Aus dem Lande der Mitternachtssonne.

Von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Grazer Tagblatt” vom 18.9.1900


Es war Ende Juli dieses Jahres(1). Ich saß daheim an meinem Schreibtische und wollte arbeiten, aber immer wieder hob ich den Blick und sah hinaus auf den Regen, der unaufhörlich zur Erde niederfiel. Das gieng nun schon seit Tagen so. Der Regen wollte nicht aufhören. Grau war der Himmel und die Sonne hatte sich seit Wochen nicht sehen lassen.

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Da erhielt ich einen Brief des bekannten Polarfahrers Bade, der auch in diesem Jahre, wie alljährlich, eine Fahrt nach Spitzbergen und dem ewigen Eise unternahm. „Nun, wie ist es?” schrieb er, „soll ich eine Cabine für Sie auf dem „Kong Harald” reservieren? Wollen Sie mit nach dem Lande der Mitternachtssonne?”

Ich sehnte mich nach dem Anblicke der Sonne wie der berühmteste aller Hirsche nach dem frischen Wasser. Noch einmal sah ich den heimatlichen Himmel an — der aber versprach keine Besserung. Da ergriff ich kurz entschlossen ein Drahtungsblatt und schrieb: „Reise mit”.

Wenige Tage später fuhr ich vom Hause fort, dem hohen Norden, dem Lande der Mitternachts­sonne entgegen. Nach einer Fahrt von nur 36 Stunden hatten wir die norwegische Küste erreicht; in Kopervick, dem reizend gelegenen, ganz auf Felsen gebauten Fischerdärfchen, hielten wir für einen Augenblick, um den Lotsen an Bord zu nehmen. Dann begann die Fahrt durch die Scheren, die durch das allmähliche Untertauchen der norwegischen Felsplatte unter dem Meeresspiegel entstanden sind. Das Wasser ist dort so ruhig wie auf einem See, und ungestört kann man sich dem Anblicke der steilen Felsen und des großartigen Landschafts­bildes hingeben. Es ist eine ganz neue Welt, die sich da vor unseren Augen aufthut. Voller Erstaunen sehen wir die winzigen Häuser, die wie Schwalbennester an den Felswänden kleben — so weit wir blicken, nur Fels und Fels. Abgeschnitten von jedem Verkehre, von jeder Cultur, leben die Leute hier ganz für sich. Nur ganz vereinzelt tauchen Dörfer auf, aber auch sie bestehen nur aus wenigen, wie überall im Norden, ganz aus Holz gebauten Häusern.

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An Bergen vorbei geht die Fahrt nach dem dreitausend Fuß hohen Meeresfelsen Hornelen, vorbei an dem westlichsten Vorgebirge Norwegens, Cap Stadland, hinein in den Geiranger Fjord, an dessen Ausgang Merok liegt. Es war 10 Uhr abends, als wir dort Anker warfen.; schnell gieng es in Booten ans Land, um einen Spaziergang zu machen. Ueber Stein und Geröll führt der Weg, aber wir straucheln nicht, wir sind ja im Lande der Mitternachtssonne. Trotz der späten Stunde ist es so hell, daß wir einen weiten Ausblick haben. Je höher nach Norden, desto heller die Nächte. Schon in Drontheim, wo wir am nächsten Tage Anker warfen, war es unvergleichlich heller als in Merok. Wir waren am Abend durch die Straßen der Stadt geschlendert und fuhren erst gegen 1 Uhr früh wieder an Bord zurück. In gegebener Veranlassung zog ich einen Brief aus der Tasche, und was ich selbst nicht für möglich gehalten hatte, war dennoch der Fall: ich konnte den Brief, ohne meine Augen auch nur im geringsten anzustrengen, lesen.

Daß in den hellen Nächten in Norwegen keine Laternen brennen, brauche ich wohl nicht besonders zu sagen — brennt das Licht aber einmal, dann wird es auch fürs erste nicht wieder ausgedreht. Während die Sonne z. B. in Hammerfest vom 13.Mai bis zum 28.Juli nicht untergeht, geht in der Zeit vom 20.November bis zum 22.Jänner dort das elektrische Licht nicht aus. Der Unterschied zwischen der Helligkeit bei Tage und bei Nacht ist ganz gering, und nur schwer gewöhnt man sich an die hellen Nächte. Vergebens sucht man zu schlafen, und man geniert sich fast, zu Bett gehen. Man sucht sein Lager auf, weil man es so gewohnt ist, täglich zu Bett zu gehen — im hohen Norden ist es aber ein Luxus, zu schlafen. Man verspürt überhaupt keine Müdigkeit. Die Luft ist so leicht, so rein und so schön, daß sie immer frisch erhält. Wer Norwegen besucht, sollte am Tage schlafen und bei Nacht wachen, denn gerade die Nächte sind infolge der Mitternachtssonne unbeschreiblich schön. Nie werde ich den Anblick des Himmels vergessen, als wir am 4.August abends von Drontheim fortfuhren — ich müßte mit Makart'schen Farben schildern können, wenn ich das Blau und Roth des Himmels, das sich auf den zahllosen kleinen Wolken wiederspiegelte, beschreiben wollte. Unser Maler hatte seine Staffelei an Deck, um zu arbeiten, aber plötzlich legte er Pinsel und Palette zur Seite: „Ich will es nur sein lassen. Daß es eine solche Beleuchtung des Himmels gibt, glaubt mir hinterher ja doch niemand. Lieber will ich den Anblick für mich allein genießen.”

Am 9.August erreichten wir das Nordcap. Ein gebahnter Weg, der allerdings ziemlich mühsam zu gehen ist, führt in fünfzig Minuten hinauf, und von der Spitze des Nordcaps genießt man bei schönem Wetter das unvergleichliche Schauspiel des von der Mitternachtssonne in magischer Beleuchtung strahlenden Himmels und Meeres. Diese eigenartige Farbenpracht, der weite Blick über die unermeßliche Meeresfläche und die feierliche Ruhe und Stimmung dieser nordischen Natur schaffen ein Bild, das man nie wieder vergißt.

Vom Nordcap weiter hinauf nach Spitzbergen! Wie in Spitzbergen die Natur ganz grundverschieden ist von der Norwegens, so ist dies auch mit der Mitternachtssonne der Fall. Am Nordcap steht das Tagesgestirn nur im Juni und Juli ganz niedrig über dem Horizont, auf Spitzbergen dagegen erstrahlt die Mitternachtssonne von April bis September in märchenhafter Schönheit, weil sie, je näher dem Pol, umso höher am Himmel flammt.

Wunderbar wie die Mitternachtssonne ist Spitzbergen selbst. Ein ganz eigenthümliches Gefühl durchdringt uns, wenn wir das Nordcap hinter uns lassen und uns sagen: Nun verläßt Du Europa, Norwegen und die Civilisation, jetzt geht es einem Lande entgegen, wo es keine seßhaften Menschen mehr gibt, eine fremdartige Wunderwelt wirst Du sehen.

Es gab eine Zeit, in der Spitzbergen das Klima Südeuropas hatte. Auch dort im höchsten Norden grünten und blühten Birken- und Buchenwälder, aber „lang, lang ist's her”, wie es in dem alten Liede heißt. Ueberraschend ist aber heute noch die reichhaltige Pflanzenwelt, wie sie sich in der Advent-Bai zeigt. Am Fuße der hohen Felswände sprießt und sproßt es überall, zahllos sind die verschiedenen Arten der Blumen, die man dort findet. Entzückend ist das blühende Moos, dessen Roth weithin leuchtet. Natürlich darf man nicht erwarten, die Blumen so groß und stark wie bei uns vorzufinden — die Menge muß für die Güte entschädigen. Wunderbar ist die Temperatur — hätten wir nicht gewußt, daß wir in Spitzbergen waren, wir hätten glauben können, an der Riviera zu sein. Die Advent-Bai kommt einem wie ein Garten vor — kein Eis und kein Schnee, dazu die herrliche Luft. Es ist ein ganz seltsames Klima in Spitzbergen, wunderbar ist es, wie sich dort alles conserviert.

Auf unseren Spaziergängen auf Smeerenburg, in der Nähe des Andrée'schen Ballonhauses, fanden wir fast auf Schritt und Tritt menschliche Knochen und Ueberreste, die noch aus dem 17. Jahrhundert herstammten — aus der Zeit, in der sechzehntausend Walfischfänger dort oben lebten. Man muß es mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben, wie gut die Skelette sich erhalten haben — es scheint hier nichts zu vermodern. Die Trümmer des Andrée'schen Ballonhauses, das Holz, die Taue, das Werg, die Eisentheile sehen aus, als wenn sie erst vor kurzem dorthin gelegt wurden. Smeerenburg ist entschieden der interessanteste Theil Spitzbergens, gewaltiger und großartiger aber sind die Reckesche- und Magdalenen-Bai, vor allen Dingen aber der Eisfjord. Unbeschreiblich schön ist der Anblick der gewaltigen Gletscher, wenn sie vom Lichte der Mitternachtssonne beleuchtet sind. Das Eis leuchtet dann in einem zarten Rosaroth von bezaubernder Pracht. Nirgends sah ich bisher auch ein solches Ultramarinblau, wie wir es an den Gletscherwänden in der Reckesche-Bai bewunderten. Von weitem gesehen, scheinen die Gletscherwände eine nur ganz geringe Höhe zu haben — erst wenn man mit den Booten dicht herangerudert ist, sieht man, daß die Wände höher sind, als z. B. das königliche Schloß in Berlin. Alles hier oben ist großartig, gewaltig — gewaltig sind auch die Eismassen, die sich durch die Kraft der Sonne von Zeit zu Zeit von den Gletschern loslösen und mit betäubendem Gedonner ins Wasserstürzen. Wir sehen einen schwimmenden Eisberg, der wohl zwanzig Meter über dem Wasser hervorragte — in seinem Innern krachte und bebte es wie in einem Vulcan.

Immer weiter, dem höchsten Norden, dem höchsten Stande der Mitternachtssonne entgegen, glitt das Schiff. Auf dem 81. Grad fünf Minuten mußten wir halten. Wir befanden uns am äußersten Ende der erreichbaren Welt, kaum zwei Tagereisen für einen Dampfer im offenen Wasser, vom Nordpol entfernt. Aber das Eis gebietet Halt. Wir hofften, bis zum 82. Grad vordringen zu können, aber der Südwind trieb uns die Eisschollen entgegen, zuerst kleine und unbedeutende, aber je weiter wir kamen, desto größer die Eisstücke, die unser Schiff umschwammen. Plötzlich hob sich der Nebel. Da lag es denn vor uns, in majestätischer Schönheit und Erhabenheit, das ewige Polareis, uns Menschen gleichsam erdrückend durch seine Großartigkeit. Wir wollten die Mitternachtssonne abwarten, aber das Eis zwang zur Umkehr. Meilenweit aber sahen wir noch, als wir zurückfuhren, das Eis leuchten. Rosig schimmerte es in weiter Ferne, während die gewaltigen Eisberge mit ihren Spitzen den Himmel zu berühren schienen.

Heimwärts gieng es wieder, länger, länger und immer länger, dunkler und immer dunkler wurden die Nächte, je mehr wir uns der Heimat näherten. Neben mir steht, während ich dies schreibe, die brennende Lampe. Es ist 6 Uhr abends. Draußen ist es dunkel, und hurtig eilen die Laternenanzünder durch die Straßen. Ich schließe die Augen und denke zurück an das Land der Mitternachtssonne, und was die Erinnerung in mir heraufzaubert, ist so märchenhaft schön wie ein Traum.


Fußnote:

(1) 1898 hat Schlicht/Baudissin die Reise nach Spitzbergen unternommen. In den Jahren 1900 und 1901 hat Kapitän Bade keine Touristenreisen durchgeführt, sondern Jagdreisen. (siehe: „Fluke”) Ein Vergleich mit der Reisebeschreibung aus „Über Land und Meer” zeigt, daß der obige Text auch die Reise aus dem Jahre 1898 beschreibt. (zurück)


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