Christian Loidl: Wiener Mysterien

Klagenfurt - Wien, 1995, 178 S.
ISBN 3-85266-013-0

(Seiten 125 und 126)


(In einem Wiener Antiquariat:)

In dieser Umgebung werde ich fündig. Treulose Frauen, steht in grünem Schnörkelschwung auf dem Umschlag, über Phantomhäuptern, die mit Katzen-Lächeln dem Pastellgrund enttauchen: Bubiköpfe, Augen und nächtliche Lippen Mollmusik zum Stummfilmdrama. „Stimmt scho”, sagt der Geschäftsmann, mir über die Schulter kiebitzend, „neunzich Brozent kennen die Dreue nicht . . . Miassn S a Glick ham . . .” Dem Druck und der Graphik nach müßte der Band den zwanziger Jahren entstammen. Das Erscheinungsjahr wird verschwiegen, Erscheinungsort ist Berlin. Mit Bleistift in kindlichen Zügen steht auf der Gegenseite zum Titelblatt mit dem Namen des Autors, eines gewissen Freih. von Schlicht, Besitzer: Schramek Gabi WIEN 22 Schachnerstr. 31.

„SchaunS, des san haubdsächlich Falossnschofdn. I kenn de Leid ned. Und i schau ma de Biachln aa ned so genau aun . . . ”

Welche Nase mit Kneifer hat, über Die Junggesellin gebeugt, so wie ich heute, das Wort Opium geschnuppert? Von welchen Lippen strich der graue Dunst über die Seiten von Christiania-Bohème (Studium der Theologie, venerisches Leiden, Nervenzerrüttung)?

Als ich erstmals, giftgrün auf beigem Karton, den Namen Maurice Dekobra entziffere, gerinnt mir der Blick: Moral um Mitternacht, Berlin 1928, die Vorrede: geschrieben auf einem Kaffeehaustisch . . . Ein Regenabend auf dem Montmartre. Gerettet!

Auf einem Schattenplatz am Donaukanal, dem Rücken von Treulose Frauen andere Titel desselben Verlags ablesend und glückerfüllt - Die Lüge des Frühlings, Theatermädel, Aus der Schule der Ehe, Das Fräulein vom Monde, Künstlerblut, Diesseits und jenseits der Liebe, versinke ich, das Jahrhundert hinunter, zu meinem Urgroßvater, dem ich nie begegnet bin. K.u.k. Offizier, mit vierzig in Pension, unterhielt er mit einer Ballettänzerin eine Affaire, dann, nachdem er sie zur künftigen Urgroßmutter gemacht hatte, auch eine Ehe, polierte seinen überlangen Kleinfingernagel, mit dem er bewies, daß händische Arbeit unter seinem Stand lag, saß gerne im Kaffeehaus und über dem Schach, ergab sich dem Angelsport und dem Verfassen von dilettantischen Gedichten in Pedanten-Handschrift, riß den Söhnen mit soldatischer Strenge die Hosenböden straff, bevor er darauf einhieb, und war stets auf dem Sprung, an der hausfraulichen Eignung des einstigen Ballettratzerls ein Haar in der Suppe zu finden. So wie ihn stelle ich mir die Freiherr-von-Schlicht-Helden vor, den Herrn von Aberg oder Herrn von Bock(1): Er war ein Lebemann, der bei den Frauen unerhörtes Glück hatte, . . . . .


Fußnote:

(1) „von Aberg” und „von Bock”: Namen der Protagonisten aus den Erzählungen „Die Kravatte” und „Ein Kavalier” aus der Sammlung „Treulose Frauen”. Vergleiche dazu auch die Formulierung in „Die Kravatte”. (zurück)


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