Im Notquartier.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: Der höfliche Meldereiter.


„Na, gut amüsiert?”

Der Rittergutsbesitzer von Rohrscheidt, der Typus des reichen Landwirts par excellence, betrachtete mit stolzen, zärtlichen Blicken seine neunzehnjährige Tochter Ellinor, die, soeben von einem Ritt aus dem Manöver­gelände zurückgekommen, ihm nun am Frühstückstisch gegenübersaß.

„Ach, Papa, es war reizend,” gab Ellinor, eine große, schlanke Blondine mit lebhaften, blauen Augen, zur Antwort, „es war reizend und zu schade, daß du mich nicht begleiten konntest, sondern mich allein mit dem Reitknecht reiten ließest. Es war amüsant und lustig, wenigstens für mich als unbeteiligte Zuschauerin, ob aber auch für die armen Soldaten? Das glaube ich kaum. Sie litten anscheinend sehr unter der Hitze und die armen Leutnants nicht weniger.”

C'est la guerre!” erwiderte der Vater. „Ich habe, als ich noch Offizier war, in meiner Kehle auch oft einen unbändigen Durst verspürt, und bin doch am Leben geblieben. Das ist alles nur halb so schlimm, wie es aussieht. Hast du Bekannte getroffen?”

Der Vater war gerade damit beschäftigt, ein kaltes Geflügel zu zerlegen, so sah er nicht, wie seine Tochter bei seiner Frage errötete und verlegen wurde.

„Gewiß,” gab sie endlich zur Antwort, „der Zufall fügte es, daß ich gerade in die Nähe des Regiments kam, dessen Offiziere im vorigen Jahre bei uns einquartiert waren. Die Herren lassen dich alle vielmals grüßen. Weißt du, Vater,” setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu, „es ist eigentlich zu schade, daß wir in diesem Jahre keine Einquartierung bekommen.”

„Kinder reden wie Kinder,” erwiderte der Baron halb ernsthaft, halb lustig. „Ich bin gewiß ein guter Patriot, aber trotzdem habe ich an der Einquartierung, die mich fünf Jahre der Reihe nach aufsuchte, mehr als genug. Erstens ist das Vergnügen nicht allzugroß, zweitens kostet es viel Geld, drittens macht es Umstände, viertens Arbeit. Und ich bitte dich, wie hätten wir wohl jetzt mit der Einquartierung fertig werden sollen, ohne Muttern, der die Kur in Karlsbad sehr gut zu bekommen scheint? So habe ich reklamiert und gebeten, mich dieses Mal zu verschonen, und habe es auch durchgesetzt, daß ich nur auf die Liste der Notquartiere kam. Na, und daß die heute bei diesem schönen Wetter nicht benutzt werden, ist ja klar, und ich danke dem Himmel, daß er solch freundliches Gesicht macht.”

Aber Ellinor dankte dem Himmel nicht mit, im Gegenteil, sie war dem lieben Herrgott eigentlich recht böse, daß er gerade heute die Sonne scheinen ließ. Und das nicht ohne Grund. Sie hatte am Morgen den Leutnant von Weger wiedergesehen, der im vorigen Jahr vier Tage auf dem Gut ihres Vaters gelegen und der ihr so gut gefallen hatte, daß sie wirklich traurig gewesen war, als er eines schönen Morgens mit seiner Schwadron wieder abrückte. Während einer Gefechtspause war er heute an sie herangetreten, um sie zu begrüßen, und gegenseitig hatten sie sich die Freude, einander wiederzusehen, angemerkt. Sie hatten miteinander geplaudert, bis das Kommando „Aufgesessen!” ihn zu seiner Truppe zurückrief. „Wenn Ihnen etwas daran liegt, gnädiges Fräulein, dann beten sie zu allen Heiligen, daß es heute ein entsetzliches Unwetter gibt,” hatte er ihr zum Abschied gesagt, „wir kommen nämlich auf Vorposten, aber wenn es sehr stark regnet, beziehen wir auf Ihrem elterlichen Gut Notquartiere.”

Dann war er davongeeilt, und sie war früher, als sie es ursprünglich beabsichtigte, nach Hause geritten, — wie sie ihrem Vater sagte, weil es ihr zu heiß geworden war, in Wirklichkeit aber, weil sie sich mit dem Barometer in Verbindung setzen wollte, Der aber stand fest; sie mochte klopfen, soviel sie wollte, der rührte sich nicht, der zeigte auf gut Wetter und verspürte nicht die leiseste Neigung, Regen zu verkünden. Und das ärgerte sie. Regnen müßte es ja doch einmal — warum denn nicht heute, wo sie sich denselben so wünschte? Sie fand, daß der Himmel es gar nicht so gut mit ihr meinte.

„Vielleicht können wir heute abend für eine Stunde in das Biwak fahren?” meinte der Baron. „Ich nehme ein paar Kisten guter Zigarren und einige Flaschen Wein mit, damit die braven Krieger sich auch über unsere Ankunft freuen. Auch ich möchte ganz gerne den einen oder den anderen Herren wiedersehen. Wir können ja gleich nach dem Mittagessen, gegen sieben Uhr, hinausfahren. Was meinst du dazu?”

Ellinor stimmte freudig bei: „Könnten wir heute nicht ausnahmsweise einmal um fünf Uhr zu Mittag essen?” bat sie, „sonst ist die Zeit doch etwas sehr kurz.”

Aber der Vater widersprach: „Die angesetzten Stunden sind dazu da, um innegehalten zu werden. Du weißt, ich liebe es nicht, die Essensstunden zu verlegen, das bringt nicht nur Unordnung in die Küche, sondern auch in den Magen, und den letzteren habe ich zu lieb, als daß ich ihn mir durch die Soldateska zerstören lassen sollte. Und damit auf Wiedersehen bei Tisch!”

Er erhob sich und schickte sich an, in sein Wohnzimmer zu gehen, aber plötzlich blieb er stehen und lauschte.

„Nanu? Was war denn das?”

„Ich glaubte, es donnerte,” erwiderte Ellinor, und sie mußte sich bemühen, ihre freudige überraschung nicht zu zeigen.

Der Baron stieß einen martialischen Fluch aus. „Was hat das hier auf meinem Grund und Boden zu donnern?” rief er dann — „ist ja unerhört! Das fehlt mir gerade noch, daß ein Gewitter kommt, vor heute abend um acht Uhr sind wir mit dem Einfahren nicht fertig. Darauf habe ich nur gewartet, daß mir im letzten Augenblick mein schöner Roggen verregnet.”

„Aber Vater, du bist doch reich genug,” versuchte Ellinor ihn zu beruhigen.

„Rede keinen Unsinn, Mädel,” fuhr er sie an. „Einen Menschen, der reich genug ist, gibt es überhaupt nicht. Hast du schon 'mal jemanden gesehen, der da sagt: ich habe so viel Geld, daß ich nicht mehr haben will? Solche Leute gibt es nicht einmal in den Irrenhäusern; selbst da würden die Leute, weil sie zu verrückt sind, hinausgeworfen werden. Und ob ich Millionär oder Bettler bin, das ist in diesem Falle ganz gleichgültig. Kein Mensch arbeitet zu seinem Privatvergnügen, sondern jeder will den Lohn und den Erfolg seiner Arbeit sehen, — ich auch, und deshalb darf es kein Gewitter geben. Na, hoffentlich verzieht es sich noch.”

Mit schweren Schritten ging er zur Tür hinaus, und Ellinor eilte, sobald sie allein war, an das Fenster und blickte hinauf zum Himmel, der nicht allzu viel Gutes zu verkünden schien, dann nahm sie sich den Barometer noch einmal vor. Und dieses Mal fiel er, — nein, er war schon gefallen, allerdings nur ein ganz klein wenig, aber aus den kleinsten Anfängen entwickeln sich ja oft die größten Sachen, während nach einem alten Sprichwort bekanntlich die kreißenden Berge oft nur eine winzig kleine Maus gebären.

Ellinor suchte in freudiger Stimmung ihr Zimmer auf, um sich umzukleiden und um sich für kurze Zeit hinzulegen. Der lange Ritt und die große Hitze hatten sie ermüdet. Aber als sie sich nun auf der Chaiselongue ausgestreckt hatte, floh der Schlaf sie doch. Sie mußte immer an den jungen Husaren­leutnant denken, und fast gegen ihren Willen sah sie beständig sein Bild vor sich. Er war keine Schönheit, aber er war das Bild des flotten, lustigen Reiteroffiziers. Sie dachte zurück an die fröhlichen Stunden, die sie zusammen verlebt hatten, und sie freute sich darauf, ihn heute, wenn nicht anders im Biwak, noch einmal wiederzusehen.

Erschrocken sprang sie in die Höhe, als plötzlich ein greller Blitz das Zimmer, das sie absichtlich verdunkelt hatte, erhellte und als gleich darauf ein Donnerschlag das Haus erzittern machte. Sie war nicht ängstlich, aber auf dem Lande betrachtet man ein Gewitter nicht so ruhig wie in der Stadt — ein einziger Blitz kann dort oft unermeßlichen Schaden anrichten.

Sicher hat es eingeschlagen! dachte sie.

Sie eilte ans Fenster, aber ihre Befürchtungen erwiesen sich als grundlos.

„Gottlob!” sprach sie vor sich hin. „Gottlob!”

Sie trat wieder zurück und schloß die Fenster, denn mit einmmal öffneten sich die Schleusen des Himmels und ein unendlicher Regen kam zur Erde nieder. In voller Fahrt jagten die Gespanne auf den Hof, um das Korn, das sie geladen, noch möglichst trocken in die Scheune zu bringen, Arbeiter und Tagelöhner eilten hin und her, und ohne sich um das Unwetter zu kümmern, stand der Vater auf dem Hof und gab seine Anweisungen — für alle Fälle ließ er die großen Spritzen herausholen und in Ordnung bringen, denn das Gewitter nahm von Minute zu Minute zu — der Himmel war tiefschwarz und unaufhörlich zuckten die Blitze, beständig rollte der Donner und der Regen goß hernieder.

Da jagte im Galopp ein Adjutant auf das Gut.

„Um Gotteswillen, die armen Soldaten!”

Ellinor hatte sie angesichts des Unwetters ganz vergessen, nun erst fielen sie ihr wieder ein, und das Mitleid, das sie mit den Armen empfand, ließ die Freude, den jungen Husaren nun vielleicht schon bald wiederzusehen, ganz zurücktreten.

Sie sah, wie ihr Vater mit dem Offizier sprach und wie er ihm einen großen Stall anwies und wie beide dann in diesen hineingingen.

Und wenig später kam im scharfen Trab die ganze Schwadron angeritten, an der Tete, neben dem Rittmeister, der junge Weger.

Ellinor fühlte, wie ihre Wangen sich röteten, und unwillkürlich trat sie noch weiter zurück, sie wollte nicht gleich gesehen werden, und sie wollte auch den Anschein vermeiden, als ob sie nach ihm ausgeschaut hätte. In aller Eile kleidete sie sich an, denn sie wußte, nun gab es viel zu tun. Aber sie war mit ihrer Toilette noch nicht halb fertig, als der Vater schon mit dröhnender Stimme nach ihr rief.

„Ja, ja, ich komm' ja schon!” rief sie zurück — aber es vergingen doch noch zehn Minuten, ehe sie in das Eßzimmer trat, in dem die Offiziere der Schwadron versammelt waren.

So sehr der Baron auch gewünscht hatte, keine Einquartierung zu bekommen — nun, da sie da war, sollte sie es doch so gut wie möglich haben, und so sagte er dann, nachdem die erste Begrüßung vorüber war: „Denke dir nur, Ellinor, die Armen haben noch nicht einmal etwas zu essen bekommen, der Regen ist ihnen gerade in die Suppe gefallen.”

„Und die war so wie so so dünn,” sagte Leutnant von Weger, „das muß ich offen zugeben, obgleich ich sie selbst gekocht habe — meine Kochkünste sind nur gering.”

„Das weiß der liebe Himmel!” bestätigte sein Ritmeister, „im nächsten Manöver vertraue ich Ihnen mein leibliches Wohl nicht an, das hält meine Gesundheit nicht aus. Ich danke dem Himmel, der uns zwang, das Notquartier aufzusuchen.”

„Und ich erst!” stimmte Herr von Weger seinem Vorgesetzten bei, während er Ellinor einen schnellen Blick zuwarf, dann setzte er hinzu: „„Ich glaube, Herr Rittmeister, wenn wir draußen geblieben wären, hätte ich heute noch viele Ausschelte von Ihnen bekommen, denn das Fleisch war ganz zähe.”

„Hoffentlich bekomme ich nun nicht den Tadel, der Ihnen erspart blieb,” sagte Ellinor lustig, „und hoffentlich freuen die Herren sich nicht zu früh, hierher verschlagen zu sein. Was wir haben, will ich gleich auftragen lassen, aber ob es reicht und ob es Ihren Beifall findet, das ist eine andere Sache.”

Sie eilte dann, um die nötige Anweisungen zu geben, und der Baron führte die Herren in die Fremdenzimmer, damit sie sich, so gut es ging, zurechtmachen konnten. Das Gepäck war natürlich nicht da, die Uniformen durchnäßt, in den hohen Stiefeln stand das Wasser — so blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als das Anerbieten des Hausherrn anzunehmen, dessen Zivilkleider anzulegen und die Füße in Morgenschuhe zu stecken.

„Erbarmen, Herr Leutnant! Wie sehen Sie denn aus?” rief Ellinor, als sie nach einer kleinen halben Stunde auf dem Korridor dem jungen Offizier begegnete, der das Eßzimmer wieder aufsuchen wollte.

„Hübsch, nicht wahr?” fragte er lustig, während er sich die viel zu weiten Kleidungsstücke möglichst fest anpreßte, „ich will Ihrem Herrn Vater nicht zu nahe treten, gnädiges Fräulein, aber etwas reichlich stark ist der alte Herr, Sie müßten ihn einmal nach Marienbad schicken, gnädiges Fräulein — ich glaube, aus diesem einen Anzug könnte ich ein halbes Dutzend für mich anfertigen lassen, und ich glaube, selbst die wären mir dann zu weit. Ich wiege einundsechzig Kilo, für einen Rennreiter eigentlich auch schon etwas viel, Ihr Herr Vater hat aber sicher die Hundert voll.”

„Sogar hundertundvierzig,” sagte Ellinor lachend, „aber von Marienbad will er trotzdem nichts wissen. Einmal ist er dort gewesen, da er aber nur Bier und gar keinen Brunnen trank, hat die Kur nicht viel geholfen. Nun aber muß ich wieder in die Küche.”

Sie versuchte, an ihm vorbeizugehen, aber er hielt sie zurück. „Bleiben Sie noch einen Augenblick, gnädiges Fräulein!” bat er. „Unser Hunger ist so groß, daß er gar nicht größer werden kann, da ist es ganz einerlei, wann wir etwas zu essen bekommen. Und nur um zu essen, bin ich doch auch nicht hergekommen.”

Er sah sie mit seinen großen, dunklen Augen prüfend an, und sie mußte sich bemühen, ihre Verlegenheit und ihre Unruhe zu verbergen. „Sie vielleicht nicht,” sagte sie so unbefangen wie möglich, „obgleich ich nicht weiß, was Sie sonst heute morgen den Wunsch aussprechen ließ, hierher zu kommen. Aber Sie dürfen nicht nur an sich selbst, Sie müssen auch an die Kameraden denken.”

Er lachte etwas spöttisch auf. „Glauben Sie,gnädiges Fräulein, daß die Kameraden, wenn sie sich an meiner Stelle hier befänden, sich der Tatsache meiner Geburt erinnern würden? Das Leben im Krieg und im Manöver macht egoistisch, da nimmt ein jeder, was er bekommen kann, und hält fest, was er hat.”

Er hatte ihre Hand ergriffen und hielt sie fest, obgleich Ellinor sich loszumachen versuchte.

„Gefangene dürfen aber im Manöver nicht gemacht werden,” versuchte sie zu scherzen.

„Da haben Sie recht,” stimmte er ihr bei und ließ ihre Hand los, „aber ich bitte Sie trotzdem, sich als meine Gefangene betrachten oder sich wenigstens freiwillig gefangen erklären zu wollen.”

„Und warum das?” fragte sie.

„Weil ich dann nicht erst nötig habe, einen Sturmangriff gegen Sie zu unternehmen, um in Ihren Besitz zu gelangen,” erwiderte er, während sie mit dunkelroten Wangen ihm gegenüberstand und verlegen den Blick zu Boden senkte. „Sehen Sie, gnädiges Fräulein,” fuhr er nach einer kleinen Pause, in der er sie scharf beobachtet hatte, fort, „als Leutnant weiß ich nicht recht, wie man einen Angriff so ansetzt, daß er die Wahrschein­lichkeit des Erfolges für sich hat. Das besorgen die höheren Vorgesetzten und wir sind nur die ausführenden Unterorgane; wir geben dem Gaul die Sporen, ziehen den Säbel, rufen ,Marsch, marsch, hurra!' und stürmen darauf los. Siegen wir, dann stehen wir groß da, wird der Angriff aber abgeschlagen, dann ist das nicht unsere Schuld, sondern die der höheren Führung. Bei dem Angriff, den ich aber jetzt unternehmen möchte, liegt die Sache anders. Werde ich da abgeschlagen und zurückgewiesen, dann ist das ganz allein meine Schuld, dann muß ich mir nachher bei der Kritik, die ich mir selbst halte, sehr böse Dinge sagen. Und das — das möchte ich nicht gerne; ich finde es schon mehr als genug, daß ich mir heute von meinem Oberst allerlei Grobheiten sagen lassen mußte. Und deshalb bitte ich Sie, gnädiges Fräulein, noch einmal: Erklären Sie sich freiwillig für besiegt, in diesem vollständig unkriegerischen Gewande kann ich ja auch gar nicht auf einen Eroberungszug ausgehen. Es liegt viel Poesie darin, daß selbst in unserer nüchternen Zeit unsere Soldaten, wenn es in den Kampf geht, die beste Garnitur anziehen müssen — zur Zeit der Minnesänger und Turniere kämpften die Ritter in den glänzendsten Rüstungen — und ich stehe hier in einer Kleidung, die vielleicht einst sehr schön war, bei der jetzt aber nur noch zahlreiche Flecken und Flicken von längst verschwundener Pracht erzählen. Und nun, gnädiges Fräulein, frage ich Sie zum letztenmal: wollen Sie sich freiwillig gefangen geben oder soll ich doch noch einen Sturmangriff unternehmen, Ihnen zu Füßen fallen und Ihnen sagen: Ellinor, ich liebe Sie seit dem Tage, an dem ich im vorigen Jahr zu erstenmal die Schwelle dieses Hauses überschritt, und daß ich Ihnen das nicht bereits damals sagte, ist die größte Dummheit in meinem an Dummheiten bisher so reichen Leben. Soll ich Ihnen wirklich erst sagen, daß ich Ihnen so gut bin wie keinem anderen Menschen auf der Welt — und soll ich Sie wirklich erst fragen: Ellinor, glauben Sie, daß es Ihnen dereinst möglich sein wird, mir auch ein ganz klein wenig gut zu sein? Soll ich Ihnen wirklich erst einen förmlichen Antrag machen und Sie feierlichst um Ihre kleine Hand bitten oder erklären Sie sich freiwillig gefangen?”

Er hielt schon lange ihre beiden Hände in den seinen, und mit flehenden, bittenden Augen sah er sie an, die, ein Bild der lieblichsten Anmut, ihm mit glühnd roten Wangen verlegen gegenüberstand.

„Ellinor,” bat er mit weicher Stimme, „ich bin nach Ansicht meiner Vorgesetzten ein sehr schlechter Stratege und ich habe die beste Aussicht, niemals General­feld­marschall zu werden — soll ich mich auch Ihnen gegenüber mit meinen taktischen Kenntnissen unsterblich blamieren oder ersparen Sie mir die Niederlage und ergeben Sie sich freiwillig?”

Da hing sie lachend und weinend zugleich an seinem Halse.

„Ach, ich habe dich ja so schrecklich lieb, und ich habe so viel Tränen vergossen, daß du im vorigen Jahre fortgingst, ohne auch nur ,Auf Wiedersehen' zu sagen. Nun aber habe ich dich, und nun lasse ich dich nicht wieder frei.”

In seliger Lust lag sie an seiner Brust, und er bedeckte ihr Antlitz mit heißen, leidenschaftlichen Küssen.

„Das nennst du nun kalten Kalbsbraten abschneiden?” ertönte da hinter ihnen eine Stimme.

Erschrocken fuhren die beiden auseinander, der Baron stand vor ihnen.

„Ihr beide seid mir ein paar nette Kunden!” schalt er, anscheinend ingrimmig, „unten stehen die armen Offiziere vor Hunger abwechselnd auf dem Kopf und auf den Händen, nur ihr steht hier ganz gemütlich auf den Beinen und küßt euch. Was habt ihr euch überhaupt zu küssen, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen? Na, so viel weiß ich, wenn der Himmel mir, was Gott verhüten möge, noch eine Tochter beschert, dann erziehe ich sie aber besser. Und nun, Ellinor, mach' gefälligst, daß du in die Küche kommst und laß Kalbsbraten abschneiden, aber nicht zu wenig, die Leute brüllen da unten vor Hunger. Mach'. daß du fortkommst, ich werde inzwischen deine Stelle einnehmen und mich etwas mit deinem Herrn Leutnant unterhalten.”

„Sei nicht hart mit ihm,Vater,” bat Ellinor, „ich habe mich ihm ganz freiwillig ergeben, er hat mich überhaupt gar nicht gefragt, ob ich ihn haben wollte.”

„Mach'. daß du fortkommst,” schalt der Vater noch einmal lustig, dann blieb er mit dem jungen Offizier allein.

„Nun sagen Sie nur 'mal, wie ist so etwas möglich, Herr Leutnant?” sagte der Gutsbesitzer. „Wenn's noch eine ordentliche, lange Einquartierung gewesen wäre, ließe ich es mir gefallen, aber so — Hals über Kopf — warum verlobten Sie sich denn nicht schon im vorigen Jahr?”

„Darüber habe ich ein ganzes Jahr vergebens nachgedacht,” gab der junge Leutnant zur Antwort, „wahrscheinlich war ich zu dumm. Vielleicht war auch die weite Belegung daran schuld — beim Notquartier ist das ja anders, da ist die Belegung enger, da kommen mehr Menschen auf demselben Raum zusammen, man kommt mehr miteinander in Berührung, man tritt einander näher, na — und so hat es sich denn gemacht.”

„Kurz und schmerzlos,” sagte der Baron jovial, dann aber fuhr er fort: „Ich habe meine Tochter viel zu lieb, um ihr nicht den Mann zu geben den sie liebt. Das aber sage ich Ihnen, machen Sie mir mein Kind glücklich, sonst komme ich zu Ihnen und gebe mich bei Ihnen ins Quartier, dann wird die Belegung aber noch enger, denn ich glaube, wir geraten dann beide sehr nahe aneinander. Hüten Sie sich vor dem Notquartier!”

Und mit hochgehobener Rechten schwor der junge Husar, sich vor diesem Notquartier zu hüten bis an sein Lebensende.


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