passirt, ich habe Dinge erlebt, die ich mir nicht erklären kann, ich stehe vor einem Räthsel, das ich nicht lösen kann. Die Sache fing gleich an, als ich nach Haus kam. Ich wollte die Hausthür, die offen war, zuschließen, da aber merkte ich, daß sie gar kein Schlüsselloch hatte — na, nun war mir ja auch klar, weshalb sie nicht verschlossen war, denn ohne Schlüsselloch geht das doch nicht.”

„Da haben Sie Recht,” stimmte der Oberst ihm bei, „aber das muß ich sagen, verstehen thue auch ich die Sache nicht ganz. Eine Hausthür hat doch sonst immer ein Schlüsselloch.”

„Heute Morgen war es auch wieder da,” beruhigte ihn der Leutnant, „es wird über Nacht beim Schlosser gewesen sein, der Sache werde ich schon auf den Grund kommen, ich will nachher gleich mit meiner Wirthin darüber sprechen. Da ist das Wenigste. Hören der Herr Oberst nur weiter. Ich steige, als ich die Hausthür zugemacht hatte, die Treppe hinauf, die in mein Zimmer führt, und als ich oben angekommen bin, merke ich plötzlich, daß ich nicht oben, sondern unten bin.”

Der Oberst hatte sich in seiner Sofaecke etwas aufgerichtet und sah den Sprecher groß an: „Wo unten?” fragte er.

„Im Keller,” lautete die Antwort.

„Nanu,” sagte der Oberst, „wie kommen Sie denn dahin?”

„Das verstehe ich ja eben gerade nicht,” erwiderte Leutnant Müller, „aber die Sache geht noch weiter. Als ich unten war, schüttelte ich verwundert den Kopf, dann aber sagte ich mir: „Wenn Du vorhin, als Du die Treppe hinauf gingest, nach unten gekommen bist, so mußt Du jetzt, wenn Du nach oben kommen willst, die Treppe hinunter gehen.”

„Sehr richtig,” sagte der Oberst, und nach einer kleinen Pause fuhr Leutnant Müller fort: „Als ich meinen Entschluß zur Ausführung bringen wollte, stieß ich unerwartet auf ein neues Hinderniß. Als ich die Treppe hinuntergehen wollte, sah ich, daß Das nicht ging, weil die Treppe plötzlich nicht nach unten, sondern nach oben führte. Ich setzte mich auf einen Treppenabsatz, um über dieses Wunder nachzudenken, und da fängt mit einem Mal alles an, sich mit mir rundum zu drehen, und Sie mögen es mir glauben oder nicht, meine Herren: plötzlich war unten oben, und ich befand mich mit einem Mal in meinem Schlafzimmer.”

„Nanu?” fragte der Oberst. „Wie ist denn das nur möglich?”

„Ich vermag auch dies nicht zu erklären,” entgegnete Leutnant Müller, dann setzte er hinzu: „Aber daß das ganze Haus behext war, das merkte ich doch erst, als ich in mein Zimmer trat. Da sah ich nämlich, daß das Bett nicht wie sonst mit den Beinen auf der Erde stand, sondern an der Zimmerdecke befestigt war. Natürlich versuchte ich trotzdem, mich in die Kissen zu legen, aber das Kunststück gelang mir natürlich nicht, ich fiel zur Erde und blieb dort auch liegen.”

Aufmerksam hatten die Anderen zugehört, auch ihnen war dies Alles mehr als unverständlich. So ganz klar vermochten sie heute Morgen noch nicht zu denken, wie sollte es ihnen da möglich sein, Dinge zu erklären, die unmöglich mit rechten Dingen zugehen konnten, sondern Gott weiß welchen Dimensionen angehörten?

Wohl für eine Minute herrschte jetzt tiefstes Schweigen, dann sagte ein junger Leutnant: „Müller — nehmen Sie es mir nicht übel — nach meiner Meinung gibt es nur eine Lösung: sollten Sie nicht gestern Abend etwas zu viel getrunken haben?”

„Was glauben Sie denn von mir,” fuhr der Reservezecher den jüngere Kameraden an, dann aber setzte er nach einer kleinen Pause hinzu: „Ich nehme Ihnen Ihre Worte nicht weiter übel, denn eben fällt mir ein, daß ich vergessen habe, den Herren das Wichtigste mitzutheilen: ich war so nüchtern wie nur irgend möglich.”

Und da hatte er Recht: er war so nüchtern gewesen, wie es nach dem, was er geleistet, nur irgend möglich war — nämlich garnicht.


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