Manöverplauderei.

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Das kleine Journal”, Nr. 247 vom 9. Sept. 1895 und
in: „Aus der Schule geplaudert”


Es giebt viele Kanaillen auf der Welt, aber die gemeinste von Allen ist die Hurrah-Kanaille, so denkt wenigstens der Lieutenant, der im Schweiße seines Angesichts über frisch gepflügte Felder einhermarschirt, dem Feinde entgegen, bis er ihn gefunden, und um dann mit lautem „Marsch, Marsch, Hurrah” sich auf den Gegner zu werfen. Bekanntlich hatten schon anno 70 die Franzosen vor unserem Hurrah einen gewaltigen Respekt — wer weiß, ob nicht dereinst die Kriegsfackel wieder entzündet wird, und damit das Hurrah dann denselben Eindruck macht wie einst, wird das Hurrahrufen fleißig bei jedem Angriff geübt. Aber zwischen Hurrah und Hurrah ist ein ganz gewaltiger Unterschied: wenn man bei festlichem Mahle in gehobener Stimmung dem Landesherrn ein Hurrah weiht, so klingt das ganz anders, als wenn der Soldat mit bepacktem Affen bei 25° Réaumur im Schatten 600 Meter gelaufen ist und nun mit dem letzten Rest von Athem, der ihm geblieben, ein heiseres „Hurrah, Hurrah” ausstößt. Das klingt wie der Schrei eines Raben, der sich den Schnupfen geholt hat und trotz der ernsten Bitten seiner besseren Hälfte keinen Kaltwasserumschlag um den Hals nahm. Dem Krieger ist der Hals trocken, die Luft ist ihm benommen, er möchte so gerne einmal recht gründlich Athem schöpfen, aber es geht nicht, denn „er hat die Nase voll”.

Dieses letztere gilt häufig in wirklicher und übertragener Bedeutung. Wer selbst einmal Soldat gewesen ist — und wer ist das heutzutage nicht? —, der weiß, daß der größte Feind des Kriegers der Staub ist. In langen Reihen marschirt die Infanterie auf der Landstraße einher, seit Wochen hat es nicht geregnet und die achthundert Füße eines Bataillons wirbeln den Staub auf. Da kommt plötzlich von hinten das Kommando „scharf rechts heran, die linke Seite der Straße freilassen”. Kaum ist der Befehl ausgeführt, als auch schon ein Artillerie-Regiment in rasendem Tempo an der Kolonne vorbeisaust. Man sieht gar nichts mehr, weder seinen Vordermann, noch seinen Nebenmann, noch sich selbst. Wohl eine Viertelstunde währt es, bis man den Himmel wieder sieht — dann greift man in die Tasche und holt das Schnupftuch hervor. Und in solchen Momenten findet man die Sitte der Chinesen schön, die ihr seidenes Papiertaschentuch jedesmal nach dem Gebrauch fortwerfen. Leider können wir mit unseren leinenen Tüchern nicht so verschwenderisch umgehen, was würde sonst die theure Gattin sagen, die dem scheidenden Gemahl beim Abschied die Wäsche, die sie ihm einpackt, genau vorzählt und dabei mahnt: „Daß Du mir aber ja nichts verlierst!” Und doch wäre es manchmal besser, man würfe ein Stück über Bord, als daß man genau nach dem alten Spruch handelt und seine schmutzige Wäsche stets zu Hause wäscht.

Hat man in diesem Sinne die Nase voll bekommen, so hilft etwas frisches Wasser, um den status quo ante wieder herzustellen. Schlimmer, viel schlimmer ist es, wenn die Verstopfung der Luftkanäle auf andere Art und Weise erfolgt.

Lange bevor die Sonne daran denkt, daß es ihre tägliche Bestimmung ist, aufzugehen, haben die Trompetentöne den ruhenden Krieger von dem Strohlager gerissen. Mit einem mehr oder weniger kräftigen Fluch — je nach dem Charakter des Einzelnen — hat er sich „die Bundeslade” aufgepackt und ist auf den Appellplatz geeilt. Wenige Minuten später marschirt die Kompagnie fort, um sich bald dem größeren Verbande einzuverleiben. Wenn der Soldat des Morgens ausrückt, so hat er nur den einen Gedanken: „Wann sind wir wieder im Quartier?” Jeder sucht sich die Frage selbst zu beantworten, oft wird sie auch gemeinsam in der Marschkolonne erörtert und man einigt sich über irgend eine Zeit. „Spätestens um zwölf Uhr sind wir wieder daheim!” ist das Resultat des gemeinsamen Denkens. Aber es wird eins, zwei, drei Uhr. Die Sonne scheint, der Affe drückt, der Hunger quält, der Durst brennt, der Rockkragen kneift — und immer ist noch kein Ende abzusehen.

„Na, Mensch, hast Du noch Lust?” fragt ein Soldat den andern.

Der aber schüttelt wehmuthsvoll sein mit dem Helm geschmücktes Haupt und spricht: „Ne, ich danke, ich habe die Nase voll.”

Und dagegen hilft kein Taschentuch und kein Wasser, da nützt nur das Signal „Das Ganze Halt!” Nur der Leitende darf es blasen lassen und den rufen weder die Bitten, noch die Flüche, noch die Verwünschungen, die im Stillen ausgestoßen werden, der läßt nicht eher „Halt” blasen, als bis es durch die Kriegslage und den Gang des Gefechtes bedingt wird, und naturgemäß ist das an jedem Tag verschieden.

Einmal, allerdings vor langen Jahren, soll es vorgekommen sein, daß „das Ganze Halt!” geblasen wurde, ohne daß dazu der Befehl gegeben worden war. Ein biederer Reserve-Hornist war zum Manöver eingezogen und lag hinter der Schützenlinie, das Ende erwartend, das jedes Ding, folglich auch das heutige Gefecht, haben mußte. Aber das Ende kam und kam nicht, dem biederen Reservisten wurde die Zeit lang, er dachte an die Heimath, wo er Weib und Kind hatte. Im Geiste sah er sich von seinen Knaben umringt, die den Vater in der ihnen unbekannten blanken Uniform mit dem hellschimmernden Horn bewunderten, und es war ihm, als wenn eine Stimme zu ihm spräche: „Vater, blas' uns mal 'was vor.”

Er war stets ein guter Vater gewesen, der, soweit es in seinen Kräften stand, jeden Wunsch seiner Kinder erfüllte. So nahm er auch jetzt die Trompete, setzte sie an seine Lippen und blies. Aber als er geblasen hatte, erschrak er selbst, denn er hatte das Signal „Das Ganze Halt!” gegeben. Der Vorschrift gemäß wurde das Signal von allen Spielleuten aufgenommen und nachgeblasen, die Truppen, die es vernahmen, hingen die Gewehre über die Schultern und marschirten nach Haus und mit der Uebung war es für diesen Tag trotz allen Fluchens des Generals vorbei. Zwar wurden Adjutanten und Ordonnanzoffiziere nach allen Windrichtungen entsandt, um den abmarschirenden Truppen den Befehl zur Rückkehr zu überbringen, aber es giebt Befehle, die man bekommt, und solche, die man bekommt und die man doch nicht bekommt. Letzteres ist natürlich immer sehr gewagt, aber im Manöver riskirt man es schon, zu behaupten, daß man einen Befehl nicht erhalten hat, da giebt es soviel auf den Hut, daß es auf einen mehr oder weniger gar nicht ankommt.

Besonders der Lieutenant hat in dieser Hinsicht ein entsetzlich dickes Fell, ihm ist Alles schnuppe, wenn er nur bald ins Quartier kommt. Naturgemäß spielen daher die Quartiere in seinem Leben eine große Rolle. Die Felddienstordnung unterscheidet in dieser Hinsicht: Ortsunterkunft, Ortsbiwak, Alarmquartier, Biwak.

Der Lieutenant unterscheidet Sektquartiere, gewöhnliche Quartiere und Biwak.

Das erstere ist natürlich das am meisten begehrte, der Sekt ist doch zu schön und erfrischend, und nach der durch die five sisters Barrison so bekannt gewordene Melodie singt er während des ganzen Marsches: „Ach, wie macht so glücklich Heidsieck-Monopol, ach, wie wird man so lustig, so selig und so froh.” Aber er ist bescheiden, es braucht nicht immer Heidsieck(2) zu sein, Mathäus Müller thut es auch, wenn er schön kalt und in genügender Menge vorhanden ist. Seine Liebenswürdigkeit und Dankbarkeit in einem Sektquartier kennt keine Grenzen, er ist zu jedem Opfer bereit, ja sogar zum Tanzen.

Ach, wenn die Mütter und die jungen Damen wüßten, wie der Lieutenant im Sommer das Wort „tanzen” haßt, sie würden Mitleid mit ihm haben. Im Winter giebt es ja für ihn kein größeres Vergnügen, als auf dem spiegelglatten Parkett nach den rauschenden Klängen der Musik mit einem holden, blühenden Geschöpf im Arm einherzuschweben. Aber „Umstänne verännern 'ne Sak” sagt Fritz Reuter und der Mann hat recht.

Es ist nun 'mal eine Eigenthümlichkeit des Abends, daß er uns müde werden läßt, und wenn irgend ein Mensch berechtigt ist, Abends seine Glieder zu spüren, so ist es der Lieutenant im Manöver und da wieder derjenige am meisten, der als Hurrah-Kanaille durch das Gelände zieht. Er ist todter als todt, nur als Mann von guter Erziehung bringt er es fertig, bei dem Abendbrot nicht einzuschlafen, gewaltsam reißt er von Zeit zu Zeit seine Augen weit auf, doch in seinem innersten Innern sehnt er sich nach seinem Bett. Da bringt die Hausfrau mit einer kühnen Redewendung das Gespräch von dem Vortheil der Stallfütterung auf das Tanzen. Der Lieutenant knickt zusammen, der Schweiß tritt ihm auf die Stirn, nur ein Wort spricht er leise vor sich hin, aber klagend, daß es einen Stein erweichen könnte, klingt sein „Allmächtiger!” Er weiß aus Erfahrung, was es heißt, auf dem Lande tanzen. Die Mädchen in der Stadt sind in dieser Hinsicht ja auch nicht todt zu bekommen, obgleich sie im Winter wochenlang hindurch jeden Abend tanzen. Aber was ist deren Freude am Tanzen, verglichen mit der einer jungen Dame auf dem Lande? Sie hat ja zuweilen nur einmal im Jahre Gelegenheit, „das Tanzbein zu schwingen”, und der Tag muß dann gehörig ausgenutzt werden. Alle Cousinen und Freundinnen aus den nächsten hundert Meilen sind eingeladen worden, während der Einquartierung Gäste zu sein. Sie sind gekommen und von dem Augenblick an, da die Kompagnie oder die Eskadron auf dem Gute einrückt, denken die Mädchenköpfe nichts anderes als „Tanzen, tanzen”, und sie ahnen nicht, wie entsetzlich schwer es fast immer den Herren wird, müde, wie sie sind, einen Schnellwalzer nach dem anderen zu tanzen. Es giebt ja einen Thierschutzverein, sollte sich nach Analogie desselben nicht auch ein Lieutenants­schutzverein gründen lassen? Der erste Paragraph müßte lauten: „Es ist verboten, Lieutenants während des Manövers zum Tanzen aufzufordern”, und der zweite Paragraph müßte heißen: „Es ist verboten, den einquartierten Offizieren Hühner zu essen zu geben.”

Das Huhn, das jeder Offizier an jedem Manövertag bei jeder Mahlzeit zu jeder Tageszeit und in jeder Gestalt vorgesetzt bekommt, nennt man kurzweg „den Manöveradler”.(1) Es wäre für einen Menschen, der nichts zu thun hat, eine interessante Aufgabe, einmal statistisch festzustellen, wie viel Hühner in Deutschlands Gauen während eines einzigen Manövers verzehrt werden, und vom medizinischen Standpunkt aus wäre die Frage zu lösen, wie es möglich ist, daß ein Lieutenant so viel Hühnerfleisch vertragen kann, ohne selbst ein Huhn zu werden? Der Manöveradler bildet in den meisten Quartieren, ausgenommen sind natürlich die Sektquartiere, die einzige Nahrung, und deshalb sehnt sich der Krieger von diesen Quartieren fort, irgendwohin, wenn es sein muß, sogar ins Biwak.

Und doch ist ein Biwak die schrecklichste Erfindung, die je gemacht worden ist, noch schrecklicher als das seinerzeit über das ganze Erdenrund verbreitete Cri-Cri, mit dem man selbst den dickleibigsten Kurgast aus Marienbad in einer Minute von einem Pol zum andern jagen konnte. Gegen die Cri-Cri schritt die Polize ein und ließ sie verschwinden — die Biwaks aber werden bleiben bis an der Welt Ende, vielleicht sogar noch länger.

Auch hierüber sind die Ansichten verschieden. Der Städter, in dessen Nähe ein Biwak stattfindet, miethet sich einen mehr oder weniger eleganten Wagen, packt denselben bis oben voll mit Familienangehörigen und Lebensmitteln — letzteres ist für ihn stets das Wichtigste — und dann geht die Reise los. Bald ist er auf dem Platz angekommen, auf dem die Truppen lagern, er sieht das geschäftige Leben und Treiben, hört die Musikkapellen ihre lustigen Weisen spielen, sieht, wie ein paar Soldaten einander umfaßt haben und miteinander tanzen, und findet die Sache „famos”. Er sieht dem Schauspiel zu, bis es anfängt kühl zu werden, dann wickelt er sich fester in seinen Plaid und fährt wieder heim.

Für den Soldaten beginnt aber dann erst das Biwak. Lord Byron sagt: „Ist die Nacht das halbe Leben, Und die schön're Hälfte doch”. Wäre Lord Byron Soldat gewesen und hätte er einmal eine Biwaknacht mit durchgemacht, ich glaube, er hätte dem obigen Wort doch noch einen Zusatz gegeben. Biwaksnacht, gräßlich. Gedenke ich der in früheren Jahren im Biwak verlebten Nächte, so sträuben sich die Haare meiner Perücke und die Feder will nicht weiter.

Eine Nacht im Stroh schlafen ist nichts Schlimmes, aber das Erwachen! ! ! Wenn man Morgens um drei oder vier Uhr wach wird und in der Nase einen Strohgeruch, im Munde einen entsetzlichen Strohgeschmack hat, wenn die Morgenkälte unsere Glieder erstarren läßt, wenn man sich dann sagt: „Du hast kein Wasser, um Toilette zu machen, schmutzig, wie Du bist, mußt Du weiter wandern” — ja so etwas läßt sich nur empfinden, aber sagen läßt' sich nicht.

Und doch geht es noch, wenn man nur ein Biwak hat, wenn man sich sagt: „Heute Abend bist Du wieder im Quartier.” Aber schrecklich, mehr als schrecklich ist es, wenn man mehrere Nächte nacheinander draußen bleiben muß.

Ich weiß es noch wie heute und doch ist es schon lange her. Unser Regiment mußte drei Nächte hintereinander biwakiren. Nie vergesse ich meinen Hauptmann, der ob dieser Nachtruhe verzweifelt auf einem leeren Bierfaß saß. Ich versuchte ihn zu trösten, indem ich ihn darauf hinwies, daß doch Viele, Viele mit ihm das gleiche Geschick theilten.

„Ich habe mich daran gewöhnt,” sprach er endlich, „nach dem ersten Biwak ein Schwein zu sein, das nach dem zweiten grunzt, was aber mache ich nach dem dritten? Die Frage quält mich.”

„Vielleicht quiecken der Herr Hauptmann,” rieth ich, und ein seliges Lächeln ging über seine Züge. Ob er es gethan hat, ist mir nicht mehr in Erinnerung, aber ein Wunder wäre es nicht gewesen, wenn er meinen Rath befolgt hätte.

Die höheren Stäbe von dem Regiments­kommandeur aufwärts biwakiren nicht mit, oder richtiger gesagt, es ist ihnen freigestellt, ob sie mitbiwakiren wollen oder nicht. Ginge es nach ihrem Willen, sie thäten es sicherlich nicht, zuweilen thun sie es aber dennoch, nicht weil es ihnen befohlen, sondern weil es „gewünscht” wird.

In keinem anderen Stand und Beruf sind die jüngeren Herren gegen die älteren so aufmerksam und gefällig wie beim Militär. Ein Vorgesetzter braucht nur etwas zu wünschen — er kann sicher sein, daß sein Wunsch erfüllt wird. Beim Militär ist eine Bitte ein in höflicher Form gegebener Befehl.

„Ich möchte den Herrn Oberst freundlichst bitten, heute Nacht mit zu biwakiren, es wäre doch möglich, daß wir angegriffen werden, und es wäre mir sehr lieb, wenn der Herr Oberst gleich zur Stelle wären.”

So spricht der General und der Herr Oberst beeilt sich, zu versichern, er käme diesem Wunsche um so lieber nach, da er bereits vorher beschlossen gehabt hätte, in einer so kritischen Lage seine Truppe nicht zu verlassen. Selbstverständlich glaubt ihm der General nicht, er weiß ganz genau, daß der Herr Oberst bereits im nächsten Dorf für sich hat Quartier machen lassen, daß der Koffer bereits ausgepackt ist und daß das Nachthemd schon ausgebreitet auf dem Bett liegt, des Augenblicks harrend, wo sein Herr und Besitzer es sich über den Kopf zieht und so einen Augenblick unsichtbar wird wie Napoleon auf dem berühmten Bild der „Fliegenden Blätter”: „Napoleon zieht sich vor der Schlacht von Waterloo hinter einem Ofenschirm ein reines Hemd an.”

Der General glaubt seinem Obersten nicht, das verlangt der Oberst aber auch gar nicht, wo sollte das aber auch hinführen, wenn man beim Militär Alles glauben sollte? Der Untergebene glaubt nicht, was der Vorgesetzte ihm sagt, und umgekehrt. Natürlich darf man sich das nicht merken lassen, denn sonst wäre es mit der Disziplin bald zu Ende und Disziplin muß sein, sie ist der Grundpfeiler der Armee, oder wie das alte Soldatenwort heißt: „Disziplin ist das Bestreben, stets dümmer zu erscheinen, als der Vorgesetzte wirklich ist,”, während man unter Subordination das unangenehme Gefühl versteht, das Jeden in der Nähe der Vorgesetzten beschleicht.

Freiherr von Schlicht.


Fußnote:

(1) Siehe auch die Erzählung „Der Manöveradler”, Fußnote 5 (zurück)

(2) In der Buchfassung: „Heidsieck-Monopol”. (zurück)


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