Militärische Orientbilder.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „General-Anzeiger für Dortmund” vom 25.4.1904


I.

Eine herrliche Reise an Bord der „Auguste Victoria” liegt hinter mir. Vom schönsten Wetter begünstigt, trug uns das stolze Schiff von Italien aus hinab zu den Küsten Afrikas und Asiens und auf den von der Firma Thomas Cook u. Son glänzend arrangierten Landausflügen lernten wir die Wunder der alten Welt kennen. Wie ein Traum, wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht liegen alle Schönheiten, die ich sehen durfte, hinter mir. Nun sitze ich wieder zu Haus am Schreibtisch. Ich möchte so gerne noch etwas träge sein, in der Erinnerung noch weiter genießen, in Gedanken noch einmal die Reise durchmachen, aber das geht leider nicht. Ich habe versprochen, nach meiner Rückkehr einige kurze Feuilletons über das ausländische Militär zu schreiben, zu erzählen, was ich in den Ländern, die ich besuchte, militärisches zu sehen bekam. Gleich von vornherein sei es gesagt, es war multum et multa, viel und vielerlei. Dank meiner Beziehungen, Dank dem liebenswürdigen Entgegenkommen der Behörden und nicht zuletzt durch die unvergleichlich geschickte Vermittlung des Mr. Herrmann, des Vertreters der Firma Cook und Son an Bord der „Auguste Viktoria”, öffneten sich mir die geheimsten und die verschlossensten Tore. Und wenn ich trotzdem nicht alles sagen kann, was ich sah, so geschieht es einmal, weil der mir zur Verfügung stehende Raum sehr beschränkt ist. Hielte ich diese Grenze nicht inne, so würde mir von den verschiedensten Nationen ein heiliges und unheiliges Donnerwetter in den verschiedensten Landessprachen zugerufen werden.

Auf italienisch heißt Donnerwetter sakramento, es war das erste Wort, das ich hörte, als ich in Genua dem Exerzieren zzusah. Ein bärbeißiger Unteroffizier rief es mit halblauter, wutunterdrückter Stimme einem Soldaten seiner Abteilung zu, als dieser sich in der Schützenlinie nicht richtig benahm und dieses Wort gab mir die gewissenhafte Ueberzeugung, die ich auch heute noch hege, es wird überall beim Militär geflucht, nicht nur bei uns, und nach allem, was ich auf meiner Reise an Flüchen hörte, glaube ich, bei uns noch nicht einmal am meisten.

Der Exerzierplatz, den ich besuchte, liegt in Genua an der Straße nach dem Campo Santo, dem wunderbaren Friedhof. Von unseren zum Teil ja auch innerhalb der Stadt gelegenen Exerzierplätzen unterschied er sich dadurch, daß er nicht mit einer hohen Mauer umgeben war, und ich möchte beinahe sagen, daß dieser Unterschied im höchsten Grade charakteristisch ist für den Unterschied zwischen der deutschen und italienischen Armee. Was bei uns auf den Kasernenhöfen und Exerzierplätzen getrieben und gesprochen wird, soll niemand sehen, hohe Mauern, Posten vor den Eingängen und bei den Uebungsplätzen, Warnungstafeln, die das Betreten des Platzes verbieten, richten von vornherein eine große Schranke zwischen dem Militär und der Oeffentlichkeit auf. Naht sich trotzdem ein Zivilist einer exerzierenden Abteilung, so wird er zum Gehen aufgefordert, und geht er nicht willig, so braucht man Gewalt. Anders in Italien. Ich glaubte nicht richtig zu sehen, auf dem Platze tobten Jungens herum, faule Italiener, die dem lieben Herrgott den Tag stahlen, spielten Boccia, Reiter und Radfahrer jagten auf ihren mehr oder weniger lebendigen Rossen herum und unmittelbar hinter den Soldaten stand eine Reihe von Zuschauern. Bei uns wäre so etwas einfach undenkbar, man würde glauben, die Disziplin und Subordination ginge zum Teufel. Ob mit Recht? Wer weiß. Die Italiener scheinen sehr in der Furcht des Herrn zu leben, das sakramento tat seine Schuldigkeit, der Faulenzer spitzte seine Ohren und hörte zu, was befohlen wurde. Es waren alles hübsche, schlanke, geschmeidige Gestalten in sehr guten Uniformen. Bei uns herrscht das System der Sparsamkeit. Fünf Garnituren gibt es offiziell, aber trotzdem gibt es sechs und sparsame Hauptleute, die unter dem Einfluß ihres Kammerunteroffiziers stehen, dessen Herz und dessen Augen jedesmal bluten, wenn er einen Rock von der Kammer heruntergeben soll, haben sogar sieben Garnituren, die zwar in sämtlichen Regenbogenfarben schimmern, aber trotzdem nicht schillern. Uniformen, wie ich sie in Genua beim Exerzieren sah, bekommen unsere Leute nur an hohen königlichen Feiertagen oder wenn eine Exzellenz naht. In der Hinsicht, wie in so mancher anderen, könnten wir etwas weniger sparsam sein. Ich habe lange genug Rekruten ausgebildet, um zu wissen, wie schwer es den Leuten fällt, in unsere Lumpen hineinzukriechen. Auch auf der Straße erhalten unsere Leute nur am Sonntag die vierte Garnitur; in Italien sehen die Mannschaften selbst an Wochentagen wie aus dem Ei gepellt aus und zwar nicht nur die Bersaglieri, diese famose Truppe mit ihrem wallenden Federhut, die da in ihrem ganzen Auftreten deutlich zeigt, wir wissen, daß wir der Stolz der Nation sind. Auch die anderen Regimenter machten auf mich einen sehr guten Eindruck; zuerst natürlich einen etwas befremdlichen. Vergebens suchten meine Augen unsere blanken Knöpfe, die egal geputzt werden müssen, schon deshalb, weil nach dem alten Wort eines Unteroffiziers ein Knopf überhaupt gar nicht so blank geputzt werden kann, wie er geputzt werden muß. Und wie der Mantel nichts nutzt, wenn er nicht gerollt ist, so nützt der blanke Knopf nichts, wenn er nicht blank ist. Anstatt unserer kurzen Waffenröcke sah ich fast nur halblange blau-graue Schoßröcke, die in den Augen unserer jungen Mädchen weniger schneidig, aber dafür bestimmt sehr praktisch sind. Praktisch ist auch ein kleines Lederpolster, das die Leute sich beim Exerzieren um das rechte Knie schnallen. Wer selbst Soldat gewesen ist, weiß, wie wahnsinnig anstrengend und ermüdend es ist, auf dem harten Exerzierplatz oder auf dem harten Lehmboden eines gepflügten Ackers in der Schützenlinie eine halbe Stunde und länger zu knieen. Es ist zuweilen um rabiat zu werden und häufig genug zieht bei uns der Soldat sein großkariertes Taschentuch, vorausgesetzt natürlich, daß er eins hat, aus dem Rock hervor und legt es sich unter die Kniescheibe. Das aber ist verboten und so bleibt die Strafe für diese Erleichterung denn auch wohl nur in den seltensten Fällen aus. Warum es verboten ist, habe ich nie begreifen können. Schon die bei uns herrschende Sparsamkeit müßte diese Lederpolster einführen, um ein schnelles Durchscheuern der Hosenkniee, die anderen Kniee kommen für den Staat ja nicht in Betracht, zu verhindern; denn bei jedem Beinkleid ist das Knie die Achillesferse. Was für die Zweifler schon daraus klar hervorgeht, daß im Salon selbst der eleganteste Dandy sich beim Hinsetzen sein Beinkleid in die Höhe zieht. Und er tut es wahrlich nicht nur, im mit seinen schwarzseidenen Strümpfen, die nach der neuesten Mode ebenso wie bei den Damen durchbrochen sind, zu kokettieren.

Praktisch finde ich auch die weißen Gamaschen, die der italienische Soldat trägt, aber das nicht allein, sie sind auch hübsch. Unsere Kommißstiefel mit den vorschriftsmäßigen Sohlennägelnb sind der Inbegriff des Geschmacklosen und der Umstand, daß sie bei dem heiligen Parademarsch selbst in Gegenwart des Allerhöchsten Kriegsherrn schon im tiefen Dreck stecken blieben, und ihre Besitzer zwangen, barfuß vorbeizustrampeln, führte zur Einführung der Schnürschuhe, die aber bei uns nur im sogenanntenh kleinen Dienst getragen werden. Es gilt bei uns nicht für fair, Schnürstiefel zu tragen, es ist nicht militärisch stramm genug. Ebenso wie ja viele Damen die Empfindung haben, keine Stiefel an zu haben, wenn es nicht gerade Knöpfstiefel sind, die dem Fuß einen festeren Halt geben.In Italien tragen sogar die Offiziere vieler Infanterie-Regimenter hohe Schnürstiefel und zwar nicht nur im Dienst, sondern auch auf der Straße und im Salon. Und sie sehen gut aus, diese hohen Schnürstiefel, zu den vom Knie an ganz eng anliegenden Beinkleidern, wie überhaupt der italienische Offizier in seiner Uniform und in seiner ganzen Erscheinung einen sehr guten Eindruck macht. Im Verkehr sind sie unendlich liebenswürdig und die Steifheit, die leider so vielen unserer Offiziere innewohnt, ist ihnen fremd. Das entspricht aber ganz dem lachenden blauen Himmel Italiens, der die Herzen offen und frei macht. Und mit dem Charakter des Volkes hängt es auch wohl zusammen, daß man einen Drill und einen Schliff wie bei uns nicht kennt, wenigstens habe ich ihn nirgends gefunden, ohne damit auch nur den leisesten Tadel aussprechen zu wollen. Aber so vieles ist dort ganz anders. Bei uns ist es den Schildwachen und Posten bei vierzehn Tagen strengen Arrest verboten, sich hinzusetzen und wer da wagt in das Schilderhaus seinen Namen hineinzuschreiben, fliegt totensicher in den Kasten. In Italien sah ich dutzende von Schilderhäusern, in denen Sitzbretter angebracht waren und die Holzwände waren vollgeschrieben und vollgemalt und gar nicht immer mit den anständigsten Bildern. Und als ich in Genua zur Citadelle hinaufschritt, saß der Posten ganz gemütlich in seinem Schilderhaus und hatte nicht einmal ein Gewehr. Ein Posten ohne Gewehr! Wer es kann, stelle es sich vor. Bei uns gibt es für den Soldaten, der Posten steht, dreierlei: entweder er tut gar nichts, oder er steht mit Gewehr über still oder er präsentiert, und es kostet eine Heidenarbeit, den Rekruten klar zu machen, wann sie das eine, wann sie das andere zu machen haben. Endlich haben die Brüder es begriffen, aber wenn sie dann zeigen sollen, was sie können, dann können sie natürlich nicht, was sie sollen und machen totsicher eine Dummheit. Vor dem Herrn Oberst machen sie gar keine Ehrenbezeugung und präsentieren ganz stolz vor ihrer Anna, um der zu zeigen, was sie gelernt haben. Unsere Unteroffiziere wären, glaube ich, sehr froh, wenn sie die verschiedenen Ehrenbezeugungen den Leuten nicht mehr einzutrichtern brauchten und wenn die Posten einfach wie so oft in Italien, nur die Hand an die Kopfbedeckung zu legen hätten. Natürlich gibt es auch in Italien Posten, die mit Gewehr stehen und die  s t e h e n  im Gegensatz zu uns wirklich. Bei uns geht der Soldat vor seinem Schilderhaus auf und ab, etwa zehn Schritt nach jeder Seite. Nähert sich ihm ein Vorgesetzter, so eilt er der Vorschrift gemäß in beschleunigtem Tempo nach seinem Platz neben dem Schilderhaus, macht eine stramme Kehrtwendung, richtet sich mit seiner Bretterbude aus und macht dann seine Ehrenbezeugung sechs Schritt vor und sechs Schritt hinter dem Vorgesetzten. Und oft genug gibt es ein unheiliges Donnerwetter, wenn der Posten nicht ausgerichtet ist, wenn er zu spät präsentiert, und gleich darauf wird wieder Gewehr ab genommen. Den Platz neben seinem Schilderhaus verläßt der Soldat überhaupt nicht, er steht da und wartet sehnsüchtig auf die Ablösung. Er weiß ganz genau, daß sie im ganzen zwei Stunden auf sich warten läßt, er weiß, sie kommt nicht später, aber auch nicht früher und doch hofft auch dort ebenso wie bei uns jeder Posten, daß ein Wunder geschieht, daß die Uhr des Wachthabenden plötzlich durchgeht und zwei Stunden in einer zurücklegt, daß der sich vielleicht irrt, was weiß ich es, kurz, er hofft, daß die Ablösung früher kommt als sie soll und die Hoffnung erhält ihn aufrecht und läßt ihn nicht einschlafen. Und wenn die Ablösung dann doch erst nach zwei Stunden kommt, wenn er sich in seinen Hoffnungen getäuscht sieht, dann sagt er sich: „Na vielleicht das nächste Mal!” Denn die Hoffnung ist bekanntlich eins der wenigen Dinge, die da nie ersterben. Und das ist an ihr das beste, wie an einem Infanterieregiment das Trommler- und Pfeiferkorps das beste ist. Wenigstens soll es das sein, denn unser Kaiser hat, wenn ich nicht irre, in Ostpreußen einmal gesagt: „Daran, wie die Spielleute ausgebildet sind, erkennt man am besten die Strammheit, die im Regiment selber herrscht.”

Die Italiener haben wohl einige Spielleute bei der Kompagnie, aber die sind nicht wie bei uns im Bataillon zu einem Korps zusammengestellt. Nur die Regimentsmusik spielt und pausiert diese, dann pausiert auch der Marsch der Leute. Nicht, als ob sie so lange stehen blieben und abwarteten, bis aufs neue die Klänge der Musik ihre Beine zu einem neuen und besseren Leben erweckten, nein, das nicht. Aber wenn die Musik schweigt, dann bummeln die Kerle noch mehr als sonst, noch mehr als sie es so wie so schon tun. Sind die italienischen Soldaten wirklich so unmusikalisch oder woran liegt es, daß sie bei dem Marsch durch die Stadt keinen Tritt halten? Schön sieht es nicht aus, wenn der Hintermann in demselben Augenblick seinen rechten Fuß aufhebt, in dem sein Vordermann ihn hinstellt. Die Folge ist, daß der eine dem anderen auf die Hacken tritt, beide kommen ins Purzeln und anstatt zu marschieren, purzelt ein großer Teil der Kompagnie durch die Straßen. und die Unteroffiziere sagen nichts und die Offiziere, die nicht wie bei uns am rechten, sondern am linken Flügel ihrer Sektion gehen, sagen auch nichts. Es wird schon wieder in Ordnung kommen.

Und hier geht's wie überall: Glückt's, dann glückt's, wenn es aber nicht glückt, na, dann glückt es eben nicht. Und meistens glückt es nicht. Mit Staunen sah ich auch, wie ganze Abteilungen, weil der Fahrdamm zu schmutzig war, auf dem Trottoir marschierten und wie die Bürger ihnen ausbogen und es als etwas ganz selbstverständliches zu betrachten schienen. Und ich mußte daran denken, wie ich einmal als junger Leutnant nicht in der Stadt, sondern außerhalb derselben, mit meinen Leuten, um diese nicht durch den tiefen Morast waten lassen zu müssen, auf den Fußweg ging und dafür einen Anpfiff bekam, an den ich heute noch mit Schrecken denke. Denn wir hatten einem Radler den Weg versperrt und ich war seiner Aufforderung, meine 60 Leute sich seinetwegen nasse Füße holen zu lassen, nicht nachgekommen. Wie konnte ich aber auch nur nicht! In Italien fand es jedermann selbstverständlich, daß er ausbog. Geschah es aus Liebe zum Militär oder infolge der vernünftigen Einsicht, daß hundert Leute hundert mal so viel Recht haben, keine nassen Füße bekommen zu wollen als ein einzelner? Ich weiß es nicht, aber es schalt niemand, weder auf die Soldaten noch auf die Offiziere.

Braucht es gesagt zu werden, daß in Italien der Offizier nicht eine halb so große Rolle spielt wie bei uns? Ich habe dafür ein zwar nur kleines, aber nach meiner Meinung sehr charakteristisches Beispiel erlebt. In Mailand war es, im Hotel Milano. Ich saß draußen in der Vorhalle und wartete auf das liebliche Glockenzeichen, daß es etwas zu essen gäbe. Da öffnete sich die Tür und ein Offizier erschien. Unwillkürlich staunte ich ihn an. Wo hatte ich doch schon so etwas einmal gesehen? Und plötzlich wußte ich es: vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, im Zirkus Renz, in der Ausstattungspantomime „Julius Caesar”. Genau wie einer der Offiziere aus der alten Römerzeit sah der Leutnant aus. Derselbe altmodische, blitzende, vergoldte Helm, um die Schultern die Toga, kurz ich glaubte, ein Zeitgenosse Julius Caesare stände vor mor. Im ersten Augenblick dachte ich, der Herr habe sich antik verkleidet, denn in den Straßen tobte noch der Fasching und vermummte und verkleidete Gestalten belebten die Plätze. Aber auf Befragen erfuhr ich, daß der Offizier der Angehörige eines der vornehmsten Kavallerieregimenter sei und von einer im Hotel wohnenden Herrschaft zum Diner eingeladen war. Und nun kommt die Pointe. Seine Gastgeber hatten die Einladung vergessen, sie waren in der Stadt und machten den Fasching mit und der Leutnant saß eine Viertelstunde nach der andern und wartete und die Gastgeber kamen und kamen nicht und ungegessen und ungetrunken mußte der Leutnant wieder von dannen ziehen.

Wo, frage ich, wäre es in Deutschland möglich, daß jemand vergißt, einen Leutnant eingeladen zu haben! Ich kenne den Ort nicht, aber wenn ihn jemand kennt, dann bitte ich um freundliche Mitteilung.

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© Karlheinz Everts