Die Parforce-Reiterin.

Erzählung von Freiherrn v. Schlicht.

in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 14. und 15.März 1898


Seit mehr als einer Woche kündigten große Annoncen in dem Wochenblatt und bunte Affichen an den Anschlagssäulen das demnächstige Eintreffen des größten eisernen Circus Kiriselli an. Ein guter Ruf ging der Truppe voraus, der Marstall sollte über ein gutes zahlreiches Material verfügen, und die Leistungen der Künstler sollten des höchsten Lobes würdig sein. Als Stern der Gesellschaft aber wurde Sennorita Bella genannt, von der man sich erzählte, daß sie sowohl durch die Schönheit ihrer Erscheinung wie durch die Vollendung ihrer Leistungen als Parforce-Reiterin auf ungesatteltem Pferde jeden Abend die Zuschauer zu stürmischem Beifall hinzureißen verstände.

Die geschickte Reclame wußte die Neugier der Bewohner des kleinen Ostseestädtchens und der schon zahlreich anwesenden Badegäste zu erwecken und zu erhalten. Selbst die Erwachsenen blieben vor den in grellen Farben gedruckten Affichen, auf denen die kühnsten und verwegensten Artisten abgebildet waren, stehen und eine große, meist aus Kindern und halbwüchsigen Burschen bestehende Menge begleitete die Gesellschaft, als sie endlich eines Mittags in ihren Reisewagen eintraf. Die Truppe mußte einen langen Marsch hinter sich haben, schwer und müde zogen die Pferde und auch die zu Fuß gehenden Künstler zeigten deutliche Spuren der Ermattung. Von Süden kommend, durchzog die Gesellschaft die Stadt, um wenige Schritte hinter dem Nordausgang des Ortes Halt zu machen. Hier war der Platz abgesteckt, auf dem der Circus aufgebaut werden sollte.

Schon am Nachmittag begann der Aufbau und zahlreiche Neugierige standen herum und sahen zu, wie vor ihren Augen mit unglaublicher Geschwindigkeit derZeltcircus aufwuchs; er bestand aus drei mit einander verbundenen Zelten, der Arena, der Restauration und dem Stall. Während die Künstler, die verpflichtet waren, an dem Aufbau mitzuhelfen, im Schweiße ihres Angesichtes in der glühenden Nachmittagshitze die schwere Leinewand hinaufzogen, sah man die weiblichen Mitglieder der Truppe in ihren Wohnwagen hantiren und dort Alles wohnlich einrichten, war doch die Dauer des Aufenthaltes auf eine Woche berechnet.

Mit den Schulbüchern unter dem Arm, mit großen, verwunderten Augen, sich dann und wann gegenseitig anstoßend und sich auf die Sehenswürdigkeiten aufmerksam machend, starrte die Jugend auf die Herrlichkeiten, die aus den großen Kisten und Kasten ausgepackt wurden: blinkendes Geschirr, wallende Federbüsche für die Pferde, Stall- und Manège-Utensilien, Alles bekamen sie in nächster Nähe zu sehen, und damit wurde der Wunsch, die Vorstellungen des Circus zu besuchen, in ihnen immer reger und reger.

Bis zum späten Abend wurde bei dem flackernden Licht der Fackeln gearbeitet und schon am frühen Morgen, nach einer kurzen Nachtruhe, wieder mit der Arbeit begonnen. Die Reisetage, an denen nicht gespielt werden kann, kosten viel Geld — hat man das Ziel erreicht, so muß so schnell wie möglich wieder Geld in die Casse kommen.

Die Mitglieder der fest angestellten Capelle gingen, große Placate austragend, von Haus zu Haus, überall hin die Nachricht bringend, daß am heutigen Abend die Eröffnung des Circus mit einer großen Gala-Elite-Sport-Vorstellung stattfinde.

Eine dichtgedrängte Menge umstand schon lange vor der Cassen-Oeffnung den Circus, mit dem Glockenschlage sieben Uhr wurden die Zeltbahnen, die den Eingang bildeten, zurückgeschlagen: von draußen sah man die sauber geharkte Manège, man sah von der Circusdecke herabhängend die Trapez und römischen Ringe, an denen kraftvolle Gestalten bald ihre Arbeit beginnen würden, man hörte die Musik der auf der Estrade sitzenden Capelle, man vernahm aus dem Stalle her das Wiehern und den Hufschlag der Pferde, das Bellen der Hunde und das Grunzen und Knurren eines als Ringkämpfer dressirten Bären, man bemerkte einen Stallmeister in glänzender Livree, der in der Manège noch einige Vorkehrungen traf und Dies Alles verfehlte nicht, auf die draußen Stehenden seinen alten und doch ewig neuen Zauber auszuüben. Wer noch geschwankt hatte, gab seine Bedenken auf und bald fluthete die Menge in den Circus.

Auf dem Sperrsitz hatten die ersten Familien der Stadt und viele der anwesenden Badegäste Platz genommen.

„Na, meinetwegen könnte das Zauberfest nun seinen Anfang nehmen,” sagte Graf Sternberg, eine in der Mitte der Dreißiger stehende, schlanke, aristokratische Erscheinung, zu seinem Freunde, dem Baron von Oschatz, „worauf warten die Leute noch, voller kann es ja nicht werden.”

„Nur nicht ungeduldig werden,” bat dieser, „aber da geht es ja schon los.”

Der zweite Schlag der Glocke war verhallt, die nach dem Stall führenden Portièren wurden zurückgeschlagen, die Stallmeister bildeten Spalier, der Herr Director trat in die Manège, um durch eine tiefe Verbeugung sich dem Publicum vorzustellen, dann setzte die Musik ein und die erste Nummer des Programms, die Voltigee à la Richard, geritten von einem zwölfjährigen Knaben, ausgeführt.

„Der Bengel kann ja wirklich Etwas,” sagte Graf Sternberg zu seinem Freunde, „Donnerwetter, so habe ja selbst ich in meinen Glanzjahren als Cadett nicht voltigiren können, obgleich alle Welt mich lobte, als gebe es auf Erden nicht Meinesgleichen. Bravo, mein Junge, das hast Du gut gemacht,” rief er dem jungen Künstler zu, der jetzt, um Athem zu schöpfen, im Schritt ritt, sich nach allen Seiten verneigend und für den Beifall dankend, „ich glaube, der Gedanke hierher zu gehen, war noch gar nicht der dümmste unseres an so vielen Thorheiten reichen Lebens. Sie wissen ja, für Alles, was Circus heißt, hatte ich von jeher Interesse. Na, was gibts nun?”

Stallmeister eilten in die Manège, um sie zu harken und um die Vorbereitungen für die nächste Nummer: „Auftreten der Drahtseilkünstlerin” zu treffen, der in raschem Aufeinander die Vorführung zweier Freiheitspferde, die englische Jockey-Arbeit und eine Clown-Nummer folgten.

„Der Clown hätte lieber Nachtwächter werden sollen,” knurrte Graf Sternberg, „aber es ist ja die alte Geschichte, daß die Menschen mit Vorliebe stets das Handwerk betreiben, zu dem sie nicht das geringste Talent haben; was bekommen wir nun für unser Geld zu sehen? Aha, jetzt kommt die Sennorita Bella, da bin ich aber begierig. Nach der Einleitungsmusik, die bekanntlich um so länger ist, je mehr der Künstler von sich überzeugt ist, scheint die Sennora Sennorita ja ein Phänomen zu sein.”

Ein lautes „Bravo” und lautes Händeklatschen begrüßte die Reiterin, als sie nun, in hohem Sprung über eine Hürde hinwegsetzend, in der Bahn erschien.

„Donnerwetter, ist Die hübsch!”

Unwillkürlich war dem Grafen Sternberg dieser Ausruf entschlüpft und sein Freund stimmte ihm bei. Auf einem ungesattelten, schneeweißen, edlen Pferde saß, nach Männerart reitend, die Sennorita. Ein blauseidener Tricot umschloß die schlanke, graciöse Figur, nur durch eine blaue Schleife zusammengehalten hing das lange blonde Haar fast bis auf den Pferderücken hinab und aus dem edlen, scharfgeschnittenen Gesicht blickten zwei blaue Augen in die Welt. Sie war das Urbild der schlanken, blonden Germania, wie man sie so oft abgebildet sieht.

„Wenn die aus Spanien ist, bin ich aus Patagonien, obgleich meine Wiege in Berlin stand,” meinte Oschatz, „vom Reiten hat die junge Dame nicht viel Ahnung, aber schön ist sie, Das muß ihr der Neid lassen, selten sah ich schönere Augen.”

Und Benno Oschatz hatte Recht mit seiner Bemerkung; sie hatte die Augen eines Kindes. Man gedachte bei ihrem Anblick des Wortes: „In den Augen spiegelt sich die Seele des Menschen wieder.” Kindliche Fröhlichkeit und Natürlichkeit und dennoch tiefer Ernst und eine gewisse Traurigkeit sprachen aus ihren Blicken, die einen gar seltsamen, eigenthümlichen Reiz ausübten.

„Mir wäre lieber, wenn die junge Dame sich in lebenden Bildern als auf ungesatteltem Pferde bewundern ließe, passen Sie auf, gleich fällt sie hinunter, nein, doch nicht, aber es war dicht dabei, fleißige Proben würden ihr nicht schaden.”

Aber trotz der mangelhaften Leistungen durchbrauste ein Beifallssturm das Haus, als die Reiterin jetzt die Manège verließ.

Erschrocken fuhr Graf Sternberg empor, er hatte so in Gedanken versunken dagesessen, daß er den Vorgängen in der Manège gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. War es Einbildung oder Wirklichkeit: er glaubte, die so lustigen und doch so wehmütigen Augen der Reiterin schon einmal gesehen zu haben, ihm war, als wäre ihm die Sennorita schon einmal in seinem Leben begegnet, als sähe er sie heute nicht zum ersten Mal. Aber das wann und das wo wollte ihm nicht wieder in den Sinn kommen.

„Es sind jetzt zehn Minuten Pause, wollen wir einmal durch den Stall gehen?” hörte er Oschatz fragen.

Aber Sternberg lehnte ab: „Es ist zu voll dort, Lieber, man sieht doch Nichts. Unser Trinkgeld für die Kutscher können wir ja an der Casse abgeben. Ich schlage überhaupt vor, daß wir nach Haus gehen, die Hauptnummern des Repertoirs haben wir ja genossen und ich finde die Luft und die Hitze hier drückend, ich möchte gehen, begleiten Sie mich?”

„Ich möchte gern noch hier bleiben,” erwiderte Oschatz, und Sternberg, der den Wunsch hatte, allein zu sein, pflichtete ihm bei: „Ganz wie Sie wollen, lassen Sie sich bitte durch mich nicht stören, vielleicht treffen Sie mich nachher noch in unserer Weinstube, sonst auf Wiedersehen morgen!”

Seinen Gedanken nachhängend schritt Graf Sternberg durch die trotz der frühen Abendstunden schon völlig leeren Straßen der kleinen Stadt, ihm war, als folgten ihm die blauen Augen überall hin.

Wo habe ich sie doch nur schon einmal gesehen?

Immer und immer wieder stellte er sich diese Frage, auf die er noch keine Antwort fand. Weit in der Welt war er herumgekommen; im Cadettencorps erzogen, hatte er zehn Jahre als Officier gedient, bis ein ihm zufallendes großes Majorat ihn veranlaßte, seinen Abschied zu nehmen. Auf einer Reise um die Welt hatte er alle fernen Länder berührt, seine Kenntnisse und sein Wissen zu bereichern gesucht und seinem Namen und seinem Reichthum entsprechend sich alle Thüren geöffnet. Wo war ihm nur die blonde Schönheit schon begegnet? Keine flüchtige Bekanntschaft war es gewesen und ihn reizte jemehr der Umstand, daß er sich genau darauf zu besinnen glaubte, die Künstlerin schon einmal an einem anderen Ort, in anderer Umgebung, in anderer, ihm ebenbürtiger Gesellschaft getroffen, dort mit ihr verkehrt zu haben.

Und mit einem Male fiel es ihm wie Schuppen von den Augen; deutlich stand Alles, die ganze Vergangenheit vor ihm und doch mußte er sich irren, war die Reiterin von heute Abend wirklich identisch mit der Tochter seines früheren Rittmeisters, der sein Herz in heftiger, leidenschaftlicher Liebe entgegen geschlagen hatte? Er wollte, er mußte Gewißheit haben um jeden Preis. Er betrat einen Blumenladen, dessen Besitzer sehr erstaunt war, in so später Stunde noch einen Käufer zu sehen, und wählte den schönsten der vorhandenen Blumenkörbe aus.

„Ich bitte Sie, diese Blumen heute Abend noch sofort nach dem Circus zu senden — haben Sie vielleicht Feder und Tinte, ich möchte noch die Adresse schreiben.”

Der Ladenbesitzer beeilte sich, die Wünsche des Käufers zu erfüllen; mit schneller Hand schrieb Graf Sternberg auf seine Karte die Worte: „Wann und wo kann ich Sie sprechen?” Er adressirte das Couvert an Sennorita Bella, nachdem er die Visitenkarte in ein kleineres Couvert gesteckt hatte, das die Aufschrift trug: „An die Baronesse v. Bergen.”

Dann suchte er sein Hotel auf, um die Nacht ruhelos, nach einer Lösung des Räthsels forschend, zu verbringen.

Erst spät am Vormittag erhob er sich von seinem Lager, kleidete sich schnell an und klingelte dann nach dem Kellner: „Ich bitte den Kaffee — sind Postsachen oder sonst irgend welche Briefe für mich abgegeben worden?”

Der Kellner bejahte und brachte gleich darauf die eingelaufene Post — mit schneller Hand durchblätterte Graf Sternberg die Briefe — es war keiner darunter, der die ihm so wohlbekannten großen und energischen Schriftzüge der Baronesse trug. Ein Gefühl des Unmuthes und der Verstimmung bemächtigte sich seiner: „Sie hätte mir wenigstens danken können,” murmelte er vor sich hin, dann aber fiel ihm ein, daß um diese Stunde ihre Antwort noch gar nicht da sein konnte. Er beschloß im Hotel zu bleiben und die nächste Post abzuwarten, aber gleich darauf änderte er seinen Entschluß. Die Ungeduld und die innere Unruhe, die ihn ergriffen hatten, ließen ihn es zu Hause nicht aushalten, er ergriff Stock und Hut und schlug, nachdem er im Hotel Bescheid hinterlassen, daß er bald zurückkehren werde, den Weg nach dem Circus ein.

Als er nach kurzer Wanderung sein Ziel erreicht hatte, hörte er schon von draußen durch die Zeltleinwand den Hufschlag eines galopirenden Pferdes, Peitschengeknall und laute Stimmen. Seine Annahme, daß noch Probe sei, erwies sich also als richtig, er hatte sich aber geirrt, wenn er glaubte, der Probe beiwohnen zu können und bei dieser Gelegenheit etwas über die Sennorita zu erfahren, ja wenn irgend möglich sie sogar zu sehen und zu sprechen. Nach langem Suchen gelang es ihm endlich, einen Eingang zu finden, aber kaum hatte er die Arena betreten, als der Director auf ihn zutrat und ihn in höflichen aber bestimmten Worten ersuchte, den Circus zu verlassen.

„Sie werden mir meine Worte nicht übel nehmen, Herr Baron, aber Zuschauer halten die Arbeit auf. Rücksichtnahme auf das Publicum zwingt dann dazu, manchen Tadel zu unterlassen, manches Mittelmäßige durchgehen zu lassen, das darf nicht sein; mehr als jeder andere Beruf erfordert der unsrige hervorragende Leistungen, wenn die Concurrenz uns nicht todtmachen will. Wenn aber Herr Baron uns heute Abend besuchen will, wird es uns eine hohe Ehre sein.”

Während der Director sprach, ließ Graf Sternberg seine Blicke im Circus umherschweifen; in der Manège saß auf einem Schimmel der jugendliche Reiter, der am gestrigen Abend seinen Beifall gefunden hatte. Die Lanze, die an seinem Gürtel befestigt war und in einer Rolle an der Circusdecke laufend, den Bewegungen des Reiters folgte, bewies, daß der junge Künstler neue Tricks übte und sein von der Anstrengung geröthetes Gesicht zeigte, daß er ordentlich herangenommen wurde.

Graf Sternberg sagte dem Director einige lobende Worte über die gestrige Vorstellung, versprach am heutigen Abend wiederzukommen und schlug dann den Rückweg ein. Er befand sich in der denkbar schlechtesten Laune, er ärgerte sich, daß er den Circus wieder hatte verlassen müssen, wenngleich er gerecht genug war einzugestehen, daß er an Stelle des Directors ebenso gehandelt haben würde. Auch er hatte sich früher, als er noch Officier war, oft genug darüber geärgert, daß bei den Reitbahnen so viel Publicum herumstand und Glossen und Bemerkungen über die Leistungen der Soldaten und über seine tadelnden Worte machte. Er überlegte, was er nun am Vormittag beginnen sollte; endlich entschloß er sich, an den Strand zu gehen, vielleicht daß er da den Baron Oschatz oder andere Bekannte treffen würde. Er richtete seinen Weg so ein, daß er bei seinem Hotel vorbeikam, vielleicht war doch inzwischen ein Brief für ihn abgegeben worden.

Noch während er die Treppe des Hotels emporstieg, eilte ihm schon der Portier entgegen: „Seit etwa einer Viertelstunde wartet eine Dame auf den Herrn Grafen. Da sie angab, den Herrn Grafen unbedingt persönlich sprechen zu müssen, habe ich sie in das Lesezimmer geführt.”

Wenngleich Sternberg durch diese Nachricht auf das Freudigste überrascht und keinen Augenblick darüber im Zweifel war, wer die Dame sei, so spielte er dennoch den Erstaunten. „Eine Dame? Nannte sie nicht den Zweck ihres Besuches?”

Der Portier verneinte, „aber wenn der Herr Graf befehlen, kann ich mich ja nach dem Wunsch der Dame erkundigen.”

Einen Augenblick stand Sternberg, sich anscheinend diesen Vorschlag überlegend, nachdenkend da, dann sagte er: „Nein, danke, lassen Sie nur. Wo finde ich die Dame? Wie sagten Sie doch? Ach so, ja richtig, im Lesezimmer, nein, danke, ich weiß den Weg,” wies er den Portier zurück, als Dieser ihn begleiten wollte.

Von Unruhe, und dem Wunsch, die Baronesse wiederzusehen, getrieben, hätte Sternberg am liebsten die zu dem Lesecabinett führende Treppe im Fluge genommen, aber instinctiv fühlte er, daß der Portier ihm nachsah, er mußte thun, als wenn ein ganz gleichgültiger, ihm fremder Besuch ihn erwarte.

Durch einen schnellen Blick durch die großen Glasthüren überzeugte Sternberg sich, daß außer der Baronesse Niemand im Lesezimmer anwesend sei und ein „Gott sei Dank” entrang sich seinen Lippen. Mit schnellen Schritten trat er ein und eilte seinem Besuch entgegen: „Baronesse, wie soll ich Ihnen danken, daß Sie persönlich zu mir kommen.”

Er hatte die Hand, die sie ihm zum Willkommen bot, an seine Lippen geführt und sah nun bewundernd auf ihre schlanke, stolze Erscheinung. Ein einfaches, blaues Straßenkleid umschloß ihre Gestalt und ihr lichtes, blondes Haar quoll unter einem schlichten Strohhut hervor.

Er lud sie durch eine Hadbewegung ein, wieder Platz zu nehmen und rückte dann für sich einen Sessel herbei.

„Und nun sagen Sie mir, meine Gnädigste —”

Aber sie unterbrach ihn scherzend: „Zunächst sagen Sie mir, wie Sie von Washington, wo Sie, wenn ich mich nicht irre, zur Botschaft commandirt waren, hierher kommen?”

Abwehrend erhob er die Hände: „Baronesse, Das ist eine lange Geschichte und leider keine fröhliche. Die Zeiten, in denen ich den bunten Rock trug, sind vorüber — ein Jahr, nachdem ich wegen Mangels an dem nöthigen Kleingeld hatte gehen müssen, fiel mir das große Majorat meines Onkels zu, jetzt bin ich hier, um mich von den Anstrengungen des letzten in Berlin verlebten Winters zu erholen. Das ist in drei Worten die Geschichte meiens Lebens, doch nicht von mir soll die Rede sein, sondern von Ihnen. Welche Schicksalsfügung hat Sie hierher,” er vermied absichtlich den Ausdruck in den Circus, „verschlagen?”

Sie wich der Antwort aus: „Nehmen Sie zunächst meinen herzlichsten Dank für die wundervollen Blumen, die Sie mir sandten. Es hätte Ihrer Karte nicht bedurft, an dem Luxus der Blumen allein hätte ich gewußt, wer der Geber war. Ich erinnere mich noch sehr wohl Ihres Wortes, das Sie einst zu mir sagten, als ich Ihnen wegen eines zu kostbaren Geschenkes Vorwürfe machte.”

„Wer Etwas schenkt, darf nie nach dem Preis fragen; Derjenige, der den Preis zu hoch findet, sagt damit, daß der Empfänger dessen nicht werth ist, und dann schenke ich lieber gar Nichts.” So ungefähr waren Ihre Worte ja wohl, denen ich allerdings nicht beistimmte, eingedenk des Wortes, daß sich Jeder nach seiner Decke strecken müßte. Lachend gaben Sie mir zur Antwort, daß Sie gar keine besäßen — um diesem Uebelstand abzuhelfen, stickte ich Ihnen eine Schlummerdecke; aber genützt hat es anscheinend doch Nichts. Doch nicht davon wollte ich sprechen, eine Bitte aber möchte ich an Sie richten.”

„Und die wäre?” fragte er, als sie einen Augenblick schwieg.

Mit großen, offenen Augen sah sie ihn an, während ein leichtes Roth ihre Wangen färbte. „Bitte, sagen Sie Niemandem, auch Ihrem besten Freunde nicht, daß wir uns früher schon gesehen, daß wir uns früher gekannt haben.”

„Aber, Baronesse,” rief er, „wie können Sie mir solche Indiscretion nur zutrauen. Mein Wort darauf, daß ich gegen Jedermann schweigen werde.”

Mit ungekünstelter Natürlichkeit gab sie ihm die Hand.„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Sie wissen nicht, wie entsetzlich klein diese Welt ist. Das erfährt nur Der, der einen Fleck auf dieser Erde sucht, wo ihn gar Niemand kennt. Ueberall findet man Bekannte, man mag gehen, wohin man will; ach und gerade für mich ist es nicht immer angenehm, alten Freunden unseres Hauses zu begegnen.”

„Gewiß, Baronesse,” pflichtete er ihr bei, „ich theile Ihr Empfinden vollständig, aber gestatten Sie einem alten Bekannten ein offenes Wort: wie konnten Sie sich entschließen, Ihren jetzigen Beruf zu ergreifen? Ich kenne ja die traurigen Verhältnisse, in denen Sie eine Zeit lang lebten —”

„Nein, Herr Graf, die kannten Sie nicht,” Mit erregter Stimme hatte sie ihn unterbrochen, ein wilder, trotziger Ausdruck sprach aus ihren Augen, und eine tiefe Falte hatte sich um ihren Mund gelegt. Erstaunt und erschrocken zugleich sah Graf Sternberg die Baronesse an: Das war nicht mehr das junge Mädchen, das durch ihren Liebreiz und ihre frische Natürlichkeit alle Herzen bezwang. Das war ein Weib, das Vieles und Schweres erduldet, das noch nicht überwunden hatte.

Sie schwieg einen kleinen Augenblick, dann fuhr sie ruhiger fort: „Ich habe Sie immer gern gehabt, Herr Graf, und ich werde es Ihnen nie vergessen, daß Sie der Einzige waren, der in dem Ehrengericht, das meinen Vater wegen Unterschlagung ihm anvertrauter Gelder aburtheilte, für mildernde Umstände sprach. Sie kannten meinen Vater und wußten, welch ein guter Mensch, welch zärtlicher Gatte, welch liebevoller Vater er war. Sie haben ihn als Vorgesetzten und als Mensch kennen gelernt: welche gute Carrière hätte er machen, wie glücklich hätten wir leben können, wenn er nicht dem Spielteufel verfallen gewesen wäre! Wie zitterten Mutter und ich stets, wenn er zu den Liebesmahlen ging, wie beschworen wir ihn, keine Karte anzurühren, und hoch und heilig versprach er uns jedesmal, der Versuchung zu widerstehen. Aber jedesmal unterlag er. Es ist etwas Furchtbares um den Kampf des Guten mit dem Bösen, das in jedem Menschen wohnt, schrecklich ist es, wenn man trotz verzweifelter Gegenwehr unterliegt, wenn der Satan, seine Klauen ausstreckend, uns die Sinne und die Vernunft raubt. Wie oft habe ich meinen Vater, in Thränen aufgelöst, Verzeihung erflehend und Besserung mit heiligen Schwüren gelobend, vor meiner Mutter auf den Knieen liegen sehen! Nie vergesse ich den Ausdruck der bittersten Reue, der leidenschaftlichsten Selbstanklage, der aus einen Zügen sprach. Er wollte gut sein, aber er konnte es nicht; er war dem Spiel unrettbar verfallen, und Das ließ ihn die Schuld auf sich laden, die er nach der in Officierskreisen herrschenden Ansicht durch seinen Selbstmord sühnte, nachdem er für unwürdig befunden war, weiter zu dienen. Wenige Wochen nach dem Tode meines Vaters verlor ich auch meine Mutter; die That des Vaters und die Schmach, die unserm Namen anhing, ließ sie schnell dahinsinken. Sie hatte während ihrer Ehe zu Entsetzliches erlebt, um auch noch den letzten und schwersten Schlag überwinden zu können.

Allein, in der bittersten Noth und Armut, blieb ich zurück, und da habe ich die Welt und die Menschen kennen gelernt. Niemand, der sich meiner annahm, Keiner, der sich meiner erbarmte — an Worten der Theilnahme, an Versprechungen und Tröstungen, an guten Lehren und Ermahnungen, den Kopf nicht hängen zu lassen, es müsse ja doch Alles noch einmal wieder gut werden; fehlte es nicht; aber an thatkräftige Hülfe dachte Keiner, ja, ein sogenannter Freund unseres Hauses mahnte mich sogar daran, daß mein Vater ihm noch vom letzten Spiel her dreihundert Mark schuldete. Ich verkaufte den letzten Schmuck meiner Mutter, um diese Schuld zu tilgen, ein Stück nach dem anderen wanderte zum Trödler, ich mußte leben. Ich wollte arbeiten, verdienen, aber wo immer ich mich auch meldete, wurde ich abgewiesen, die Schuld des Vaters rächte sich an seinem einzigen Kinde. Wer konnte wissen, ob ich ehrlich und zuverlässig sei — der Argwohn, den man meines Vaters wegen gegen mich hegte, verschloß mir alle Thüren. Erst in meiner höchsten Noth wandte ich mich an meine Verwandten, mit denen die Eltern stets auf gespanntem Fuß gelebt hatten. Noch heute thut es mir leid, daß ich mich so demüthigte. Niemand wollte helfen, Alle behaupteten, hierzu nicht in der Lage zu sein. Meine letzte Hoffnung war vernichtet und wer nur Aehnliches durchgemacht hat, kann es begreifen, daß ich daran dachte, zu sterben — ich fürchtete mich vor dem Verhungern! Da fiel mein Blick an dem Abend des Tages, an dem ich zu sterben beschlossen hatte, auf eine Notiz in dem Briefkasten der Zeitung, in der ich vergebens nach Arbeit gesucht hatte. ich erinnere mich noch der Worte, die ich damals las und die die Antwort auf eine an die Redaction ergangene Anfrage waren: „Wie viel eine Schulreiterin verdient, wollen Sie wissen? Das richtet sich in erster Linie natürlich nach den Leistungen der Dame, dann aber auch nach der Größe des Circus, doch dürften zweihundert Mark im Monat die niedrigste Gage sein.”

Immer und immer wieder las ich diese wenigen Zeilen und mit einem Mal war mein Entschluß gefaßt: galt ich denn doch einmal als ausgestoßen aus dieser Gesellschaft, so hatte ich auf sie auch keine Rücksicht mehr zu nehmen. Mochte man es mir ruhig verdenken, daß ich Schulreiterin wurde — der Wunsch zu leben war stärker in mir als das Bewußtsein: „Das schickt sich nicht.” Es bot sich mir die Möglichkeit zu verdienen, ich wäre thöricht gewesen, wenn ich sie nicht ergriffen hätte.

Ich verkaufte Alles, was ich noch besaß, die letzten Möbel und das Küchengeschirr, das ich seit langer Zeit nicht gebraucht hatte, da ich meist von trockenem Brot lebte und begab mich auf die Reise. Der Director, den ich aufsuchte, machte ein sehr erstauntes Gesicht, als ich ihm mein Anliegen vortrug und mit kurzen Worten wies er mich ab.

Wollen Sie mir nicht wenigstens gestatten, Ihnen eines Ihrer Pferde vorzureiten? bat ich.

Knurrend und murrend willigte er endlich ein und eine Viertelstunde später saß ich im Sattel. Sie wissen, ich bin jederzeit eine leidenschaftliche Reiterin gewesen und war, ich darf wohl sagen, eine gelehrige Schülerin meines strengen Vaters.

Alles Leid, alles Ungemach war vergessen, als ich zum ersten Male wieder auf dem Rücken eines Pferdes saß; es war ein heftiges, unruhiges Thier, nicht frei von Launen und Unarten, das man mir gegeben hatte und ich wußte, sie Alle, die neugierig herumstanden, warteten auf den Augenblick, da ich die Mutter Erde küssen würde, aber ich gönnte ihnen den Triumph nicht. Hoch auf bäumte sich das Roß, das sich der fremden Hand nicht fügen wollte, aber ich ging als Sieger aus dem Kampfe hervor: die Nase gesenkt, mit dem Schweif schlagend, an der Kandare kauend, gehorchte der Rappe mir endlich. Er war wie weiches Wachs in meinen Händen und gehorsam folgte er den Hülfen, die ich ihm gab.

„Hürden herein,” befahl der Director, der bisher ein stummer, aber aufmerksamer Zuschauer gewesen war.

Die Barrièren wurden gebracht und im Stillen lachte ich, als ich sie sah, war ich doch mit meinem Vater in dem Sprunggraben der Reitschule über ganz andere Hindernisse gegangen.

Ein lautes „Bravo!” erscholl, als der Rappe in großem Sprung über die Hürde hinwegsetzte und fünf Minuten später war ich mit einem Angangsgehalt von dreihundert Mark im Monat auf drei Jahre engagirt.

Vierzehn Tage später trat ich zum ersten Male auf — voll Ungeduld hatte ich diesen Augenblick ersehnt, aber in der letzten Minute ergriff mich solches Lampenfieber, daß es der ernstesten Drohungen des Directors bedurfte, um mich zum Auftreten zu bewegen. Es läßt sich nicht in wenigen Worten sagen, was während der wenigen Minuten, die ich verzweifelt in meiner Garderobe saß, in mir vorging — ich möchte sagen, ich habe in dieser kurzen Spanne Zeit ein ganzes Leben durchgelebt. Es war nicht die Angst vor meinem möglichen Mißerfolg, die mich befiel — meine ganze Jugend zog im Fluge an mir vorbei, ich glaubte die Augen der Eltern auf mir ruhen zu fühlen, ich sah die Umgebung, in der ich groß geworden war, ich sah das Elternhaus voller Gäste in blitzenden Uniformen, ich hörte im Geiste die tadelnden Worte der Welt, ich war mir klar darüber, daß ich mit dem Augenblick, da ich in die Arena hineinritt, mich für immer lossagte von der guten Gesellschaft, daß ich damit eine Scheidewand errichtete, die uns für immer trennte — ach, was ging in jenen Minuten nicht Alles in mir vor! Ich habe es früher immer für eine Redensart gehalten, wenn ich hörte, daß man in einer Minute um Jahre altern können — damals habe ich die Wahrheit der Worte an mir erfahren, denn nicht die Zahl unserer Lebensjahre allein, sondern unsere Ansichten und Anschauungen bestimmen unser Alter. Als ich von meinem Stuhl, auf dem ich gesessen, aufstand, war ich ein anderer Mensch geworden — ich hatte mit der Vergangenheit gebrochen. Das Wort „ich muß” hatte die letzten Bedenken, die in mir aufstiegen, beseitigt.

Der Beifall der Claque begrüßte mich, als ich in der Manège erschien, aufrichtiger, lauter Beifall des ausverkauften Hauses tönte hinter mir her, als ich nach verrichteter Arbeit hinauseilte. Immer und immer wieder mußte ich erscheinen, um mich zu bedanken; ich hatte einen unbestrittenen Erfolg davongetragen. Drei Jahre lang habe ich als anerkannt beste Schulreiterin wahre Triumphe gefeiert und von Tag zu Tag nahm die Liebe zu meinem Beruf in mir zu, ich lebte nur für meine Pferde, nur für meine Kunst und war unablässig bemüht, mich immer mehr und mehr zu vervollkommnen. Ich verkehrte mit Niemandem, ich lebte sparsam und zurückgezogen und habe heute schon ein hübsches Capital auf der Bank liegen, das mich dereinst vor Sorgen schützen wird. Vorläufig aber denke ich noch nicht daran, abzutreten; im Gegentheil, ich bin fleißiger und thätiger denn je, ich hoffe, demnächst mit einer neuen Nummer Furore zu machen. Es ist nur ein halbes Jahr her, da kam eines Morgens bei der Probe das Gespräch darauf, daß es nicht eine einzige gute Parforcereiterin auf ungesatteltem Pferde gäbe. Auf dem Panneau arbeiten so Viele, aber auf dem nackten Pferde nicht eine Einzige, deren Leistung Beachtung verdient. Immer mehr interessirte mich das Gespräch: so oft, wenn ich den langsamen spanischen Schritt ritt, war eine wilde, fast unbezwingliche Sehnsucht über mich gekommen, einmal in wilder Pace mit einem Pferde dahinzujagen, über Hürden und Hecken hinwegzusetzen, in rasendem Galop die eigene Kraft und Geschicklichkeit zu zeigen.

„Wie wäre es, Herr Director,” fragte ich plötzlich, „wenn Sie mich zu der ersehnten Parforce-Reiterin ausbilden würden?”

Für einen Augenblick war mein Director wie erstarrt, dann aber brach er in hellen Jubel aus: „Kindchen, Kindchen,” rief er, „Sie wissen, ich liebe die Kunst über Alles, und wenn ich Millionen besäße, ich würde meinen Circus nicht aufgeben! Kindchen, wenn Sie das Wunder fertig bringen, in der Arena eine gute Parforce-Reiterin zu werden, dann will ich Sie in Gold fassen und vor Ihnen auf den Knieen liegen.”

Kurze Zeit darauf trat ich zum letzten Mal als Schulreiterin auf. Ich bat meinen Director, mich in die Lehre zu nehmen, aber er lehnte es ab: „Ich kann es nicht, Kindchen, ich kann es nicht,” gab er mir zur Antwort, „ich habe Sie zu lieb, ich würde zu nachsichtig gegen Sie sein und Das geht nicht. Nur ernste Arbeit auf jedem Gebiet führt zum Ziel: ich würde oft Mitleid walten lassen, wo Strenge am Platz ist. Ich kann Sie nicht unterrichten, aber ich habe einen Freund, der Sie in die Lehre nehmen wird. Unser Contract bleibt bestehen, an jedem Ersten und Fünfzehnten sende ich Ihnen dieselbe Gage wie jetzt, Sie sollen nicht Mangel leiden, wenn Sie sich meinetwegen abmühen. Zwei Jahre geb ich Ihnen Zeit, dann kommen Sie wieder zu mir und haben sich bis dahin meine Hoffnungen erfüllt, so will ich Ihnen eine Gage zahlen, wie sie vor Ihnen noch keine Reiterin erhalten hat. Schwarz auf weiß wollen wir das heute noch abmachen, denn ich bin ein alter Mann und kann bald sterben — meine Erben aber sollen verpflichtet sein, mein Ihnen gegebenes Versprechen einzulösen.”

Seit vier Monaten bin ich bei meinem Lehrmeister. dem Besitzer des Circus Biriselli — seit etwa vier Wochen trete ich öffentlich auf. Niemand weiß besser als ich, daß meine Arbeit noch nicht gut ist, ich muß noch viel, viel lernen. Jeden Vor- und Nachmittag üben wir eine geschlagene halbe Stunde, glauben Sie mir. Das ist keine Kleinigkeit, wenn man jeden Muskel auf das Aeußerste anspannen muß. Leicht ist das Leben nicht, das ich augenblicklich führe, es ist eine herbe Schule, die ich durchmache, aber der Erfolg, dessen sind wir sicher, wird nicht ausbleiben und nach einem Jahr schon hoffe ich, zu meinem alten Director zurückkehren zu können. So nun habe ich Ihnen Alles erzählt und jetzt sagen Sie mir, ob Sie den Vorwurf, den ich vorhin aus Ihrer Frage herauszuhören glaubte, noch aufrecht erhalten.”

Die Reiterin schwieg und lehnte sich in ihren Sessel zurück. Von Neuem betrachtete Graf Sternberg die Baronesse, deren Wangen sich bei dem lebhaften Sprechen geröthet hatten und die nun mit gespanntem Blick ihn ansah.

Graf Sternberg schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: „Ich danke Ihnen für die Offenheit, mit der Sie mir einen Einblick in Ihr Leben gegönnt haben. Wenn ich Ihre letzte Frage richtig verstand, so wollen Sie nun von mir wissen, ob Sie richtig handelten, als Sie Ihren jetzigen Beruf erwählten. Baronesse, wer kann sich so in die Lage eines anderen Menschen hineinversetzen, daß er sagen kann, Dies oder Jenes hättest Du niemals thun dürfen? Darüber kann man nur selbst entscheiden. — Sie sagten, Ihnen blieb kein anderer Ausweg, und ich glaube es Ihnen. Ich kenne Sie zu gut, um nicht zu wissen, daß kein anderer Grund als die äußerste Noth Sie zu diesem Schritt bewogen hat. Somit habe ich nicht das geringste Recht, Ihnen einen Vorwurf zu machen, aber Baronesse, Sie können es mir nicht verdenken, daß ich traurig bin, Sie in dieser Umgebung zu sehen. Ich bin nicht so thöricht, zu sagen, Sie hätten lieber verhungern oder ins Wasser springen sollen, als in den Circus zu gehen, aber es thut mir weh zu wissen, daß Sie, daß die Tochter meines einstigen Chefs sich auf diese Art und Weise ihren Lebensunterhalt verdienen muß, daß sich ihr hierzu keine andere Möglichkeit geboten hat. Sie wissen es ja, daß wenige Tage nach dem unglückseligen Ehrengericht meine Abcommandirung zur Botschaft erfolgte. Damals war es mir nicht möglich, Ihnen zu helfen — heute aber kann ich es, und darum bitte ich Sie, als alter Freund Ihres Hauses, als alter Bekannter Ihres Herrn Vaters, geben Sie Ihre Carrière auf. Gestatten Sie mir, die vielen Wohlthaten, die ich in Ihrem elterlichen Hause empfing, dadurch einigermaßen zu vergelten, daß ich hinfort für Sie sorge. Nein, bitte unterbrechen Sie mich nicht,” fuhr er mit erhobener Stimme fort, als er sah, daß sie ihm ins Wort fallen wollte, „ich biete Ihnen kein Almosen, kein Geschenk, ich weiß, daß Dies für Sie eine Beleidigung wird. Ich sagte Ihnen, daß mir ein großes Majorat zugefallen ist, ich wohne selber dort, weil ich mich zu einsam fühle in dem alten, großen Schloß. Kommen Sie zu mir, gestalten Sie mein Heim traulich und wohnlich, vertreten Sie die Stelle der fehlenden Hausfrau und lassen Sie mich hoffen, daß ich Sie dereinst als Herrin des Schlosses mein Eigen nennen darf. Viel hat die Welt an Ihnen gesündigt, gestatten Sie mir, die Wunden, die das Leben Ihnen schlug, zu heilen. Alle Zeit war ich beim Regiment Ihr treuer Kamerad und ich hoffte schon damals, Ihnen dereinst mehr sein zu können. Jetzt ist die Stunde gekommen, ein gnädig Geschick führte uns hier zusammen — trennen Sie nicht gewaltsam wieder die Wege, die der Zufall hier zusammenlaufen ließ.”

Mit bittenden, flehenden Augen sah er zu ihr empor, Liebe heischend und begehrend.

Unter Thränen lächelnd, reichte sie ihm die Hand, die er stürmisch an seine Lippen führte: „Nun, lieber Freund, so ist es nicht gemeint; ich will, ich kann Ihr Anerbieten nicht annehmen — Ihretwegen nicht. Wäre ich nicht die, die ich nun einmal bin, so würde ich mit Freuden Ihren Antrag annehmen und mit Recht stolz darauf sein, die Gattin eines der reichsten und angesehensten Großgrundbesitzer zu werden. Viele an meiner Stelle würden so handeln, aber ich denke an Sie, mein lieber Freund. Nicht als ob ich mich selbst so gering schätzte, daß ich mich nicht für niedrig hielte, die Ihrige zu werden; ich stamme aus altem Geschlecht, und frei und offen kann ich Jedem in die Augen sehen, kein Mann kann sich rühmen, sich mir jemals genähert zu haben. Aber die Welt, lieber Freund, glaubt so Etwas nicht, ach und in der sogenannten Gesellschaft geht es oft noch ganz anders zu, als bei uns, wo unser Beruf allein uns schon jeden Leichtsinn verbietet. Sie werden sagen, daß Sie mich gegen jede Verleumdung schützen werden — an mich reicht die Verleumdung nicht heran, mir ist das Gerede der Welt einerlei, Ihnen aber nicht. Denken Sie nur an die Kränkungen, die Ihnen nicht erspart blieben, wenn ich Ihren Antrag annähme — Sie wollen, daß ich Ihnen ein trautes Heim bereite? Die Hölle würde ich Ihnen bereiten. Glauben Sie, daß Ihre Nachbarn und deren stolze Frauen meinen Besuch annähmen, bei uns verkehren würden? Ich wäre gerichtet, und bald, sehr bald würde die Reue über Sie kommen und Sie würden zu sich sagen: „Ach, hätte ich mich doch nur damals nicht von meinem Mitleid hinreißen lassen.” Die Stunde würde kommen, und vor ihr will ich Sie bewahren, weil ich Sie liebe.” „Ja, ich liebe Sie immer noch,” fuhr sie mit weicher, zarter Stimme fort, „obgleich ich Sie gehaßt habe, wie kaum einen anderen Menschen. Das war damals, als mein Vater gestorben war und alle Welt sich von uns abwandte. Ich wußte, daß Sie mich liebten und habe auf Sie gewartet, Tag um Tag. Sie kamen nicht, nicht einmal ein Gruß von Ihrer Hand, kein Wort der Theilnahme — Nichts. Im fernen Land hatten Sie mich vergessen. Ich führte Alles zu Ihrer Entschuldigung an, was Sie jetzt selbst sagen wollen: Die weite Entfernung, die uns trennte, Ihre pecuniäre Lage, Alles, Alles. Aber die wahre Liebe, so sagte ich mir, kennt kein Hinderniß — und so verwandelte sich meine Liebe in Haß und Zorn. Ich wollte Sie vergessen und ich vergaß Sie. Mit einem Male stand Ihr Bild wieder vor meiner Seele, Das war an jenem Abend, an dem ich zum ersten Male öffentlich auftrat. „Was dann,” rief eine innere Stimme mir zu, „wenn Sternberg eines Tages zu Dir kommt und Dich um Deine Hand bittet, was dann? Noch ist es Zeit, überlege Dir den Schritt wohl.” Heiße Thränen habe ich damals geweint, Liebe und Vernunft stritten mit einander, die Liebe unterlag.”

„Und soll sie jetzt nicht den Sieg davon tragen,” bat er mit flehender Stimme, „Baronesse, machen Sie mich, machen Sie sich nicht selbst unglücklich, auf die Dauer kann Sie Ihr Beruf doch nicht befriedigen. Weisen Sie mich nicht ab, ich beschwöre Sie.”

Er war vor ihr auf die Knie gesunken und sah bittend zu ihr hinauf. Zärtlich strich sie ihm mit der Rechten über sein dichtes, schwarzes Haar: „Stehen Sie auf, lieber Freund, man könnte uns beobachten und glauben Sie mir, ich kann Ihnen keine andere Antwort geben. Als ich gestern Abend Ihre Karte erhielt, wußte ich, wie unsere heutige Aussprache enden würde, in einer langen, schlaflosen Nacht habe ich mir Alles überlegt und immer kam ich zu dem Entschluß: „Nein, es darf nicht sein.” Und nun, mein lieber Freund, wollen wir dem Gespräch ein Ende machen, ich bedarf der Ruhe und der Sammlung, da ich heute Abend auftrete. Der blanke Rücken eines Pferdes ist ein gefährliches Feld, wer nicht straucheln will, muß ruhiges Blut haben.”

„Und wann sehe ich Sie wieder?”fragte er, „ich kann, ich will es nicht glauben, daß Ihre ablehnende Antwort eine endgültige sein soll.”

„Bitte, dringen Sie nicht in mich und verlangen Sie nicht Unmögliches von mir. Ich kann meinen Entschluß nicht ändern und darum ist es besser, wir sprechen uns nicht wieder,” aber da sie den traurigen Ausdruck in seinen Zügen sah, sagte sie: „Vielleicht führt uns der Zufall doch noch einmal zusammen, ich glaube, wir bleiben noch zwei Wochen hier. Nun aber, bitte, lassen Sie mich gehen, es ist schon spät geworden.”

In dumpfer Verzweiflung blieb Graf Sternberg allein zurück. Sein ganzes Empfinden, Fühlen und Denken lehnte sich dagegen auf, die Baroneß im Circus zu wissen. Das konnte, das durfte nicht so bleiben. Schwer lasteten die Vorwürfe auf ihm, die die Geliebte ihm gemacht hatte. Immer und immer wieder hatte er sich, als er von dem Unglück, das über ihre Familie hereingebrochen war, vorgenommen, ihr zu schreiben, sie seiner Theilnahme zu versichern, aber immer hatte er es wieder verschoben. Er wußte, daß sie mehr von ihm erwartete, als nur Worte der Antheilnahme. Wie oft hatte er sich gefragt: „Ist Deine Liebe so stark, daß Du ohne zu murren und zu klagen alle Folgen auf Dich nehmen willst?” Er täuschte sich darüber nicht, daß er den Abschied nehmen müsse, wenn er sie zur Frau nähme. Was sollte dann werden? Sie Beide waren arm und mittellos, er war zu jung und hatte nicht den Muth, den Kampf um das Dasein aufzunehmen.

Wie damals, so ging er auch jetzt mit sich zu Rathe und prüfte seine Liebe, ob sie auch stark genug sei, alle Hindernisse zu überwinden und immer wieder sagte er sich: „Ja, ja.”

Bei ihrem Anblick, in ihrer Gegenwart war die Erinnerung an die vielen fröhlichen Stunden, die sie zusammen verlebt hatten, wieder in ihm wach geworden, ihre Schönheit und ihre Anmuth hatte seine Sinne gefangen genommen, sein Herz schlug ihr in aufrichtiger, wahrer Liebe entgegen. Es durfte nicht anders sein, es mußte ihm gelingen, ihren Widerstand zu brechen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und beschwor sie in einem langen, sachlich gehaltenen Briefe, ihm zu folgen und bat sie, ihm nach der Vorstellung nochmals Gelegenheit zu einer Aussprache zu geben. Mit einem herrlichen Blumenstrauß sandte er dann das Schreiben an sie ab.

Als Graf Sternberg am Abend den Circus betrat, waren die ersten Nummern des Programms schon abgespielt — augenblicklich arbeitete ein Trapezkünstler und diesem sollte die Sennorita Bella folgen. Sternberg hatte sich einen Platz unmittelbar neben dem Eingang für die Pferde geben lassen und begab sich sofort in den Stall, um dort die Reiterin womöglich anzutreffen und aus ihrem Munde zu erfahren, ob sie sich heute noch sehen würden. Er fand die Baronesse damit beschäftigt, die Aufzäumung ihres Pferdes nachzusehen und nie war sie ihm schöner erschienen als in diesem Augenblick; sie hatte heute einen rosarothen Tricot gewählt, das zu den frischen Farben ihres Gesichtes entzückend paßte.

„Wie eine Rose,” sagte er laut.

Erschrocken wandte sie sich um: „Herr Graf, lassen Sie mich jetzt allein, ich bedarf der Ruhe, ich darf mich nicht erregen. Nach der Vorstellung will ich Sie hier erwarten, aber bitte gehen Sie jetzt.”

Er war näher getreten und verschlang sie mit seinen Blicken, die ruhige Besonnenheit hatte ihn verlassen, wild pochte sein Herz und er fühlte das Blut in seinen Schläfen hämmern.

„Und wenn ich nun nicht gehe? Wenn ich es nicht will und es nicht dulde, daß Sie auftreten, wenn ich es verbiete, in diesem Costume sich den bewundernden Blicken der Menge auszusetzen, was dann?”

Er hatte ihr Handgelenk ergriffen und sah sie drohend an, aber mit einem gewaltsamen Ruck machte sie sich frei und schwang sich, ehe er es verhindern konnte, auf den Rücken des Pferdes.

Aus der Manège erscholl Händeklatschen und Bravorufe, der Trapezkünstler hatte seine Arbeit beendet und ging nun, sich den Schweiß von der Stirn wischend und mühsam nach Atem ringend, zu seiner Garderobe.

Das Zeichen mit der Glocke wurde gegeben.

„Bitte, Herr Graf, machen Sie den Weg frei,” und als er keine Anstalten traf, ihrer Aufforderung nachzukommen, sagte sie: „Lieber Freund, seien Sie nicht unartig und eigensinnig, nachher stehe ich Ihnen Rede und Antwort, jetzt aber muß ich fort.”

Nach Männerart auf dem Pferde sitzend, trieb sie das Thier mit den Schenkeln an. Aber ihr den Weg von Neuem versperrend, trat Sternberg noch näher an sie heran: „Ich will es nicht,” keuchte er, „hören Sie es nicht, ich will es nicht, daß Sie heute Abend reiten.” Und als sie dennoch mit der Gerte das Pferd vorwärts trieb, fiel er dem Rappen in die Zügel, diesen mit aller Gewalt ins Maul reißend, daß das Thier sich hoch aufbäumte.

„Nehmen Sie sich in Acht, „Almansor” läßt sich Das nicht gefallen,” rief sie erschrocken; aber es war zu spät.

Fast senkrecht in die Höhe steigend, daß die Reiterin sich nur mit äußerster Anstrengung oben hielt, hatte das Pferd sich frei zu machen gewußt. Und nun ein Ruf des Schreckens aus Aller Munde: von den Vorderhufen des Rappens an der Schläfe getroffen, sank Graf Sternberg blutüberströmt zu Boden.

In der höchsten Erregung eilte der Director herbei, er war zartfühlend genug, die Reiterin von ihrem Auftreten zu entbinden und gestattete ihr, sich des Verletzten anzunehmen. Der Circusarzt legte dem Verwundeten den ersten Verband an und ließ den schwer Verletzten, da sorgsamste Pflege noth that, wenn man sein Leben erhalten wollte, in ein Krankenhaus überführen.

Nach acht Tagen schlug Graf Sternberg, der sich durch den Schlag des Pferdes eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, zum ersten Male wieder die Augen auf und sein Blick fiel auf die Baronesse, die an seinem Krankenlager saß.

„Baronesse, Sie hier?” Verwundert blickteer sich in dem ihm fremden Zimmer um. „Wo bin ich? Ich habe wohl lange geschlafen?”

Sie legte ihm ihre Hand auf den Mund. „Nicht sprechen, nicht fragen, immer nur schlafen. Wenn Sie ganz gesund sind, dann sollen Sie Alles erfahren.”

„Und werde ich auch wieder ganz gesund werden?”

Da sah sie ihn mit leuchtenden Augen an: „Ganz bestimmt, der Arzt hat es mir versprochen.”

„Ihnen hat er Das versprochen?”

„Ja, mir; denn für mich sollen Sie doch wieder gesund werden. In Ihren Fieber­phantasien haben Sie immer nur von mir gesprochen und mich wohl tausend Mal gefragt: „Die Welt ist so groß, sollte sie keinen Fleck haben, auf dem wir zusammen glücklich sein könnten?” Als Sie krank waren, als ich stündlich fürchtete, Sie nun zum zweiten Male und dann für immer zu verlieren, fühlte ich, wie gut ich Ihnen sei.”

Selig lächelnd schaute er sie an: „Hast Du mich lieb?”

Da beugte sie sich über den Kranken und ihre Antwort erstarb in einem langen Kuß.


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