Die militärische Erziehung.

Von Frhrn. v. Schlicht (Dresden).
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 12.Apr. 1903,
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 26.Apr. 1903,
in: „Freie Presse für Texas” vom 13.5.1903,
in: „Die Fahnenkompagnie” und
in: „Der Gefechtsesel”.


Von oben herab, sogar von ganz oben herab war ein Schreiben gekommen. Seine Exzellenz hatte vor einigen Wochen eine Besichtigungsreise durch die seinem Befehl unterstellten Garnisonen unternommen, und wie es alle Beteiligten voraussahen, hatte er bei der Gelegenheit nicht alles so gefunden, wie es sein sollte, sein könnte und sein müßte. Dasselbe hatte seinerzeit der Vorgänger Sr. Exzellenz auch gesagt, und wenn die jetzige Exzellenz eines schönen Tages einen Hals- oder Beinbruch erlebt, dann würde sein Nachfolger dasselbe sagen, und das würde so weitergehen, so lange es noch eine Armee und eine Exzellenz gab.

Beim Militär regt man sich, wie bekannt, immer auf, und regt man sich nicht selbst auf, so wird man von den Vorgesetzten aufgeregt, und bringen die hohen Vorgesetzten ausnahmsweise einmal das Kunststück fertig, einen Untergebenen nicht aufzuregen, dann, na, dann ist der Untertan zu phlegmatisch, dann fehlt es ihm an dem nötigen Diensteifer, dann hat er nicht das nötige Interesse, und dann — na dann!

Und dieses „dann” wollte der Herr Oberst des Infanterie–Regiments noch nicht erleben. Seine Frau wünschte sich zu ihrem Geburtstag, der gerade mit dem „Großen Militärwochenblatt” zusammenfiel, daß sie Frau Generalin würde, und da der Herr Oberst zu Hause mächtig unter dem Pantoffel stand, hatte er seiner Gattin geschworen, ihr diesen kleinen Wunsch zu erfüllen. Aber jetzt kam es ihm fast so vor, als hätte er in einem schwachen Augenblick etwas zu viel versprochen, denn Seine Exzellenz beschäftigte sich in dem Schreiben ganz besonders mit seinem Regiment.

„Bei einem Infanterie–Regiment (der Herr Oberst wußte genau, daß er der unglückliche Kommandeur desselben war) habe ich den Eindruck gewonnen, als herrsche dort nicht der richtige militärische Geist.”

Der Herr Oberst las diesen schweren Vorwurf nun schon zum fünftenmal, trotzdem fluchte er noch mordsmäßiger als beim erstenmal und las dann weiter: „Dies scheint mir daraus hervorzugehen, daß sowohl im schriftlichen, als ganz besonders im mündlichen Verkehr zwischen Vorgesetzten und Untergebenen nicht die vorgeschriebene Anrede stattfindet. Der Vorgesetzte darf seine Leute nicht „Du” nennen, aber noch mehr ist mit aller Strenge darauf zu halten, daß die Untergebenen die Vorgesetzten in der dritten Person anreden. Es heißt: „Wollen der Herr Hauptmann” — „Den Herrn Unteroffizier wollte ich fragen” — „Der Herr Feldwebel werden gebeten” etc. In der heutigen Zeit, in der der Wunsch und das Streben nach Gleichberechtigung und Gleichstellung aller Klassen durch die Menschen geht, haben wir mit aller Strenge darauf zu halten, daß beim Militär die überlieferten alten, starren Formen aufrechterhalten bleiben, denn sie tragen einen wesentlichen Teil dazu bei, daß der Untergebene in dem Vorgesetzten gewissermaßen ein höheres Wesen sieht, an dessen Tüchtigkeit er sich keinen Zweifel erlaubt, dem er blindlings folgt, nicht nur, weil er es muß, sondern weil er es einsieht, daß der Höhere in geistiger Beziehung weit über ihm steht.”

Der Herr Oberst, der den Brief laut vorgelesen hatte, legte das Schreiben nun beiseite und sagte mit dem Brustton tiefinnerster Ueberzeugung: „Quatsch!

Aber als der Herr Oberst dieses Wort gesprochen hatte, bekam er einen maßlosen Schrecken. Was er da soeben sagte, war mehr als Insubordination, das war schon offene Rebellion, und wenn das an die große Glocke kam, daß er sich so über den hohen Vorgesetzten äußerte, dann konnte ihm das leicht den Kragen kosten, für den schon die Generals–Abzeichen zu Hause im Kleiderschrank lagen. Und die Ausgabe wollte er sich bei den schlechten Zeiten nicht umsonst gemacht haben. Zwar konnte er sich auf die Verschwiegenheit seines Adjutanten verlassen, aber besser war immerhin besser, und so fuhr er plötzlich seinen Adjutanten an: „Wie meinten Sie eben?”

Der blickte ganz erstaunt auf und sah den Vorgesetzten groß an, seit einer halben Stunde hatte er den Mund überhaupt nicht aufgemacht. „Ich,” stotterte er endlich, „— ich — Herr Oberst — ich meinte —”

Er wollte sagen „garnichts”, aber soweit kam er nicht, denn der Herr Oberst nahm ihm das Wort aus dem Mund: „Sie haben gar nichts zu meinen, Herr Leutnant, merken Sie sich das. Wohin soll das führen, wenn der Untergebene, ganz einerlei, welcher Charge er angehört, sich an den Befehlen der Höheren eine Kritik erlaubt? Das gibt es nicht, verstanden?”

Der Adjutant verstand von alledem gar nichts und machte dem entsprechend kein allzu geistreiches Gesicht. Er war sich keiner Schuld bewußt und deshalb stieg ihm bei dem unverdienten Vorwurf das Blut in die Wangen.

„Na, lassen Sie es nur gut sein,” beruhigte ihn der Kommandeur, „ich will nichts gehört haben. Vor allen Dingen müssen wir nun dafür sorgen, daß der militärische Geist, den Exzellenz bisher bei uns vermißt hat, unseren Leuten in Fleisch und Blut übergeht. Was ist die Uhr jetzt? Zehn? Schön, dann wünsche ich um einhalb ein Uhr sämtliche Herren Offiziere in beliebigem Anzug im Kasernenhof zu sprechen.”

Der Oberst sprachs und gleich darauf sauste eine Ordonnanz durch die Korridore der Kaserne, um in jedem Bataillons–Bureau zu melden, was zu melden war, und die Bataillone meldeten es auf den Kompagnie–Schreibstuben, daß der Herr Oberst die Herren Offiziere zu sprechen wünschte, und die Herren Feldwebel sandten Boten aus, um diese Nachricht ihren Herren Leutnants und Hauptleuten zukommen zu lassen, und der Herr Oberst hatte Glück: um einhalb ein Uhr waren sämtliche Herren Offiziere um ihn versammelt.

Der Herr Oberst hatte sich auf seinem Bureau reiflichst überlegt, was er zu seinen Offizieren sprechen würde, vor allen Dingen war er sich darüber einig geworden, unter keinen Umständen zu verraten, daß der Brief Sr. Exzellenz sich auf sein Regiment bezöge. Er wollte sich seinen Offizieren gegenüber keine Blöße geben, und er verspürte nicht die leisesten Neigung, sich selbst den Glorienschein von seinem Haupte zu nehmen.

„Meine Herren,” nahm er jetzt das Wort, „ich habe ein Schreiben von der Division erhalten, daß Excellenz auf seiner Reise bei einem Regiment den richtigen militärischen Geist vermißte. Die Freundschaft, die mich mit dem Kommandeur des betreffenden Truppenteils verbindet, hindert mich, den Namen des Regiments zu nennen, für Sie genügt es ja auch, wenn ich Ihnen sage: Wir sind es gottlob nicht!”

Der Herr Oberst sprachs, und alle, die um ihn herumstanden, glaubten ihm, weil sie von ihrer eigenen Tüchtigkeit felsenfest überzeugt waren.

„Meine Herren, wie aus dem Schreiben hervorgeht, haben wir in jeder Hinsicht, ich wiederhole: in jeder Hinsicht, den Beifall Sr. Exzellenz gefunden. Freuen wir uns, daß dem so ist, aber sorgen wir auch dafür, daß es weiter so bleibt.”

Der Herr Oberst sprachs, und alle, die um ihn herumstanden, stimmten ihm zu. Natürlich mußte es so bleiben, und es würde auch so bleiben, daran zweifelte niemand, weil sie von ihrer eigenen Tüchtigkeit felsenfest überzeugt waren.

„Meine Herren, Sie alle wissen, was man nicht pflegt, vergeht, und deshalb müssen wir den ausgezeichneten militärischen Geist, der in unserem Regiment herrscht, nicht nur in der alten Weise weiterpflegen, sondern wir müssen ihn noch mehr pflegen als bisher.”

Der Herr Oberst sprachs, und alle, die um ihn herumstanden, sahen ihn verwundert an, sie begriffen die Logik seiner Worte nicht ganz. Warum sollten sie den Geist noch mehr pflegen? Den Herren wurde etwas ungemütlich; klug, wie sie waren oder zu sein glaubten, sahen sie voraus, daß es irgendwo noch mehr Dienst geben würde als bisher. Totgearbeitet hatte sich allerdings bisher noch keiner, aber dazu war man schließlich auch nicht auf der Welt.

„Meine Herren, ich glaube, daß es in ihrem Interesse liegt, und daß es Ihren eigenen Wünschen entspricht, daß wir in Zukunft bei den Besichtigungen noch besser abschneiden als sonst, noch mehr Lob, noch mehr Anerkennung finden als bisher. Wir wollen nicht nur die Besten, sondern die Allerbesten sein, wir wollen nicht nur wie bisher an der Spitze des Armeekorps, sondern an der Spitze der ganzen Armee stehen!”

„Gegen die Garde kommenwir doch nicht an,” dachte ein junger Leutnant, „und warum sollen wir uns da unnötig abplagen. Garde bleibet Garde, da ist nichts zu wollen!”

„Und darum, meine Herren, möchte ich Sie bitten, von jetzt an täglich Ihre Leute über ein Kapitel instruieren zu wollen, das ich „der militärische Geist” nennen möchte. Ich glaube im Sinne der Herren Leutnants zu sprechen, wenn ich sage, daß die Herren selbst den Unterricht übernehmen sollen. Nur dann wird etwas Gedeihliches dabei herauskommen.”

Das war verzuckerter Zucker, aber er schmeckte den Herren Leutnants trotzdem verflucht bitter, sie mochten würgen, soviel sie wollten, die Pille ging nicht hinunter, und sie standen alle da mit einem Gesicht, als ob — — na ja, als ob.

„Das freut mich, meine Herren, das freut mich sogar herzlich,” fuhr der Herr Oberst fort, „ich sehe Ihnen an, daß Sie mir alle beistimmen, ich habe das auch garnicht anders erwartet. Ich brauche Ihnen ja nicht erst zu sagen, worauf Sie in Ihrer Instruktions­stunde besonderen Wert legen sollen. Nur Eins möchte ich betonen, eine ganze Kleinigkeit. Exzellenz legt Wert darauf, daß die Leute die Vorgesetzten nie und nimmer mit dem „Sie”, sondern immer und unter allen Umständen in der dritten Person anreden. Es heißt: „Wollen der Herr Hauptmann” — „Den Herrn Unteroffizier wollte ich fragen” — „Der Herr Feldwebel werden gebeten”. — Meine Herren, das ist ja auch ganz selbstverständlich, wir müssen unter allen Umständen die überlieferten alten starren Formen aufrecht erhalten, besonders in der heutigen Zeit, in der der Wunsch und das Streben nach Gleichberechtigung und Gleichstellung aller Klassen durch die Menschen geht. Wir müssen dafür sorgen, daß der Untergebene in seinem Vorgesetzten gewissermaßen ein höheres Wesen sieht, an dessen Tüchtigkeit er sich keinen Zweifel erlaubt, dem er blindlings folgt, nicht nur, weil er muß, sondern weil er einsieht, daß der Höhere in geistiger Beziehung weit über ihm steht.”

Der Herr Oberst sprachs, und alle, die um ihn herumstanden, nickten ihm Beifall zu, durchdrungen von ihrer eigenen Tüchtigkeit. Und der jüngste Leutnant warf sich noch mehr als sonst in die auswattierte Brust und dachte, „das wäre ja immer schöner, wenn die Kerls in uns kein höheres Wesen erblicken wollten.”

„Meine Herren,” fuhr der Oberst erneut fort, „ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die den Vorzug hat, wahr zu sein. In einem Regiment ließ sich ein Unteroffizier hinreißen, einen Untergebenen mit „Du” anzureden. Meine Herren, Sie wissen, wie ich über das „Du” denke, ein „Du” gibt es unter keinen Umständen, nie und nimmer, obgleich ich gerne zugeben will, daß man zuweilen doch diese Anrede gebraucht. Also, meine Herren, der Unteroffizier nannte den Mann „Du”, und der vergaß sich soweit, den Vorgesetzten mit „Sie” anzureden, anstatt in der dritten Person. Für einen Augenblick war der Unteroffizier sprachlos, dann aber sagte er zu dem Rekruten: „Meier, wenn ich Sie „Du” nenne, dann hast Du noch lange nicht das Recht, mich „Sie” zu nennen.”

„Meine Herren, der Unteroffizier war sich seiner Stellung dem Untergebenen gegenüber durchaus bewußt. Merken Sie sich seinen Ausspruch und teilen Sie ihn Ihren Leuten mit, damit er ihnen in Fleisch und Blut übergeht, und lassen Sie Ihre Mannschaften wissen: drei Tage Arrest, wer noch ein einzigesmal „Sie” sagt. Nun, meine Herren, danke ich Ihnen!”

Am nächsten Tage begannen die Instruktions­stunden, und die dauerten fort, bis Seine Exzellenz eines Tages zur Besichtigung kam. Gefolgt von seiner großen Suite schritt er die Front des Regiments ab und plötzlich blieb er vor einem Soldaten stehen: „Mein Sohn, wie heißt der Divisions­kommandeur?”

„Exzellenz v. Troßbach.”

„Richtig. Und wer von den vielen Vorgesetzten ist der Divisions­kommandeur?”

„Sie,” wollte der Mann als einzig richtige Antwort geben, da fiel ihm das schöne Wort ein: Selbst wenn ich Sie „Du” nenne, hast Du noch lange nicht das Recht, mich „Sie” zu nennen, und so sagte er denn: „Er.”

„Welcher Er?”

Exzellenz sah sich verwundert und mißbilligend um, aber als er dann nach langen Fragen erfuhr, daß er, er selber gemeint war, da wurde er sacksiedesaugrob, und der Mann, dem bei drei Tagen Arrest verboten war, „Sie” zu sagen, wäre jetzt beinahe sieben Tage in den Kasten geflogen, weil er nicht „Sie” gesagt hatte.


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