Malwine.

Humoristisch-satirische Plauderei von Freiherr von Schlicht
in: „Die süssen kleinen Mädchen — Was sie bereuen”


Die kleine Elsbeth, ein süßs blondlockiges Geschöpf von acht Jahren, war unartig gewesen, hatte von der Mutter ihre Ausschelte und erst recht ein paar Klapse auf die Finger bekommen und war nun weinend und schluchzend zu ihrer guten alten Tante Malwine, von ihr kurzweg stets Tante Wine genannt, die bei ihren Eltern im Hause wohnte, geflüchtet, um sich von der, wie schon so oft, auch heute wieder trösten zu lassen, denn die Tante Wine war so gut und die Mutter war so streng, besonders manchmal, wenn sie, die kleine Elsbeth, unartig gewesen war, denn unartige Kinder mochte ihre Mami gar nicht leiden und es dauerte auch immer sehr lange, bis die ihr verziehen hatte. Da war Tante Wine ganz aders, die konnte gar nicht nachträglich sein, die verzieh alles sofort, nur wußte Klein-Elsbeth auch heute, daß sie, bevor Tante Wine sie tröstete und beruhigte, ihre Untat erzählen mußte, und ihre heutige Unart konnte sie auch ruhig erzählen, ohne sich irgendwie schämen zu müssen, denn sie selbst konnte doch nichts dafür, daß ihre Lieblingspuppe so unartig war, die Medizin nicht einnehmen zu wollen, die sie ihr verordnete, weil die einen schrecklich verdorbenen Magen und einen fürchterlichen Durchfall hatte. Aber so gut sie auch ihr zuredete, die Puppe hatte die Medizin, ein Stück Zucker mit Hoffmannstropfen, nicht genommen und darüber war sie selbst so böse geworden, daß sie, wenn auch schweren Herzens, beschlossen hatte, der Puppe ein paar Klapse hinten vor zu geben. Aber nein, hinten vor ging es nicht, denn gerade da war ihr Liebling ja krank, aber Klapse hatte die verdient und so gab sie der denn ein paar leichte Schläge an die Ohren und weil das auf die Puppe gar keinen Eindruck zu machen schien, weil die nicht erklärte, artig zu sein und die Medizin nun endlich einnehmen zu wollen, da schlug sie die immer weiter und hätte die sicher entzwei geschlagen, wenn die Mutter nicht dazwischen gekommen wäre, sie augescholten und ihr selbst ein paar gehörige Klapse auf ihre unartigen Finger gegeben hätte. Und was das Schlimmste war, die Mutter hatte ihr erklärt, sie dürfe erst dann wieder mit ihren Puppen spielen, wenn sie ihre Heftigkeit eingesehen und die bereut hätte.

Aber was hieß eigentlich bereuen? Darüber war Klein-Elsbeth sich nicht im klaren und um das allein zu wissen, war sie nach ihrer Ansicht auch noch zu jung, darüber mußte man sie erst aufklären und das sollte Tante Wine tun. Das war heute eigentlich der Hauptgrund, weshalb sie weinend und schluchzend bei der gute Tante Wine Zuflucht suchte und als es der dann endlich gelungen war, ihre Tränen zu trocknen, da fragte sie denn auch gleich: „Sag' mal, Tante Wine, wie macht man denn das, wenn man bereut und was heißt bereuen, was soll ich darunter verstehen?”

Tante Malwine, eine alte Dame von mehr als sechzig Jahren, der man es aber auch heute noch trotz der vielen Falten unter den Augen, trotz ihrer spitzen Nase und dem im Laufe der Jahre dürftig gewordenen Haarwuchs ansah, daß sie in ihrer Jugend einmal sehr schön gewesen sein mußte, blickte mit ihren dunkelblauen Augen auf Klein-Elsbeth, die sich zärtlich an sie schmiegte, dann meinte sie mit ihrer gütigen weichen Stimme: „Für eine solche Frage, Elsbeth, bist du eigentlich doch schon zu alt und die Antwort darauf müßte dir schon längst geläufig sein, aber damit du es dir nun endlich merkst und es hoffentlich auch nie wieder vergißt, will ich es dir sagen. Unter dem Bereuen versteht man zunächst, es einzusehen, daß man unrecht handelte, dann aber, wenn man das eingesehen hat, muß man sich darüber die heftigsten Vorwürfe machen. Man muß sich selbst ausschelten, soviel man sich nur schelten kann, und man muß sich fest vornehmen, ein ähnliches Unrecht, wie man es das eine Mal begangen hat, nie nie wieder zu begehen, um weder sich noch andere dadurch zu betrüben.” Und nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: „Und dann merke dir noch eins, Klein-Elsbeth, je aufrichtiger und je größer deine Reue ist, desto eher verzeiht der liebe Gott uns das, was wir taten. Wir selbst aber dürfen es uns trotzdem nie verzeihen, das schon deshalb nicht, weil wir selbst dadurch, daß wir es bereuen, etwas einmal Geschehenes nie wieder ungeschehen machen, weil jede, aber auch jede Reue zu spät kommt. Hast du mich verstanden, mein liebes Kind, und habe ich mich so klar und deutlich ausgedrückt, daß du nun Bescheid weißt, Elsbeth?”

Die schlang zärtlich die Arme um den Hals der alten Dame und schmiegte sich noch zärtlicher an sie: „Ja, Tante Wine, nun weiß ich es, ich will auch nie wieder etwas Unrechtes tun, nur eins mußt du mir noch sagen, Tante Wine, bist du in deinem Leben auch manchmal unartig gewesen und hast du auch manchmal etwas getan, was du hinterher bereuen mußtest?”

Ohne daß Klein-Elsbeth es bemerkte, zog ein Ausdruck des Leides und des Kummers über Tante Malwines Gesicht, dann meinte sie: „Ob auch ich, Klein-Elsbeth, manchmal unartig war? Ob auch ich zuweilen Unrecht tat? Das tat ich sicher, Klein-Elsbeth, wenn ich mich auf die Einzelheiten natürlich auch nicht mehr besinnen kann, denn dafür liegt alles zu weit zurück. Aber das weiß ich doch, daß ich manchmal etwas zu bereuen hatte, und ich weiß aus eigener Erfahrung, wie weh es tut, etwas bereuen zu müssen.”

Und aufgeweckt und hervorgerufen durch Klein-Elsbeths Frage, ob auch sie jemals in ihrem Leben etwas getan habe, was sie hinterher bereuen mußte, zogen, als sie nach einer kleinen Stunde wieder allein waren, auch heute wie schon so oft die Erinnerungen an ihr vorbei.

Sie sah sich als achtzehnjähriges junges Mädchen auf dem ersten großen Ball, den sie mitmachte. Getanzt hatte sie vorher auf vielen kleinen Gesellschaften natürlich schon oft, aber dieser war der erste wirkliche große Ball, den der in ihrer Stadt ebenfalls wohnende Oberpräsident der Provinz gab und zu dem viele hundert Einladungen ergangen waren. Wochenlang hatte sie sich auf diesen Abend gefreut und als der dann anbrach, da brachte der ihr eine ganz große unverhoffte Freude, denn da legte ihr Vater, der so reich war, daß er ihr solche Geschenke machen konnte, eine sehr schöne Perlenkette um ihren entblößten Hals, so daß sie zuerst ganz sprachlos war, denn sie hatte nicht die leiseste Ahnung davon gehabt, daß der Vater es beabsichtigte, ihr Perlen zu schenken. Ach und die Kette war einfach zu schön, natürlich nicht protzenhaft kostbar, sondern fein und vornehm und auch nicht zu lang und zu kostbar, sondern gerade so, wie es sich für ein junges Mädchen schickte. Und als sie sich dann mit der Kette um den Hals in dem Spiegel sah, da sah sie noch viel viel hübscher aus, als sie das vorher schon war, und sie fand sich nicht aus irgendwelcher dummen Eitelkeit heraus hübsch, sondern sie tat es, weil sie wußte, daß sie es war. Sie hatte eine mehr als mittelgroße schlanke geschmeidige Figur, wundervolle dunkelblaue Augen, dunkelbraunes Haar, einen frischen rosa Teint und einen entzückenden Mund. Ja, sie wußte, daß sie hübsch war, sie sah es täglich im Spiegel und fast täglich hörte sie es aus dem Munde anderer Leute. Und mit der Perlenkette um den Hals, hoffte sie nun am Abend ganz besonders durch ihre Erscheinung aufzufallen. Aber als sie dann auf dem Ball war, mußte sie erkennen, daß die Herren ihr nur in das hübsche Gesicht sahen, daß die für ihre Perlenkette wenig oder gar kein Interesse oder Verständnis hatten und bei einem der Herren, einem frischen jungen Husarenleutnant von etwa fünfundzwanzig Jahren, in silbergestickter Attila, der mit seinen übermütigen lachenden Augen so fröhlich in die Welt blickte, schien das erst recht der Fall zu sein, als der in dem dichten Gewühl der vielen Eingeladenen plötzlich vor ihr auftauchte. Doch er bemerkte anscheinend gar nicht, daß sie auch einen Hals, einen schönen Nacken und eine hübsche Figur hatte, der starrte ihr nur in das Gesicht, das aber mit großen, vor Erstaunen und vor Bewunderung weit aufgerissenen Augen, und dann entrang sich seinen Lippen plötzlich ein halblautes: „Donnerwetter noch mal !”

Das hatte er nicht sagen wollen, das merkte sie daran, daß er sich schnell mit der Hand nach dem Mund fuhr, als wolle er das ihm entschlüpfte Wort wieder auffangen oder es wenigstens zurückhalten, bevor es den Weg zu ihren Ohren gefunden hätte. Aber dafür war es zu spät, sie hatte den Ausruf schon vernommen und wurde darüber rot und verlegen. Eigentlich wollte sie ihm auch ein klein wenig zürnen, denn was dann, wenn auch andere durch einen unglücklichen Zufall seine Worte gehört und über ihn und über sie gelacht hätten? Aber ihm zu zürnen, brachte sie nicht fertig, dafür war er viel zu hübsch und plötzlich sah er sie auch so drollig an, daß sie beinahe laut aufgelacht hätte. Aber das tat sie wirklich auch nur beinahe, wohl aber mußte sie nun unwillkürlich lächeln, obgleich sie auch das nur ungern tat, denn sie wußte, wie entzückend ihr gerade jenes Lächeln stand, bei dem zwei winzig kleine Grübchen auf ihren Wangen sichtbar wurden. Er aber sollte sie nicht noch hübscher finden, als er das ohnehin schon tat, und erst recht sollte er nicht zum zweiten Mal drauflos donnerwettern. Aber das hätte er, als er sie lächeln sah, nun doch beinahe wieder getan, das merkte sie daran, wie er von neuem blitzschnell mit der Hand an den Mund fuhr und dieses Mal gelang es ihm auch noch rechtzeitig, die Worte zurückzuhalten. Aber wenn sein Mund die auch verschwieg, seine Augen verrieten ihr die umso deutlicher, bis er nun schnell an sie herantrat, um sie anzusprechen: „Ich würde in des Wortes schönster Bedeutung glücklich sein, gnädiges Fräulein, wenn ich mich Ihnen selbst vorstellen dürfte. Das darf ich aber leider nicht, das würde gegen die gute Sitte verstoßen, es bleibt also nur eins, ich muß mich Ihnen baldigst vorstellen lassen und da möchte ich Sie fragen, gnädiges Fräulein, wissen Sie nicht zufällig, ob wir hier auf dem Ball unter den vielen Menschen nicht wenigstens einen gemeinsamen Bekannten haben, der mich Ihnen vorstellen könnte? Vielleicht denken Sie einmal einen Augenblick nach, gnädiges Fräulein, ob Sie nicht jemanden wissen, der den Husarenleutnant Viktor von Hohenstein kennt, der sechsundzwanzig Jahre alt ist, sich der besten Gesundheit erfreut, der in ziemlich geregelten Verhältnissen lebt und der in der allernächsten Zeit für einige Monate hierher in die Garnison kommandiert wird, um den Offizieren des Infanterie­regiments den Winter hindurch Reitunterricht zu erteilen. Sagen Sie, bitte, gnädiges Fräulein, haben wir nicht irgend einen gemeinsamen Bekannten, der weder hübsch noch jung zu sein braucht, der Ihnen diesen Husarenleutnant in meiner Person vorstellen könnte?”

Das alles klang so frisch und übermütig und dabei doch so bescheiden, daß sie ihm belustigt zuhörte, obgleich eine ganz kleine Unruhe in ihr wach werden wollte, als er ihr davon sprach, er werde schon in der allernächsten Zeit für ein paar Monate hierher kommandiert werden. Und es machte sie auch etwas verwirrt und verlegen, daß er ihr erzählte, er lebe in leidlich geregelten finanziellen Verhältnissen Was ging das sie an? Hatte er das nur im Scherz gesagt, um seine Person näher zu charakterisieren, oder sagte er das absichtlich, weil er den ernstlichen Wunsch hatte, sie näher kennenzulernen und weil er es da als anständiger Mensch für seine Pflicht hielt, ihr gleich zu erklären, daß er nicht reich sei? Warum hatte er nur gleich seine finanzielle Lage erwähnt, wenn auch das ja nur in lachender Weise? Aber er hätte das überhaupt nicht tun dürfen, es kam ihr so vor, als sei dadurch diesem Einander-kennenlernen in gewisser Hinsicht etwas der Reiz genommen und deshalb wollte sie ihn auch gar nicht näher kennenlernen. Selbst wenn sie einen gemeinsamen Bekannten gewußt hätte, sie würde sich nicht an den gewandt haben, so sehr ärgerte sie sich nun plötzlich über ihn. Und dieser ihr Ärger mußte sich in ihren Mienen ausdrücken, denn er rief ihr fröhlich zu: „Ja, ja, gnädiges Fräulein, das Nachdenken ist immer 'ne verflucht langweilige und anstrengende Geschichte, besonders wenn, wie in diesem Falle bei Ihnen, dabei nichts herauszukommen scheint. Aber darüber würde ich mich an Ihrer Stelle nicht einen Augenblick ärgern, wenngleich ich es Ihnen von meinem Standpunkt aus natürlich vollständig nachfühle, daß es Ihnen Spaß machen würde, diesen Leutnant von Hohenstein in mir kennenzulernen, besonders weil ich glaube, behaupten zu können, daß dieser Leutnant ein netter Kerl ist, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß andere nicht noch viel netter sein können. In einer Hinsicht aber nimmt mein bester Freud Viktor von Hohenstein es mit jedem auf, gnädiges Fräulein, das ist das Tanzen, und wenn Sie den ersten Walzer noch nicht vergeben haben, gnädiges Fräulein, dann flehe ich Sie bei allen Göttern Griechenlands an, tanzen Sie den mit mir, seien Sie lieb und sagen Sie das eine Wort „ja”.”

Und sie sagte ja, obgleich sie sich ganz fest vorgenommen hatte, nein zu sagen, aber seine Stimme und seine Augen baten so beredt und außerdem mußte sie sich doch davon überzeugen, ob er wirklich ein so guter Tänzer sei, wie er es von sich behauptete. So sagte sie ja und als sie das getan hatte, strahlte er über das ganze Gesicht, bis er sie bat: „Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, gnädiges Fräulein, mich zu Ihren Herren Eltern zu führen, damit ich mich denen vorstelle und damit ich bei denen in aller Form um den ersten Walzer Hand in Hand mit Ihnen anhalten kann? Und wenn Ihre Eltern Sie fragen sollten, woher Sie mich denn schon kennen, dann werde ich denen eine kleine Geschichte erzählen, denn von dem Donnerwetter, das bei Ihrem Anblick dem Gehege meiner Zähne entschlüpfte, brauchen Ihre Eltern hoffentlich nichts zu wissen, das bleibt wohl unser Geheimnis?”

Auch da stimmte sie ihm bei, obgleich sie es sehr unrecht fand, mit ihm, dem ihr doch fast noch ganz Fremden, vor den Eltern ein Geheimnis zu haben, aber sie fühlte es ihm nach, daß es ihn verlegen machen müsse, wenn sie seine Donnerwetterworte weitererzählte. So machte sie sich denn mit ihm auf den Weg zu ihren Eltern und als sie die nach langem Suchen gefunden hatte, erzählte der hübsche Leutnant auch gleich, wie er sie kennengelernt hätte. Er habe es zufällig bemerkt, daß das Schloß ihrer Perlenkette nicht ganz fest zugewesen sei, so daß für sie die Gefahr bestanden habe, die sicher sehr wertvolle Kette zu verlieren, und um sie davor zu bewahren, habe er sich erlaubt, sie darauf aufmerksam zu machen, und sie selbst wäre so liebenswürdig gewesen, ihm dafür in so herzlicher Weise zu danken, daß er sich gegen diesen unverdienten Dank hätte verteidigen müssen. Ein Wort habe das andere gegeben, aus den Worten habe sich eine kleine Unterhaltung entwickelt und nun stände er hier und sei glücklich, daß er den Vorzug habe, ihren Eltern vorgestellt zu werden.

Das alles klang so natürlich und so wahr, daß ihre Eltern an dem, was er ihnen erzählte, nicht einen Augenblick zweifeln konnten, ja, daß die sich bei ihm dafür bedankten, daß er sie, ihr Kind, vor dem Verlust der Kette schützte. Aber während die Eltern den hübschen Offizier nun ihrerseits in ein Gespräch verwickelten, dachte sie selbst fortwährend: wie kann ein hübscher, ein so liebenswürdiger und ein so netter Mensch nur so fürchterlich lügen? Gewiß, iregnd eine kleine Geschihcte hatte er sich ja erfinden müssen, aber warum erfand er sich gerade das mit der Perlenkette? War ihm die vielleicht als Erstes an ihr aufgefallen und hatte sein „Donnerwetter noch mal” mehr ihren Perlen als ihrer Schönheit gegolten? Aber nein, sein Ausruf galt nur ihr und ihrer Schönheit. Und der letzte Rest des kleinen Argwohns, den sie noch gegen ihn hegte, schwand dahin, als sie bald darauf mit ihm den ersten Walzer tanzte, denn nur ein guter Mensch konnte nach ihrer ehrlichsten Überzeugung einen so himmlischen Walzer tanzen, wie er es tat. Was waren alle die vielen Walzer, die sie bisher in ihrem Leben schon tanzte, gegen diesen ersten Walzer mit ihm? Er tanzte ganz einfach wie ein junger Gott und die Bewunderung, die sie ihm zollte, mußte sich in ihren Mienen ausdrücken, denn während des Tanzes rief er ihr übermütig zu: „Nicht wahr, gnädiges Fräulein, das hätten Sie denn doch nicht von mir gedacht? Aber wenn dieser erste Walzer, der sich nun leider seinem Ende nähert, Ihnen gefallen haben sollte, dann bitte ich um die Ehre und um das Vergnügen, im weiteren Verlauf des Abends noch mehrere Walzer mit Ihnen tanzen zu dürfen, denn daß auch Sie eine glänzende Tänzerin sind, das brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen, das wissen Sie sicher selbst.”

Ja, das wußte sie und das hatte ihr auf den Tanzgesellschaften, an denen sie bisher teilnahm, schon mancher Herr gesagt. Aber das waren doch eigentlich immer nur junge Herren gewesen, die in der Tanzkunst selbst noch viel lernen mußten. Er aber, der hübsche Husarenleutnant, war ein Meister des Tanzes und deshalb machten sie das Lob und die Anerkennung aus seinem Munde ganz besonders stolz und glücklich. Und wenn er sie schon jetzt lobte, wie würde er das erst im weiteren Verlauf des Abends tun, wenn sie sich noch besser mit ihm eingetanzt hatte. So versprach sie ihm denn gern, ihm noch ein paar Tänze aufzuheben, aber das schien ihm nicht genug zu sein, denn er forderte sie auch noch zu mancher Extratour auf und wich auch sonst kaum von ihrer Seite. Und als dann in später Stunde der Sturm auf die Büffets begann, da bat er um die Erlaubnis, sie verproviantieren zu dürfen, wie er das nannte, und er verproviantierte sie gradezu glänzend. Es war unheimlich, was er alles für sie herbeischleppte, und während die anderen froh waren, wenn sie bei dem Gedränge ein Glas Sekt erlangten, hatte er für sie beide eine ganze Flasche erkämpft und meinte übermütig: „Für alle Fälle habe ich für uns gleich noch eine zweite Flasche beiseite geschafft. Die habe ich so gut versteckt, daß selbst ein preisgekrönter Einbrecher die nicht finden würde und wenn er dafür, daß er sie nicht findet, zehn Jahre Gefängnis extra bekäme. Also stoßen wir an, gnädiges Fräulein, trinken wir, seien wir fröhlich und lassen wir uns zusammen in Gedanken das schöne Lied singen: Freuet Euch des Lebens!”

Und sie freute sich ihres jungen Lebens an seiner Seite, wie sie sich ihres Lebens bisher kaum gefreut hatte, und als sie dann nach Schluß des Balles zu Hause in ihrem weichen Bett lag, da wußte sie mit einem Mal auch, warum ihr das Leben noch nie so schön vorgekommen war wie heute: weil sie den hübschen jungen Leutnant liebte. Nein, lieben tat sie ihn nicht, denn dafür kannte sie ihn noch zu wenig, wohl aber war sie schon etwas in ihn verliebt und eigentlich durfte sie auch das noch nicht sein, denn was solle daraus werden, wenn der hübsche Leutnant sie wiederliebte, wie es beinahe den Anschein hatte, denn bei dem Abschied hatte er ihr erklärt, er habe das Kommando, das ihn in der allernächsten Zeit hierher führe, bis zum heutigen Tage verwünscht und verflucht, nun aber, seitdem er sie kennengelernt habe, käme er mit tausend Freuden und sei mehr als glücklich, daß ihre Eltern ihn schon heute in liebenswürdiger Weise aufgefordert hätten, in ihrem gastfreien Hause zu verkehren.

Ja, er schien tatsächlich schon in sie verliebt zu sein und wenn sie sich darüber auch sehr freute, daß er ihre Zuneigung, die sie fast wider ihren Willen schon jetzt für ihn hegte, erwiderte, so hatte sie dennoch beinahe Furcht, daß daraus eine ernstliche Liebe werden könne, die womöglich gar mit einer Heirat endete, denn ernstlich wollte sie sich noch nicht verlieben, dafür war sie noch zu jung und das Heiraten hatte ja auch noch viel Zeit.

Sie lag an dem Abend nach dem Ball noch lange, lange wach und sann vor sich hin und schlief endlich mit dem festen Vorsatz ein, sich unter keinen Umständen ernstlich in den hübschen Husarenleutnant, so nett und so lustig der auch sei, verlieben zu wollen, aber sie träumte trotzdem die ganze Nacht von ihm und als sie am nächsten Morgen erwachte, war er ihr erster Gedanke und sie freute sich darüber, daß er gerade Viktor hieß, denn den Namen hatte sie immer besonders hübsch gefunden. Sie dachte an den hübschen Husarenleutnant, als sie am Morgen nach dem Ball erwachte, und sie mußte im Laufe des Tages noch oft an ihn denken, schon weil ihre Eltern soviel von ihm sprachen. Auf die mußte er einen ganz besonders guten Eindruck gemacht haben, denn sie merkte es ihren Eltern deutlich an, wie die sich schon heute darauf freuten, ihn während seines hiesigen Kommandos oft bei sich zu sehen, sie freuten sich so sehr, daß der Vater sogar erklärte: „Ich weiß selbst nicht, was mich für diesen jungen hübschen Leutnant so eingenommen hat, aber ich habe ihn im ersten Augenblick, als er mir gegenüber stand, lieb gewonnen und da die Götter mir selbst einen Sohn versagt haben, möchte ich wohl, der wäre mein Sohn geworden.”

Gott sei Dank setzte der Vater nicht hinzu: ich möchte, daß er als mein Schwiegersohn noch mein Sohn würde. Und vielleicht dachte der im stillen auch gar nicht an so etwas, aber sie selbst dachte, daß ein solcher heimlicher Wunsch noch nachträglich, wenn auch erst im Laufe der Zeit, in dem Vater wach werden könne und wenn sie dem ja auch gern jeden Gefallen tat, nein, ernstlich verlieben wollte sie sich in den hübschen Leutnant nicht und heiraten wollte sie ihn erst recht nicht, das hatte sie sich gestern abend fest vorgenommen und dabei mußte es bleiben. Aber daß es nicht dabei blieb, das sah sie nur zu bald ein, als er sein Kommando angetreten hatte und ein häufiger Gast im Hause ihrer Eltern geworden war. Da merkte sie sehr bald, daß sie nicht nur in ihn verliebt war, sondern daß sie im Begriff stand, ihn sehr ernstlich zu lieben, und dabei legte er es nicht einmal besonders darauf an, ihre Liebe zu gewinnen. Er machte ihr nicht nach Leutnantsart auf Teufelsholen den Hof, er sagte ihr keine Komplimente, er erniedrigte sich nicht soweit, daß er selbst ihre gelegentlichen kleinen Launen und Unarten ruhig hingenommen hätte, ja, er war sogar einmal ganz gelassen wieder fortgegangen, als er bemerkt zu haben glaubte, daß ihr sein Besuch nicht willkommen sei. Er tat eigentlich gar nichts, um ihr besonders zu gefallen, und gerade das gefiel ihr an ihm. Er gab sich stets so, wie sie ihn am ersten Abend kennen gelernt hatte, frisch, natürlich, zuweilen etwas übermütig und manchmal in seinen Redensarten auch wohl ein ganz klein wenig schnodderig, aber immer amüsant und lustig. Und dabei war er auch nicht dumm, er hatte, wie ihr Vater es oft anerkannte, über viele Dinge für einen Leutnant merkwürdig vernünftige Ansichten, er hatte manches gute Buch gelesen und das, was er las, auch geistig verarbeitet, „denn,” so pflegte er zu sagen, „wenn man während des Dienstes nur an den Dienst denkt und wenn man sich nur darüber den Kopf zerbricht, wer von den Husarenjacken als erster vom Gaul herunterfallen wird, da muß man ja blödsinnig werden und das zu werden, verspüre ich nicht die leiseste Neigung.”

Ach ja, sehr bald liebte sie ihn und fragte sich immer wieder, ob er sie wohl auch wirklich liebe. Daß sie ihm gefiel, merkte sie ihm immer aufs neue an, aber ob er sie auch liebte? Aber was dann, wenn er sie liebte wie sie ihn, was sollte daraus werden? Wirklich schon eine Ehe? Darauf gab sie sich zwar selbst ein „nein, niemals” zur Antwort, aber sie glaubte nicht an dieses Nein und sie wußte sehr genau, daß sie seinen Antrag, den sie täglich erwartete, mit tausend Freuden annehmen würde.

Aber dann kam der Tag, an dem ihre Liebe zu ihm beinahe einen furchtbaren Stoß erhielt, da erschienen die Freundinnen, die schon längst eifersüchtig darauf waren, daß er als der einzige Kavallerieoffizier in der Stadt sie vor allen so auszeichnete, um ihr zu erzählen, daß man endlich, endlich dahinter gekommen sei, was es mit dem Leutnant Viktor von Hohenstein für eine Bewandtnis habe. Durch einen Zufall sei alles herausgekommen, dieses Kommando hier sei für ihn keine Auszeichnung, sondern eine Strafe, ihm sei diese Luftveränderung befohlen worden, weil er es in seiner Garnison, in die er wahrscheinlich gar nicht zurückkehren werde, zu arg getrieben habe. Weibergeschichten spielten da mit und auch viele, viele Schulden. Alle Einzelheiten hätte man natürlich nicht erfahren, aber wahr sei es trotzdem, und Schulden solle er haben, daß er sogar auf seine beiden Pferde hätte Hypotheken aufnehmen müssen, wie andere Leute auf ihre Häuser.

Nur zu deutlich hörte sie den Freundinnen an, wie froh und glücklich die waren, ihr diesen Klatsch erzählen zu können, denn daß es Klatsch, weiter nichts als Klatsch sei, das stand sofort bei ihr fest. Hatte er ihr nicht selbst erzählt, er lebe in leidlich geregelten Verhältnissen? Jetzt freute sie sich darüber, daß er ihr das sagte, da wußte sie am besten, wie wenig sie von dem Gerede zu halten brauche. Natürlich, ein paar Schulden würde auch er haben, dafür war er ja ein junger Leutnant und ihr Vater war glücklicherweise reich genug, um diese seine Schulden bezahlen und um ihr, seinem einzigen Kinde, eine große Mitgift auszahlen zu können. Und was die Weibergeschichten betraf, so waren auch die entweder nicht wahr, oder wenigstens stark übertrieben, obgleich sie sich natürlich schon manchesmal in stillen Stunden eingestanden hatte, daß sie nicht die erste sein würde, die er küßte, und daß sie nicht die erste wäre, die ihn küßte. Aber wenn dann auch ein gewisses Gefühl der Eifersucht auf die anderen in ihr wach geworden war, gar so schlimm war es mit der nicht gewesen, denn auch dafür daß er in dieser Hinsicht sein Leben genoß, war er ein junger hübscher Leutnant. So regte sie sich über das, was die Freundinnen ihr erzählten, nicht sonderlich auf, ja, das ließ sie sogar beinahe ganz kalt, denn sie liebte ihren Viktor doch und weil sie ihn liebte, glaubte sie mehr an ihn, als an das, was die Menschen über ihn redeten. Sie blieb, solange die Freundinnen bei ihr waren, vollständig ruhig, aber auch als sie wieder allein war, bekümmerte sie sich nicht allzu sehr, denn von dem, was sie erfahren hatte, würde höchstens, aber auch allerhöchstens nur die Hälfte wahr sein. Dann aber drängte sich ihr doch die bange Frage auf: „Was dann, wenn alles wahr sein sollte?” Darauf fand sie vorläufig keine Antwort und mit der eilte es ja auch nicht, erst mußte sie wissen, wie die Sachen in Wirklichkeit lagen. Aber daß da tatsächlich manches nicht zu stimmen schien, merkte sie am Abend ihrem Vater an, als der aus der Stadt nach Hause kam. Auch der hatte von den Gerüchten gehört, die plötzlich über den Husarenleutnant verbreitet wurden, und was der da erfuhr, ging ihm nahe, als handle es sich um die Ehre und um den Ruf seines eigenen Sohnes. Er war aufrichtig betrübt und er wartete von Minute zu Minute darauf, daß sein Schützling gleich heute abend zu ihm käme, um sich gegen diese Verdächtigungen zu verteidigen. Aber der Leutnant kam nicht, auch am nächsten Tage ließ er sich nicht sehen und da schrieb ihm der Vater und bat ihn um seinen Besuch und um ihm den zu erleichtern, erwähnte er, daß er gern bereit sein würde, ihm bei der Regulierung seiner finanziellen Lage behilflich zu sein. Aber wenige Stunden später, nachdem der Vater seinen Brief abgesandt hatte, erhielt er ein Telegramm, das ihn in einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit zwang, sofort zu verreisen. Die Abreise erfolgte so Hals über Kopf, daß er ganz vergaß, seinen Schützling zu bitten, seinen Besuch bis zu seiner Rückkehr zu verschieben und da die Mutter am nächsten Nachmittag in einem Wohltätigkeitsverein eine Sitzung hatte, kam es, daß sie ganz allein zu Hause war, als der Diener ihr den Besuch des Herrn Leutnants meldete.

Viktor von Hohenstein war da und ließ sie bitten, ihn zu empfangen, denn der Diener hatte, wie er berichtete, dem Besucher erklärt, daß nur sie anwesend sei und da hatte er darum gebeten, sie trotzdem sprechen zu dürfen. Nun stand er draußen und wartete auf ihren Bescheid und wenn sie sich auch noch so sehr danach sehnte, ihn wiederzusehen, sie wußte dennoch nicht, ob sie ihn annehmen durfte. Was dann, wenn er vielleicht das Alleinsein mit ihr benutzte, um ihr seine Liebe zu gestehen und um sich mit ihr zu verloben, bevor ihr Vater mit ihm hätte sprechen können? Aber nein, zu einer Verlobung durfte und würde es heute noch nicht kommen. Und bevor es überhaupt zu der kam, mußte sie erst wissen, wie es um ihn stand. Und das sollte er ihr sagen, nur ihr, ihr zuerst, nicht dem Vater, der ihr später auf ihre Fragen hin doch sicher manches aus Liebe zu ihr verheimlichen würde. Und das durfte nicht sein, denn sie wollte alles, alles wissen, schon um ihm alles verzeihen zu können.

So gab sie dem Diener den Auftrag, den Besucher vorzulassen, und eine Minute später stand der ihr gegenüber, anscheinend ein ganz klein wenig befangen, aber sonst ganz so frisch und lebenslustig wie immer, so daß sie sich gleich sagte: es ist alles, alles erlogen, denn sonst könnte er dir nicht so offen und frei in die Augen sehen, und wenn er etwas verlegen ist, kommt das sicher nur daher, weil er befürchtet, auch du könntest etwas von den häßlichen Geschichten erfahren haben, die man sich über ihn erzählt. Und daß er ein ganz gutes Gewissen haben mußte, bewies er ihr nach ihrer Ansicht auch dadurch, daß er nach den ersten Worten der gegenseitigen Begrüßung und nachdem sie ihm die Abwesenheit der Eltern erklärt hatte, gleich von selbst damit anfing, was man über ihn spräche, zu erwähnen: „Sicher werden auch Sie schon etwas davon erfahren haben, gnädiges Fräulein, aber die guten Leute machen es in diesem Falle wie immer, sie übertreiben maßlos. Aus einer winzigen Mücke machen sie einen Riesenelefanten. Selbstverständlich will ich damit nicht behaupten, daß alles, was die Leute reden, ganz glatt erfunden wäre, ich leugne es keineswegs, daß ich nicht immer ein Tugendbold gewesen bin, aber ich bin auch nicht dazu erzogen worden, um als ein sich kasteiender Mönch durch die Welt zu wandern.”

In diesem Sinne sprach er im leichten Plauderton noch eine ganze Weile auf sie ein und alles, was er da sagte, erfüllte ihr Herz mit grenzenlosem Glück, denn sie liebte ihn doch über alles. Aber gerade weil sie das tat, durfte er ihr nichts, auch nicht das Geringste verschweigen, schon damit sie ihm alles verzeihen konnte, und deshalb meinte sie, als er nun schwieg: „Ich glaube Ihnen, Herr von Hohenstein, aber trotzdem bitte ich Sie, so wahr und ehrlich gegen mich zu sein, wie Sie es nur immer sein können. Sagen Sie mir die vollste, die lauterste Wahrheit. Was ist an den Gerüchten, die man über Sie verbreitet?”

So sprach sie, aber während sie sprach, sah sie, wie er immer mehr und mehr erblaßte, bis er ihr nun mit einem ganz verzweifelten Ausdruck in den sonst so lustigen übermütigen Augen gegenüber saß. Da mußte sie an sich halten, um nicht einen Schrei auszustoßen, denn da wußte sie, die Leute hatten recht mit dem, was sie sich über ihn erzählten. Und daß sie selbst sich da nicht irrte, bewies er ihr, als er sie fragte: „Wollen Sie wirklich alles wissen, gnädiges Fräulein, alles, alles, alles? Wenn Sie es verlangen, muß ich ja gerade Ihnen gegenüber wahr sein, denn ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, wie sehr ich Sie liebe. Wie sehr, das fühle ich selbst erst in diesem Augenblick, in dem ich fürchte, Sie für immer zu verlieren, noch bevor ich Sie für immer gewann. Aber ich weiß, gnädiges Fräulein, daß ich nicht nur Sie liebe, sondern ich glaube auch zu wissen, daß Sie mich wiederlieben, und darum beschwöre ich Sie, auch in Ihrem Interesse, bestehen Sie nicht darauf, daß ich Ihre Frage beantworte. Ihr Herr Vater hat mir geschrieben. Lassen Sie es genug sein, wenn ich zu dem spreche. Ihr Herr Vater mag dann entscheiden, ob ich um Ihre Hand anhalten darf. Warum wollen Sie denn nur selbst alles aus meinem Munde wissen?”

„Um Ihnen vielleicht alles verzeihen zu können, Herr von Hohenstein,” gab sie zur Antwort, aber kaum hatte sie die gegeben, da erschrak sie auf den Tod. Wie hatte ihr nur das Wort „vielleicht” über die Lippen kommen können? Liebte sie ihn denn nicht über alles und hatte sie nicht noch vor wenigen Minuten im stillen seine Beichte nur deshalb verlangt, um ihm alles, alles vergeben zu können? Und nun wollte sie mit einem Mal das nur vielleicht tun? Ach hätte sie doch das ganz unüberlegte Wort nur zurücknehmen können, doch dafür war es jetzt zu spät, es blieb nur die Hoffnung, daß er es nicht hörte, oder daß er es nicht falsch deutete.

Er aber deutete es nicht nur so, wie sie es befürchtet hatte, sondern sogar noch schlimmer, denn mit verzweifelter Stimme rief er ihr zu: „Mit dem Wort „vielleicht”, gnädiges Fräulein, haben Sie schon gerichtet, bevor Sie mich nur anhörten, da haben Sie schon den Stab über mich gebrochen,” und noch einmal bat er: „Muß ich wirklich alles sagen? Muß ich es selbst auf die Gefahr hin, daß Sie, gnädiges Fräulein, es später bereuen werden, mich zum Sprechen gezwungen zu haben?” Und mit erhobener Stimme setzte er hinzu: „Sie werden es bereuen, gnädiges Fräulein, so wahr und so bestimmt, wie ich Ihnen gegenüber sitze.”

Da bekam sie es mit der Angst, denn bereuen wollte sie in ihrem ganzen Leben nichts, sie ebenso wenig wie ihre Freundinnen, mit denen sie sich letzthin mal über diesen Punkt unterhielt, als das Gespräch auf eine gemeinsame Bekannte, die Clara, kam. Die hatte irgend eine Dummheit begangen, über die sie sich in keiner Weise äußerte. Was vorlag, wußte keine, nur soviel wußten sie alle, die Clara saß zu Hause und bereute und hatte sich dahin geäußert, Zahnschmerzen haben wäre schon gemein, aber Reue zu empfinden, sei das Gemeinste, was es auf der ganzen Welt gibt. Und es mußte wirklich das Allergemeinste sein, was es gab, das sah man der Clara direkt an. Die hatte tiefe schwarze Ränder unter den Augen, die bekam eine ganz lange spitze Nase und eine hatte gehört, der Clara sollten auch die Haare ausgehen. Und die Clara hatte auf das Bestimmteste erklärt, daß sie so häßlich würde und daß ihr soviele Haare ausgingen, käme nur von der Reue.

Das alles fiel ihr glücklicherweise wieder ein, als der hübsche Leutnant sie darauf aufmerksam machte, daß sie es später bereuen würde, wenn sie darauf bestände, daß er ihr alles erzähle, und es lag ihr auf der Zunge, ihm zuzurufen: Dann sprechen Sie lieber nur mit meinem guten Papa. Ja, das war wohl das Richtigste, denn daß auch sie später oder vielleicht in den allernächsten Tagen von der Reue häßlich werden würde, dafür bedankte sie sich bestens, das waren seine ganzen Schulden und seine sonstigen Sünden nicht wert. Aber dann wurde mit einemmal ihre Neugierde riesengroß und ihr war, als sei die noch viel riesengrößer, als es der Riesenelefant sein mochte, von dem er vorhin sprach. Warum weigerte er sich denn nur so, die volle Wahrheit zu gestehen? Totensicher hatte er bei den Mädchengeschichten allerlei begangen, was sich für sie nicht anzuhören schickte. Vielleicht erwies er sich bei seinem Geständnis als ein ganz gefährlicher Don Juan, der Gott weiß was für Sachen auf dem Gewissen hatte. Allerdings, aussehen tat er eigentlich nicht danach, aber irgend etwas Interessantes, Pikantes und Amüsantes hatte er sicher zu beichten und wollte gerade deshalb nicht mit der Sprache heraus. Aber sein Sträuben sollte ihm nichts helfen und wenn das, was sie zu hören bekommen würde, sich vielleicht auch wirklich nicht für ihre Ohren eignen sollte, hören wollte sie es trotzdem, oder gerade deshalb, denn plötzlich war ihre Neugierde beinahe ganz verflogen und dafür sprachen ihre Sinne zu ihr, obgleich sie bisher eigentlich kaum gewußt hatte, daß die auch so zu ihr sprechen konnten, wie sie es jetzt taten. Und wenn sie sich wenigstens nach außen hin ja auch würde schämen müssen, seine Beichte mit anzuhören — war sie nicht seine spätere Frau und war es da nicht beinahe kindisch und lächerlich, wenn sie sich jetzt albern und prüde anstellen würde? Als seine spätere Frau hatte sie ganz einfach das Recht, von ihm zu verlangen, daß er ihr nichts, aber auch gar nichts verschwieg.

So bestand sie denn auf ihrem Willen, nachdem sie sich fest zugeschworen hatte, unter gar keinen Umständen jemals bereuen zu wollen, daß sie ihn zum Sprechen gezwungen habe und da, als er sah, daß sie unerbittlich blieb, fügte er sich endlich in das Unvermeidliche: „Also schön, gnädiges Fräulein, wie Sie befehlen,” gab er zur Antwort. „Ich habe Sie gebeten und ermahnt, auf mich zu hören, da Sie es aber anscheinend nicht wollen oder nach Ihrer Ansicht nicht können, muß ich reden und da ich reden muß, will ich so offen und so wahr gegen Sie sein, wie ich es nur irgend sein kann.”

Und während von neuem ein Sinneskitzel in ihr wach wurde, weil sie sich auf das freute, was sie zu hören bekommen würde, begann er: „Ja, gnädiges Fräulein, es ist so, wie die Leute reden. Ich bin über und über verschuldet, wenn auch nicht gerade bis über beide Ohren, so doch immerhin bis an die Nasenspitze. Bitte erschrecken Sie deswegen nicht, gnädiges Fräulein, wie Sie es eben taten, ich soll doch alles bekennen, das war ihr eigener Wunsch und es kommt noch viel besser. Ihnen die Höhe meiner Schulden zu nennen, hätte keinen Zweck, für Sie wäre die Zahl nur ein leerer Begriff, von dem Sie sich keine klare Vorstellung machen könnten, und ich wäre im Augenblick auch gar nicht in der Lage, Ihnen die Summe gewissenhaft auf Heller und Pfennig anzugeben. Genug, ich sitze verdammt tief drinnen bei meinem Manichäer, so tief, daß er sich das letztemal weigerte, mir zu helfen, als ich Geld brauchte, obgleich der Ehrenmann mir sonst das Zeugnis auszustellen pflegte, er habe noch nie einen so vollendeten Kavalier kennengelernt wie mich, denn ich unterschriebe jeden, aber auch jeden Wechsel, den er mir vorlege, ohne dabei auch nur mit der Wimper zu zucken. Aber trotzdem, das letzte Mal wollte er nicht heran und als ich ihn fragte, was denn nun aus mir und aus ihm werden solle, da doch für ihn alles, was er mir bisher gab, verloren sei, wenn er mich nicht weiter unterstütze, bis es mir gelungen sei, mich so oder so zu rangieren, da erklärte mir der Kerl, er hätte mir schon längst den guten Rat gegeben, mich nach einer reichen Partie umzusehen, und er bestände darauf, daß ich das jetzt sofort täte. Die Gelegenheit dafür wäre besonders günstig. Er habe in den Zeitungen die Nachricht von dem bevorstehenden Ball in dem Hause des Oberpräsidenten unserer Provinz gelesen. Er wisse, daß zu diesem Ball auch Einladungen an die Offizierkorps der verschiedenen Garnisonen geschickt würden, auf diesem Ball träfen die reichsten und die angesehensten Familien der ganzen Provinz zusammen und ich sollte diesen Ball besuchen, mich dort an einen Goldfisch heranmachen und ihm später Bericht erstatten. Er selbst werde sich auf das Genaueste nach den Vermögensverhältnissen meines etwaigen späteren Schwieger­vaters erkundigen und davon, wie diese Auskunft ausfiele, würde es abhängen, ob er seine wohltätige Hand noch einmal oder vielleicht sogar noch ein paarmal für mich öffnen würde. Und ich will Ihnen gleich sagen, gnädiges Fräulein, er wollte sie öffnen, als ich ihm von Ihrem Herrn Vater erzählte. Er stellte mir jeden gewünschten Kredit zur Verfügung, aber ich habe sein Anerbieten abgelehnt. Doch damit greife ich den Dingen vor, erzählen wir also lieber der Reihe nach. Daß ich zu dem Ball hinfuhr, brauche ich ja nicht erst zu erwähnen, höchstens, daß ich mich lange vergebens gegen den Vorschlag meines Manichäers sträubte, weil ich bisher jeden Gedanken daran, mich verheiraten zu sollen, weit von mir gewiesen hatte. Aber mein Sträuben half mir nichts, mein Manichäer hatte mich an der Longe, wie unsereins in der Reitbahn ein störrisches Pferd. Ich mußte mich seinem Willen fügen und da auf dem Ball sah ich Sie, gnädiges Fräulein. Aber da ich ganz offen und wahr sein soll, gnädiges Fräulein, muß ich sagen, da sah ich Sie und Ihre Perlenkette. Aber vielleicht sah ich erst Ihre Kette und dann Sie. Was ich zuerst sah, weiß ich nicht, das könnte ich selbst dann nicht sagen, wenn es noch Brauch und Sitte wäre, einen Verbrecher auf die Folter zu spannen, damit er ein Geständnis ablegt. Genug, ich sah Sie, gnädiges Fräulein, und als ich Sie sah, Sie in Ihrer Anmut und Schönheit und um Ihren Hals die für ein junges Mädchen auffallend schöne Perlenkette, da sagte ich mir gleich: wenn eine, dann die und wenn du die erwischst, wird selbst dein Manichäer mit dir mehr als zufrieden sein, denn armer Leute Kind pflegen solche Perlen nicht zu tragen. Mein Entschluß, Sie zu erobern, stand sofort für mich fest und als Einleitung hierzu ließ ich meinem Mund das Wort „Donnerwetter noch mal” entgleiten. Da Sie mich zwingen, die volle Wahrheit zu gestehen, gnädiges Fräulein, dürfen Sie nicht darüber erschrecken, wenn Sie jetzt erfahren, daß ich das Wort „Donnerwetter noch mal” ganz absichtlich aussprach und daß ich mich hinterher nur so stellte, als sei es mir gegen meinen Willen entschlüpft. Ganz offen und wahr muß ich Ihnen sogar noch eins gestehen. Dieses Donnerwetter, das ich bei passenden Gelegenheiten immer auszurufen pflegte, das sich aber in der Art, wie ich es sage, stets so anhört, als sei ich selbst darüber auf den Tod erschrocken, ist ein Trick von mir, der sich in der Praxis stets sehr gut bewährt hat und dem ich sehr viele, wenn auch nur flüchtige Bekanntschaften verdanke, denn auf dieses Donnerwetter fallen unter hundert sicher neunundneunzig hinein. Und auch Sie fielen, gnädiges Fräulein, aber kaum waren Sie gefallen, da taten Sie mir so leid, daß ich mir selber sagte: Pfui Teufel, Viktor von Hohenstein, spucke mal gefälligst vor dir aus. Du bist doch bisher trotz allen Leichtsinnes ein anständiger Kerl gewesen, jetzt aber bist du es nicht mehr, denn in diesem besonderen Falle war dein Donnerwetter eine Gemeinheit. Deshalb, gnädiges Fräulein, weil ich mein Unrecht einsah, bemühte ich mich auch baldmöglichst, es wieder gut zu machen und deshalb erwähnte ich, als ich mich Ihnen vorstellte, daß ich nur in leidlich geregelten Verhältnissen lebte. Ich hätte Sie mit Leichtigkeit belügen können, oder ich brauchte ja einfach gar nichts von meinen Finanzen zu erwähnen, aber ich wollte Ihnen gegenüber offen und ehrlich sein und deshalb erzählte ich Ihren Eltern auch die Geschichte, daß Sie ohne mich Ihre Perlenkette verloren haben würden. Ich erfand mir gerade das, weil ich mir sagte, wenn du von der Kette sprichst und das geschickt anfängst, dann wird und muß das gnädige Fräulein auf den Gedanken kommen, daß sie dir nicht nur durch ihre Anmut und ihre Schönheit aufgefallen ist, und dann, wenn sie die erste kleine Enttäuschung darüber überwunden hat, mag sie durch ihr Benehmen dir gegenüber zu verstehen geben, ob sie dir dauernd zürnt, oder ob du weiter um ihre Gunst werben darfst. Und als ich merkte, daß Sie mir nicht zürnten, gnädiges Fräulein, da, als wir den ersten Walzer zusammen tanzten, geschah etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte, da verliebte ich mich in Sie, in Sie selbst, in Ihre Jugend und in Ihre Schönheit, da liebte ich Sie plötzlich wie ich, der ich in meinem Leben schon oft verliebt gewesen bin, noch nie ein junges Mädchen geliebt hatte und in demselben Augenblick wußte ich auch, daß ich nie eine andere wieder so lieben würde.”

„Und das, Herr Leutnant von Hohenstein, soll ich Ihnen glauben?” wollte sie ihm zurufen, als er nun in seiner langen Beichte zum erstenmal eine größere Pause machte, wohl weil er erwartete, daß sie ihm schon jetzt die erbetene Verzeihung erteilen solle. Aber das konnte sie unmöglich, denn er hatte sich ihr doch mit einer Lüge genähert, aber war die Lüge eigentlich so schlimm und konnte er mehr tun, als die so offen und ehrlich einzugestehen? Ja, warum tat er das eigentlich, wäre es nicht viel anständiger von ihm gewesen, sie in dem Glauben zu lassen, sein Donnerwetter wäre ihm wirklich bei ihrem Anblick wider seinen Willen entschlüpft? Die ganze Wahrheit hätte er ihr später immer noch sagen können, wenn sie erst seine Frau war, aber selbst dann hätte er besser getan, die für sich zu behalten. Er hatte mehr als unrecht an ihr gehandelt, obgleich sie im Augenblick nicht so recht wußte, worin sein Unrecht eigentlich bestand, und obgleich sie ihm das Zeugnis ausstellen mußte, daß er sofort alles tat, was er nur konnte, um sein Unrecht wieder gutzumachen. Aber was würden ihre Freundinnen sagen, wenn sie ihn doch noch heiraten sollte? Die würden erklären, gerade ein reiches junges Mädchen wie sie müsse tausendmal lieber eine alte Jungfer werden, als sich um des Geldes willen heiraten lassen und wenn die natürlich auch nur deshalb so sprachen, weil die nicht annähernd so reich waren wie sie und weil die noch nie in die Versuchung gekommen waren, einen Antrag anzunehmen, etwas Wahres lag doch in dem, was die sagen würden. Aber trotzdem, eine alte Jungfer werden? Eines Tages sterben müssen, ohne die Freuden der Liebe kennengelernt zu haben? Alles lehnte sich in ihr dagegen auf, ihr Verstand und ihre Sinne widersprachen dem und die taten das erst recht, als sie nun den hübschen Leutnant ansah, der ihr immer noch erwartungsvoll gegenüber saß. Ach wie war er hübsch!

„Glauben Sie mir jetzt, gnädiges Fräulein, daß ich Sie in jedem Augenblick nur um Ihrer selbst willen über alles lieb gewann und daß ich Sie auch heute nur noch um Ihrer selbst willen über alles liebe?” erklang da plötzlich seine Stimme und noch einmal wiederholte er: „Glauben Sie es jetzt, gnädiges Fräulein? Ich habe Ihnen eine lange Zeit gelassen, darüber nachzudenken!”

Ja, das hatte er wirklich getan, aber sie erschrak förmlich bei seinen Worten, denn gerade darüber, ob sie an seine Liebe glaube, hatte sie überhaupt noch nicht nachgedacht. Wie kam das nur? Liebte sie ihn denn nicht mehr? Doch, sie liebte ihn noch, er war ja so hübsch und ihr Vater war so reich, der würde seine Schulden schon mit Leichtigkeit und gern bezahlen. Wie konnte er sie nur fragen, ob sie ihn noch liebe? Aber nein, das hatte er ja gar nicht getan, er hatte sie nur gefragt, ob sie an seine Liebe glaube, aber das war sehr überflüssig, denn es kam doch in der Hauptsache darauf an, ob sie ihn liebe. Natürlich später, in der Ehe, mußte er auch sie lieben, er sie noch viel mehr als sie ihn und da mußte er ihr schwören, daß er niemals auch nur die Spur von Eifersucht zeigen würde, wenn sie sich im Scherz oder aus Langeweile oder aus anderen Gründen auch einmal von einem oder von ein paar anderen Herren den Hof machen ließ, denn das wollte sie wenigstens davon haben, daß sie schon jetzt so jung heiratete und dadurch darum kam, ihre schöne goldene Jugendzeit so genießen zu können, wie ihre Freundinnen es taten. Aber darüber mit ihm zu reden, war später immer noch Zeit. Jetzt handelte es sich um die Antwort auf seine Frage und als sie nun ernstlich über die nachdachte, da wurde es ihr klar, die Antwort durfte sie ihm noch nicht geben, denn wenn sie ihm erklärte, ja, ich glaube an Ihre Liebe, dann sprang er womöglich auf, küßte sie und ehe sie wußte, wie ihr geschah, war sie seine Braut. Und wenn sie das ja auch werden wollte, so schnell durfte die Sache nicht vor sich gehen, denn wenn sie erst seine Braut war, würde er ihr ganz gewiß nicht mehr die volle Wahrheit gestehen, wenn sie noch weiteres aus seinem Leben zu wissen begehrte. Da würde er entweder ganz einfach erklären, alles was die Leute sonst noch über ihn und seine Weibergeschichten erzählten, sei erlogen, oder er würde selber lügen und ihr ein paar ganz harmlose Kindermärchen vorsetzen. Und sie wollte doch gerade die Wahrheit wissen, die ganze volle Wahrheit, je amüsanter und pikanter, desto besser, das hatte sie sich doch fest vorgenommen, wie hatte sie das nur vorübergehend vergessen können? Nur ein Glück, daß ihr das jetzt wieder einfiel und deshalb meinte sie: „Gewiß, Herr von Hohenstein, Sie haben mir eine lange Zeit gelassen, um mir zu überlegen, ob ich Sie noch liebe, ohne daß Sie mich bisher überhaupt je gefragt hätten, ob ich Sie liebe. Aber das ist ja auch ganz gleich,” fuhr sie rasch halb schalkhaft, ein Viertel verlegen und ein Viertel kokett fort, als er sie unterbrechen wollte, um ihm dann zuzurufen: „Die Antwort auf Ihre Frage habe ich mir natürlich schon längst gegeben, aber ehe ich die Ihnen sagen, oder auch nur andeute, da müssen Sie erst weiter erzählen und Sie haben versprochen, mir alles zu bekennen.”

Offen und ehrlich sah er sie an: „Sie hätten es nicht nötig gehabt, mich daran zu erinnern, gnädiges Fräulein, denn was ich versprach, habe ich bisher in meinem Leben noch stets gehalten, aber trotzdem, was könnte ich Ihnen nun noch groß berichten, jetzt, wo Sie doch die Hauptsache wissen?”

Die Hauptsache kenne ich schon? Ich denke und hoffe, die soll erst noch kommen, hätte sie ihm am liebsten erwidert, aber sie tat es dennoch nicht, weil sie befürchtete, er könne daraus ersehen, wie enttäuscht sie bisher von seinem Geständnis war, und das durfte sie nicht verraten, denn wenn er sich schon so schuldig fühlte, wie schuldig mußte sie ihn da erst finden, schon um ihm alles verzeihen zu können. Und das Wesentlichste, das Interessante und Pikante kam doch noch, obgleich sie selbst nicht recht verstand, warum sie so versessen darauf war, gerade das aus seinem Munde zu erfahren. Sicher nur, weil es sein Mund war, der ihr alles schildern sollte, sein Mund, den sie so gern einmal küssen wollte und der schon so viele andere geküßt hatte. War es ihr Schuld, daß seine Nähe und seine Gegenwart ihre Sinne erweckten, ihre Sinne, denen sie es bisher gar nicht zugetraut hatte, daß die mit einemmal in ihr so rebellisch werden konnten? Oder waren es vielleicht gar nicht ihre Sinne, die alles zu wissen begehrten, sondern lediglich Eifersucht auf alle die anderen, die er vor ihr in den Armen hielt, um auch denen wie nun bald ihr zu sagen: ich liebe dich und ich habe noch nie eine andere geliebt und geküßt als nur dich. Und dann war er sicher so dumm gewesen zu glauben, die Mädchen wären ebenso dumm wie er und hätten ihm tatsächlich geglaubt. Na, soviel wußte sie, sie würde ihm das jedenfalls nicht glauben und je genauer sie sein bisheriges Leben kennenlernte, desto besser war es. Aber davon ganz abgesehen, er hatte ihr versprochen, ihr alles zu sagen, und das wollte er ja auch tun.

Und plötzlich begann er denn auch weiter zu beichten: „Ich wiederhole, gnädiges Fräulein, es ist nicht mehr viel zu sagen übrig, denn das meiste, wenigstens das Schlimmste für mich ist gesagt. Ich hatte mich in Sie bei unserem ersten Tanz verliebt und als ich am nächsten Tage in meine Garnison zurückfuhr, war ich derartig in Sie verliebt, daß es mich die größte Überwindung kostete, meinem Geldgeber von Ihnen zu erzählen, und daß ich dem Mann am liebsten mit beiden Fäusten in das Gesicht geschlagen hätte, als er mir triumphierend zurief, er sei mit mir mehr als zufrieden, denn nach Ihrem Herrn Vater brauche er sich nicht erst zu erkundigen, der sei ihm auch so für jede Summe, die ich ihm schulde, gut, der sei sogar so gut, daß ich noch soviel Geld hinzubekommen könne, wie ich nur haben wolle. Aber ich sagte Ihnen schon vorhin, gnädiges Fräulein, daß ich kein Geld mehr annahm, keinen Pfennig, obgleich ich es wirklich dringend brauchte. Die Bezahlung einiger Schulden drängte, aber es gelang mir, einen Aufschub zu erreichen, weil ich auf Ehre und Gewissen versichern konnte, ich hoffe, mich bald mit einer ebenso hübschen und liebenswürdigen wie reichen jungen Dame verloben zu können. Man stellte mir eine Frist von drei Monaten, ich erreichte aber eine solche von einem halben Jahr, denn ich wollte Sie nicht im Sturm erobern, gnädiges Fräulein, wie das wohl mancher andere versucht hätte, dem das Feuer derartig unter den Nägeln brannte wie mir. Sie, gnädiges Fräulein, sollten mich lieben, bevor Sie mich erhörten. Wie ich in Ihnen nur noch das liebenswürdige junge Mädchen sah, so sollten Sie lediglich an mir Gefallen finden, nicht an meinen Tanzkünsten, nicht an meiner Silberattila, sondern Sie sollten mich so lieben lernen, daß Sie mich selbst dann noch lieben würden, wenn ich eines Tages vielleicht als Offizier den Abschied bekäme und als untätiger Zivilist an Ihrer Seite hätte weiter leben müssen. Und damit Sie mich nur um meiner selbst willen lieb gewännen, ließ ich Ihnen Zeit, mich kennenzulernen, ich gab mich Ihnen gegenüber ganz so wie ich bin, ich raspelte Ihnen kein Süßholz vor und versuchte mich nicht dadurch in Ihr Herz zu stehlen, daß ich mich Ihnen gegenüber verstellte, daß ich mich für klüger, für amüsanter und für lustiger ausgegeben hätte als ich es bin, denn gerade Sie sollten mir nicht eines Tages im stillen den Vorwurf machen können: ach, warum hat er mir nicht vor der Ehe sein wahres Gesicht und sein wahres Wesen gezeigt? Hätte er das getan, dann würde ich ihn nie geheiratet haben. Auf geradem Wege ging ich Schritt um Schritt bei Ihnen vor, gnädiges Fräulein, ich wollte Sie und Ihr kleines Herz nicht betören, sondern ich wollte es mir auf die ehrlichste Weise gewinnen und je mehr ich mit Freuden sah, daß mir das gelang, desto langsamer ging ich vor, weil ich mir immer wieder sagte: laß ihr Zeit, sich auch ernstlich daraufhin zu prüfen, ob sie dich wirklich liebt. So habe ich um Sie geworben, gnädiges Fräulein, und ich glaube, aus der Art, in der ich es tat, können Sie mir keinen Vorwurf machen.”

Nein, das konnte sie wahrhaftig nicht und wenn sie offen und ehrlich sein wollte, mußte sie ihm das Zeugnis ausstellen, daß er nicht nur ein auffallend hübscher, sondern ein durch und durch anständiger Mensch war. Da hatte er sicher recht, wenn er sagte, kein anderer würde an seiner Stelle ihr gegenüber so gehandelt haben. Konnte und durfte sie nun noch einen Augenblick daran zweifeln, daß er nur sie, ihre Schönheit, ihren Charakter, und ihr Wesen liebte? Nein, das konmnte und durfte sie nicht, das wollte sie auch nicht, denn sie liebte ihn doch oder sie hatte ihn wenigstens geliebt, oder sie wollte ihn wenigstens wieder so lieben, wie sie ihn früher geliebt hatte, wenn er ihr erst alles erzählte und wenn sie dann wußte, ob sie ihn noch lieben könne oder lieben dürfe. Irgendwo in der Bibel stand zwar geschrieben: die Liebe verzeiht alles, aber das Wort „alles” war ein sehr dehnbarer Begriff und alles konnte man unter Umständen vielleicht doch nicht verzeihen, wenigstens mußte man dann erst alles wissen und hatte er ihr eben nicht selbst erklärt, gerade sie solle ihm eines Tages nicht den Vorwurf machen können, daß sie sich im stillen sagte: ja, wenn ich das und das gewußt hätte, würde ich ihn nie und nimmermehr geheiratet haben. Und deshalb mußte er weitersprechen, denn die Hauptsache, das Interessante und Pikante kam noch.

Aber zu ihrer größten Enttäuschung kam es nicht, denn als sie ihm so geschickt, so diskret und so verblümt wie nur möglich zu verstehen gegeben hatte, daß sie ihm aus der Art, in der er um sie geworben, niemals einen Vorwurf machen könne und würde, daß sie aber noch mehr, noch viel mehr aus seinem Leben und über sein Leben wissen müsse, um sich endgültig darüber klar zu werden, ob oder ob wieweit oder wie sehr sie ihn auch jetzt noch liebe, da starrte er sie völlig verständnislos an, um sie dann seinerseits zu fragen: „Ja um Gotteswillen, gnädiges Fräulein, was soll ich denn nun noch beichten? Ich habe vor Ihnen meinen ganzen Charakter, mein ganzes Wesen enthüllt und entkleidet, was möchten Sie denn nun noch wissen?”

„Etwas, das mich sogar riesig interessiert,” gab sie zur Antwort, um dann schnell fortzufahren: „Sie dürfen mich nicht etwa lediglich für neugierig halten, Herr von Hohenstein, aber da Sie mich gefragt haben, ob ich SS o, ie trotz allem, was die Leute über Sie reden, noch liebe und da die Leute mehr von Ihnen reden, als nur, daß Sie Schulden hätten, die weniger mich als meinen Vater angehen, da interessiert mich persönlich das andere in allen Einzelheiten und je ausführlicher, ich wollte sagen, je offener und ehrlicher Sie mir auch darüber beichten, desto besser ist es für Sie, denn nur dann, wenn ich auch da alles weiß, kann ich Ihnen sagen, ob oder daß ich Sie noch liebe.”

So, sagte sie sich im stillen frohlockend, nun muß er sprechen, jetzt wirst du alles erfahren. Aber anstatt wie sie es vermutete, nun gleich sein Gewissen durch ein offenes rückhaltloses Geständnis zu erleichtern, saß er ihr eine ganze Weile sprachlos gegenüber und sah sie ganz eigentümlich an, so eigentümlich, daß sie gar nicht begriff, was er nur haben könne, bis sie plötzlich bemerkte, daß seine Blicke, die auf ihr ruhten, immer trauriger und trauriger wurden und da glaubte sie ihn endlich zu verstehen: sie hatte durch ihre Worte alte, vielleicht kaum geheilte und kaum vernarbte Liebeswunden wieder in ihm aufgerissen, die schmerzten und brannten nun wohl aufs neue und diese Wunden allein ließen ihn immer noch schweigen. Und er schwieg lange, lange, lange. Dann aber meinte er schließlich, während er sie nun dabei ansah, als wolle er in ihrem tiefsten Innern lesen: „Das also interessiert Sie in der Hauptsache, gnädiges Fräulein? Das was die Leute sonst noch über mich reden, die sogenanten Weibergeschichten, die interessieren Sie sogar in allen Einzelheiten und um zu wissen, ob Sie mich noch lieben, wünschen Sie, ich möchte Ihnen meine Liebesabenteuer, oder wenigstens das, was man so nennt, in allen Dateils schildern? Die Versuchung, Ihnen auch da gehorsam oder gefällig zu sein, müßte für mich eigentlich riesengroß sein, denn vor kurzem erschien mir das Geständnis Ihrer Liebe noch als das höchste Glück, das mir zuteil werden könne, aber seitdem ich weiß, gnädiges Fräulein, daß solche Dinge Sie interessieren, muß ich Ihnen offen erklären, daß ich Sie doch wohl noch nicht so genau kenne, wie ich Sie zu kennen glaubte. Hätten Sie später als meine Frau zu mir gesagt: „Du, Viktor, hör' mal, damals haben die Leute ja auch soviel davon geredet, du hättest verschiedene kleine Liebschaften gehabt, sag' mal, was ist denn Wahres daran?” dann hätte ich Ihnen zu beweisen versucht, daß auch da das meiste Übertreibung war und von dem Rest, der nachblieb, hätte ich Ihnen auch nur das wenigste erzählt, nicht weil ich etwas Besonderes zu verschweigen gehabt hätte, sondern weil mir meine Frau viel zu hoch gestanden haben würde, um ihr von meinem früheren sogenannten Liebesleben, weil das mit der wirklichen Liebe absolut nichts zu tun hat, zu sprechen. Selbst meiner Frau gegenüber hätte ich mich in Schweigen gehüllt, um diese durch ein Geständnis nicht vielleicht doch zu verletzen. Ihnen gegenüber, gnädiges Fräulein, muß ich aber erst recht schwiegen, denn mit einer jungen Dame der Gesellschaft spreche ich über so etwas nicht, selbst dann nicht, wenn ich weiß, daß die sich für solche Geschichten in allen Einzelheiten interessiert und am allerwenigsten spreche ich über so etwas mit einer jungen Dame, die ich liebe, wie ich Sie liebe, gnädiges Fräulein, und von der ich gehofft hatte, sie möge und würde mich um meiner selbst willen wiederlieben.” Und als er mit dieser seiner langen Rede fertig war, stand er auf, um sich mit einer kurzen höflichen Verbeugung von ihr zu verabschieden und sie hatte ihn dann nie nie wiedergesehen, denn schon am nächsten Tage reiste er ab und einer seiner Kameraden wurde an seine Stelle in die Garnison versetzt, um den Reitunterricht weiter zu übernehmen.

Der hübsche Leutnant Viktor von Hohenstein war plötzlich aus der Stadt verschwunden und selbstverständlich wurde viel darüber geredet. Sie selbst wurde mit Fragen bestürmt, ob es denn wahr sei, was man sich erzähle, der Husar sei nur deshalb Hals über Kopf abgereist, weil er sich bei ihr einen Riesenkorb geholt habe. Er selbst sei, wie man höre, nicht zu bewegen gewesen, irgend etwas darüber verlauten zu lassen, was ihm, wie er sich ausgedrückt habe, einen weiteren Aufenthalt hier in der Stadt zur Unmöglichkeit mache. Und daß er sich darüber nicht ausgesprochen habe, sei ja auch selbstverständlich, denn einen Korb, den man erhalten, hänge man nicht an die große Glocke. Darum müsse sie darüber Auskunft geben, was an dieser Korbgeschichte Wahres sei.

Aber sie gab die gewünschte Auskunft nicht, sondern erwiderte auf alle Fragen lediglich, ihr selbst sei die Abreise des Husarenleutnants so überraschend gekommen, daß sie sich die bei dem besten Willen nicht zu erklären vermöchte. Ihren Eltern aber erzählte sie, als Herr von Hohenstein das letzte Mal bei ihr gewesen sei, habe es sich gezeigt, daß sie beide sich in manchen Punkten doch nicht so verständen, um später zusammen wunschlos glücklich werden zu können und deshalb hätten sie beide eingesehen, daß es das beste wäre, wenn sie sich in Zukunft mieden. Damit hatten sich die Eltern zufrieden gegeben, wenngleich der Vater es immer wieder beklagte, daß seine stille Hoffnung, Herrn von Hohenstein zum Schwiegersohn zu bekommen, sich nun nicht erfülle. Für immer schien der Vater diese Hoffnung auch nicht aufgegeben zu haben, aber der hübsche Leutnant ließ nichts wieder von sich hören, bis er dann ein Jahr später seine Vermählung mit einer jungen Witwe anzeigte, von der man bald erfuhr, daß sie, wie man so sagt, blödsinnig reich, aber zugleich auch mordshäßlich sei. Und wieder ein Jahr später hörte man, er habe es trotz des vielen Geldes bei seiner Frau nicht ausgehalten, da deren Charakter noch viel häßlicher gewesen sei, als ihr ohnehin schon so häßliches Äußere. Er habe sich scheiden lassen und stehe, vollständig mittellos, wie er es nun wieder sei, im Begriff, nach drüben zu gehen, um dort irgendwie sein Glück zu versuchen. Und wieder ein paar Jahre später hatte sie erfahren, daß er dort sein Glück nicht gemacht habe, sondern daß er dort elendiglich zugrunde gegangen war.

Da, als sie das erfuhr, war die Erinnerung an ihre erste Liebe wieder einmal in ihr wach geworden. Sie hatte dem Toten aufrichtige Tränen nachgeweint, und sich immer wieder gefragt: trifft dich vielleicht doch eine Schuld? Hast du an jenem entscheidenden Nachmittag, als Herr von Hohenstein bei dir war, nicht doch etwas getan, gesagt oder begangen, was nicht ganz recht war und was du nun, da er tot ist, bereuen mußt?

Darüber dachte sie nach, bis ihr dann endlich, endlich die Erkenntnis kam: ja, du hast etwas zu bereuen und zwar, daß du ihm damals sagtest, es würde dich sehr interessieren, zu erfahren, was an seinen Liebesaffären Wahres sei, die man ihm nachsagte. Ja, jetzt sah sie es plötzlich ein, sie hätte nie und nimmer sagen dürfen, das interessiere sie. Das Wort hatte ihn verletzt und verstimmt, das hatte die Schranke zwischen ihnen beiden errichtet, über die hinweg es kein Wiedersehen gab, obgleich sie lange darauf gewartet hatte, er möge wiederkommen und sie um Verzeihung bitten, daß er in einer beinahe mehr als unhöflichen Weise von ihr ging. Er mußte doch wiederkommen, denn er hatte ihr ja noch gar keine Gelegenheit gegeben, ihm auf seine Frage zu antworten, ob sie ihn noch liebe.

Nun war er tot und es war eigentlich ganz gut, daß er gestorben war, bevor er sie vielleicht noch einmal hätte fragen können, ob sie ihn noch liebe, denn darauf hätte sie nur mit einem Nein antworten müssen, und schon an jenem entscheidenden Nachmittag hatte sie ihn wohl schon gar nicht mehr richtig geliebt, wenn das, was sie für ihn empfand, überhaupt jemal die richtige Liebe war und nicht nur eine vorübergehende flüchtige Schwärmerei, die ebenso schnell auflebt, wie sie eines Tages erlischt.

Nun war er tot, aber trotzdem, wie hatte sie nur so dumm oder so ungeschickt sein können, damals gerade den Ausdruck zu gebrauchen, „das interessiert mich”, denn daraus, daß er den ein paarmal wiederholte, mußte sie ja ersehen, daß er an dem Wort Anstoß nahm, daß er das gerade aus ihrem Munde unpassend oder wenigstens ungehörig fand. Ach, warum war ihr, die doch ihre Muttersprache sonst so gut beherrschte, damals für das, was sie sagen wollte, nichts anderes eingefallen? Wie hatte sie nur so ungeschickt sein können, sich gerade auf den Ausdruck „das interessiert mich” zu versteifen? Und daß sie das tat, aber das, aber auch nur das bereute sie, als sie jetzt wieder an den hübschen Husarenleutnant zurückdachte.

Die alte Dame saß da und sann vor sich hin, bis dann eine neue Erinnerung in ihr wach wurde.

Der sie zu seinem Weibe begehrte, war der Leutnant Viktor von Hohenstein gewesen, der andere aber, der sich ihr näherte, weil er sie begehrte, war ein großer, auffallend hübscher Forstassessor, Carl von Wangenberg, den sie kennen lernte, als sie sich nach dem plötzlichen Tode ihres Vaters mit der Mutter in eine ganz kleine wenn auch sehr hübsch gelegene Stadt zurückgezogen hatte, in der sie beide nur für sich leben wollten, fern von allen früheren Bekannten, denn die Gerüchte wollten nicht verstummen, daß ihr Vater an jenem Tage, als man ihn von der Jagd tot nach Hause brachte, nicht einem unglücklichen Zufall erlegen sei, als sich sein ungesichertes Gewehr bei einem Sprung über einen Graben entlud, sondern daß er Selbstmord begangen habe, weil er sich in finanzielle Spekulationen einließ, die ihm zwar sehr reichen materiellen Gewinn einbrachten, bei denen er aber einen Schaden an seiner Ehre erlitten habe, wenngleich diese ihn auch nicht mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt gebracht haben würden. An einen Unglücksfall glaubte kaum einer, fast alle vermuteten einen Selbstmord, obgleich kein Mensch wußte, wer wirklich recht hatte. Aber das Gerede wollte und wollte nicht verstummen, so war sie mit ihrer Mutter in die Einsamkeit geflüchtet, in eine kleine Stadt, in der sie niemand kannte und in der sie niemanden kennen lernen wollten. Aber nur zu bald sahen sie ein, daß sie einen großen Fehler begingen, als sie gerade eine kleine Stadt zu ihrem Aufenthaltsort auswählten. In einer großen Stadt hätte sich um die neu hinzugezogenen Fremden kein Mensch bekümmert, da hätten sie spurlos untertauchen können, wie sie es wollten, aber in der kleinen Stadt hieß es sehr bald: „Aha, das sind die und die. Wissen Sie schon, was man sich von dem verstorbenen Mann und Vater erzählt?” Die Leute redeten und redeten und sie und ihre Mutter schlossen sich immer mehr und mehr in der hübschen Villa ein, die sie sich etwas außerhalb der Stadt in der nächsten Nähe des schönen Waldes, der sich meilenweit erstreckte, gekauft hatten. Kein Mensch kam zu ihnen, sie gingen zu niemandem. Und so wohltuend diese Ruhe und Einsamkeit zuerst auch auf sie einwirkten, mit der Zeit fing die doch an, sie zu bedrücken, und mehr als einmal dachte die Mutter daran, das Haus zu verkaufen oder zu vermieten, um doch noch nach Berlin oder nach München überzusiedeln. Aber sie selbst widersprach. Sie glaubte es dem Andenken ihres verstorbenen Vaters schuldig zu sein, daß sie sich nicht lediglich durch das Gerede der Leute ruhelos in der Welt umhertreiben ließen und dazu kam, daß eine innere Stimme ihr jedesmal, so oft die Mutter von dem Fortziehen sprach, zurief: willige nicht ein, widersprich soviel du nur immer kannst, gehe nicht fort, bleibe hier. Wie die Stimme dazu kam, so zu ihr zu sprechen und was die damit bezweckte, war ihr völlig unverständlich, aber sie gehorchte ihr, ohne zu wissen weshalb und warum, sie blieb in der Stadt und das nicht allein, sie gewöhnte es sich plötzlich an, den Menschen nicht mehr so aus dem Wege zu gehen. Erhobenen Hauptes schritt sie durch die Straßen, sie begann, wieder Wert auf hübsche Kleidung zu legen, und sie freute sich, als sie eines Tages hörte, man nenne sie das am besten angezogene junge Mädhcne der Stadt. Und als sie hörte, daß die Leute nun mehr von ihren Kleidern, ihren Hüten, von ihren Mänteln und ihren sonstigen Sachen sprachen, als von ihrem verstorbenen Vater, da wurde die Hoffnung in ihr wach: vielleicht reden die Leute eines Tages gar nicht mehr von dem und dann, wenn endlich Gras über dessen Tod gewachsen ist, wirst du vielleicht doch noch eines Tages die Liebe kennenlernen, denn als das Unglück über sie und die Mutter hereinbrach, da war einer ihrer ersten Gedanken gewesen: wo findest du nun einen Mann? Wer heiratet die Tochter eines Selbstmörders, dessen Name und dessen Tod in ruhmloser Weise durch alle Zeitungen gezerrt wurden? Und obgleich dieser Gedanke in ihr wach wurde, hatte sie sich dennoch darüber gefreut, daß sie damals noch nicht verheiratet war und daß sie auf Grund der traurigen Erfahrungen, die sie mit dem hübschen Husarenleutnant machte, sich jeden weiteren Freier fernzuhalten verstanden hatte, denn nachdem der eine es ihr so offen eingestanden, glaubte sie fortan von jedem, daß der nur ihr Geld, oder wenigstens in erster Linie ihr Geld wollte und sie nur mit in den Kauf nahm.

Aber da in der kleinen Stadt, als sie wieder anfing, sich offen und frei zu bewegen, als es ihr wieder Freude machte, sich zu putzen und zu schmücken, da wurde eines Tages der Gedanke in ihr wach: vielleicht hat die innere Stimme dir nur deshalb zugeredet, hier zu bleiben, weil du hier den Mann findest, nach dem dein Herz und nach dem deine Sinne sich sehnen, der Mann, der dich nur um deiner selbst willen liebt und der dich auch dann begehrt, wenn er all den häßlichen Klatsch erfahren hat, der noch immer über deinen Vater im Umlauf ist. Und so fest glaubte sie plötzlich daran, daß sie ganz deutlich fühlte, wie sie vor Erregung zitterte, als sie bald darauf in dem Blatt des kleinen Städtchens die Notiz las, an Stelle des schon seit längerer Zeit erkrankten und beurlaubten hiesigen Forstmeisters sei der Forstassessor Carl von Wangenberg hierher versetzt worden und werde sein neues Amt voraussichtlich schon in der allernächsten Zeit hier antreten.

Ob diese Neuigkeit auch die übrigen Leser dieser Notiz so in Aufregung versetzt hatte, wußte sie nicht, das war ihr auch ganz gleich, sie selbst aber fieberte seiner Ankunft förmlich entgegen und eine beinahe tödliche Angst überfiel sie bei der Vorstellung, daß er schon verlobt oder gar verheiratet sei. Aber nein, er war weder das eine noch das andere, denn sonst hätte er sie unmöglich so ansehen können, wie er es tat, als sie ihm zum erstenmal begegnete, denn er sah sie an, daß sie in seinen Augen ganz deutlich las: auf alles bin ich in diesem kleinen Nest vorbereitet gewesen, aber daß ich hier das Glück haben würde, einer so auffallend hübschen und noch dazu derartig elegant gekleideten jungen Dame zu begegnen, das hätte ich mir denn doch nicht träumen lassen. Ja, sie hatte ganz deutlich bemerkt, wie gut sie ihm gefiel, hoffentlich hatte er aber nichts davon bemerkt, wie gut er auch ihr gefiel, denn er war groß und mittelstark, vielleicht Ende der Zwanzig, mit einem frischen gebräunten Gesicht, mit dunklen Augen, dunklem Haar, bartlos und mit einem langen Schmiß auf der rechten Wange. Und sehr gut stand ihm die kleidsame grüne Jagduniform mit dem Hirschfänger an der Seite und mit dem in der Mitte eingekniffenen grünen weichen Hut. So gut sah er aus, daß sie sich am liebsten, als er an ihr mit großen, erstaunten, bewundernden Augen vorübergegangen war, nach ihm umgewandt hätte, aber das durfte sie nicht, das wäre mehr als unpassend gewesen und außerdem wußte sie sehr genau, daß er ihr nachsehen würde.

Nein, er war weder verlobt noch verheiratet, das hatten seine Blicke ihr verraten, aber immerhin, Blicke können täuschen. Deshalb pries sie sich glücklich, als sie ein paar Tage später in dem ersten Damen- und Herren­friseur­geschäft des Städtchens mit ihm zusammentraf. Als sie das Geschäft betrat, um sich ondulieren zu lassen, stand er an dem Ladentisch und suchte sich ein paar Kleinigkeiten aus. Und kurz entschlossen stellte sie sich neben ihn, um sich auch ein paar Sachen, die sie plötzlich dringend brauchte, zu kaufen. Und da, als sie auf seine Hände blickte, sah sie zu ihrer großen Freude, daß er wirklich weder einen Verlobungs- noch einen Ehering trug, und so gern sie auch ihn selbst angesehen hätte, sie unterließ es und daran tat sie recht, denn erstens wäre das nicht nur ihm, sondern auch der Verkäuferin aufgefallen und zweitens erreichte sie dadurch das, was sie damit erreichen wollte, daß er fortwährend zu ihr hinschielte, solange sie neben ihm stand. Sie erriet, daß er sich im stillen wünschte, es möchte lange dauern, bis sie ihre Wahl getroffen habe, aber gerade deshalb nahm sie das erste beste, was die Verkäuferin ihr vorlegte, um dann schnell in dem Damensalon zu verschinden.

Fortan sahen sie sich beide beinahe täglich, schon weil der Weg, den er benutzen mußte, um in den seiner Obhut und seiner Pflege anvertrauten Wald zu gelangen, bei ihrem Hause vorbeiführte. Je öfter sie sich aber sahen, desto besser gefiel er ihr, bis sie sich eines Tages dabei ertappte, daß sie ihn schon um seines Äußeren willen liebte und daß sie nur den einen Wunsch hatte, er möge sie wiederlieben, denn das wußte sie, wenn er sie eines Tages lieben sollte, dann würde er sie nur um ihrer selbst willen lieben, da sie zufällig gehört hatte, daß er sehr reich sei, daß er sich in dem ersten Hotel der Stadt viele Zimmer gemietet und diese mit seinen eigenen Möbeln eingerichtet habe und daß er davon sprach, er werde sich baldmöglichst Wagen und Pferde anschaffen. Er war reich, vielleicht sogar noch reicher als sie und bei ihm war sie sicher, daß er sie niemals ihres Geldes wegen lieben würde, falls er sie jemals lieben sollte.

Aber würde er sie lieben? Das war für sie die große Frage, auf die sie keine Antwort finden konnte. So mußte sie sich denn vorläufig, so oft sie sich begegneten, immer aufs neue damit begnügen, in seinen Augen zu lesen, wie hübsch und wie begehrenswert er sie fände. Wie aber sollte sie den, den sie liebte und der sie baldmöglichst wiederlieben sollte, nur kennen lernen?

Es konnte doch unmöglich so weitergehen, daß er sie auf der Straße nur ansah, wenngleich seine Blicke immer beredter und deutlicher wurden, so beredt, daß sie oft daran dachte, im Vorübergehen ein kleines Paket fallen zu lassen, damit er es ihr aufhöbe und dadurch Gelegenheit fände, sie anzusprechen. Aber nein, das ging nicht, er würde die Absicht merken und dann vielleicht gar nicht auf die eingehen. Aber wie sollten sie sich gegenseitig kennenlernen? Darüber zerbrach sie sich wochenlang vergebens den Kopf, bis ihr der Zufall in Gestalt eines Dackelhundes zu Hilfe kam. Dieser Dackel schloß sich ihr eines Tages auf der Straße an, als sie ausgegangen war, um ein paar Besorgungen zu machen. Er folgte ihr, ohne daß sie ihn gerufen oder gelockt hätte, auf Schritt und Tritt. Er war nicht fortzubringen, ja, während sie in den Geschäften war, wartete er draußen, bis sie wieder auf die Straße trat und ihre Zurufe: „So, Dackel, nun gehe nach Hause, geh zu deinem Herrn oder zu deiner Herrin,” hatten keinen Erfolg. Er trollte neben ihr her und so oft sie sich auch umsah, sie erblickte niemanden, dem der Hund zu gehören schien. Der Hund folgte ihr bis nach Hause und als sie die Gartenpforte öffnete, war der Dackel schneller in dem Garten als sie selbst, gleichsam als wolle er ihr dadurch zu verstehen geben: hier bin ich, hier bleibe ich, dich verlasse ich nicht wieder. Sie sah es ein, es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Hund bei sich zu behalten bis sie herausbekommen hatte, wem der gehöre. Aber wie sollte sie den Besitzer feststellen, da an dem Halsband zwar eine Steuermarke befestigt war, da dieses aber keinen Namen trug? Da verfiel sie darauf, für das Stadtblatt ein Inserat aufzugeben, in dem sie bekannt gab, daß ihr ein Dackel zugelaufen sei und in dem sie den Eigentümer des Hundes aufforderter, ihn baldmöglichst wieder abholen zu lassen.

Vierundzwanzig Stunden später ließ sich am Nachmittag der Forstassessor Herr von Wangenheim bei ihr anmelden und durch das Mädchen um Erlaubnis bitten, den hier zugelaufenen Hund sich daraufhin ansehen zu dürfen, ob der Dackel vielleicht sein Waldy wäre, der ihm seit gestern mittag spurlos abhanden gekommen sei. Herr von Wangenheim stand draußen auf dem Vorflur und in wenigen Minuten würde sie ihn kennenlernen! Ihr war nicht einen Augenblick der Gedanke gekommen, daß der Hund gerade ihm gehören und daß gerade er erscheinen könne, um sich sein Eigentum wieder bei ihr abzuholen. Aber nun, da beides der Fall war, mußte sie Gewalt an sich halten, um ihre freudige Überraschung nicht zu verraten, und es wurde ihr nicht ganz leicht, dem Mädchen völlig unbefangen den Auftrag zu geben, den Besucher vorzulassen. Eine Minute später trat er zu ihr in das Zimmer, in dem sie ihn allein empfing, da ihre Mutter, wie schon so oft in den letzten Monaten an ihren nervösen Kopfschmerzen litt und den Tag im Bett verbrachte. Aber als er ihr dann gegenüber stand, hatte sie sich merkwürdigerweise sofort wieder in ihrer Gewalt. Jede, wenigstens jede äußere Spur von Befangenheit und Verlegenheit war von ihr gewichen und auch er war vollständig natürlich und unbefangen, vor allen Dingen aber, und das rechnete sie ihm hoch an, erwähnte er mit keiner Silbe, daß sie beide sich ja schon oft begegnet wären und glücklicherweise vermied er auch die banale Redensart, er habe schon lange den Augenblick herbeigesehnt, in dem es ihm endlich vergönnt sei, ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Daß er sich darüber freute, sie nun kennenzulernen, brauchte er ihr auch gar nicht erst zu sagen, das sah sie ihm deutlich genug an und das merkte sie auch daran, daß er das Gespräch zwar gleich auf den Dackel brachte, um nochmals den Grund seines Besuches zu erklären, daß er dann aber sofort sehr geschickt und gewandt von anderen Dingen mit ihr plauderte, um dadurch Gelegenheit zu finden, lange bei ihr sitzen bleiben zu dürfen. Er saß und saß und nur zu gern hörte sie ihm zu, als er in humoristischer Weise davon erzählte, wie ein lustiger, übermütiger Streich, über den sein höchster Vorgesetzter, als der davon erfuhr, sich ärgerte, seine vorübergehende Versetzung hierher veranlaßt habe, und wie er natürlich hoffe, seine Sünden hier nicht allzu lange büßen zu müssen, seine Sünden, an denen ein toter Onkel viel schuldiger sei als er, denn der habe ihn ganz unerwartet zu seinem Universalerben eingesetzt und das viele Geld sei so plötzlich über ihn gekommen, daß er einmal ganz gehörig habe bummeln müssen. Und auch sonst erzählte er ihr manches aus seinem Leben, von seinen Studien, von seiner Liebe zur Natur und dem Wald und sie glaubte auch zu erraten, warum er ihr so offen und frei von sich sprach, weil sie ihn gleich von Anfang an möglichst genau kennen und gleich erfahren solle, wes Geistes Kind er sei. Und alles was er ihr sagte, nahm sie immer mehr für ihn ein, so daß sie gleich bei seinem ersten Besuch anfing, ihn zu lieben, das aber in einer anderen Art, als sie ihn bisher schon geliebt hatte, bevor sie ihn näher kennenlernte. Was ihr bisher an ihm so gefallen hatte, war sein hübsches Äußere, seine stattliche Erscheinung, die ihre Sinne und ihre Leidenschaften , die solange geschwiegen und geschlafen hatten, von neuem aufweckten und die nun den Wunsch und die heiße Sehnsucht in ihr wach werden ließen, gerade diesem Mann mit Leib und Seele angehören zu dürfen. Bisher liebte sie ihn mit den Sinnen, jetzt aber fing sie an, ihn auch mit ihrem Herzen zu lieben.

Sie saßen zusammen und plauderten, bis er sich endlich erhob, um sich zu verabschieden und um sich zu entschuldigen, daß er weit über Gebühr bei ihr geblieben sei. Die Veranlassung seines Besuches schien er ganz vergessen zu haben und auch ihr fiel die erst wieder ein, als er schon im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen. Da aber hielt sie es für ihre Pflicht, ihn daran zu erinnern und rief ihm zu: „Und der Dackel, Herr von Wangenberg?”

Halb verlegen, halb lachend schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. „Richtig, der Dackel, den hätte ich beinahe ganz vergessen. Das ist aber nicht meine Schuld, gnädiges Fräulein, denn wenn man das unverhoffte Glück hat, ausgerechnet hier in diesem Städtchen einer so hübschen, eleganten und liebenswürdigen jungen Dame zu begegnen, wie Ihnen — aber nein,” unterbrach er sich, „ich will Ihnen keine Komplimente machen, die Sie vielleicht nur für leere Schmeicheleien halten, und daß Sie das täten, möchte ich auf keinen Fall, da möchte ich schon lieber in des Wortes richtiger Bedeutung auf den Hund kommen. Also wo haben Sie den Ausreißer? Vielleicht sind Sie so ,liebenswürdig, mir den einmal zu schicken.”

Auf ein Klingelzeichen erschien das Mädchen und nachdem dieses den Auftrag erhalten hatte, den Hund, der sich bisher draußen bei ihr aufgehalten hatte, in das Zimmer zu führen, erschien der Dackel, aber nur, um von dem Besucher gar keine Notiz zu nehmen und um sofort mit lautem Freudengebell an ihr selbst in die Höhe zu springen.

„Aber Waldy, schämst du dich denn gar nicht, mich so zu verleugnen?” schalt da Herr von Wangenberg zu ihrem Erstaunen, denn nach dem Verhalten des Hundes hätte sie nie geglaubt, daß der ihm gehöre. „Schämst du dich denn gar nicht, Waldy, mich so zu schneiden? Was soll das gnädige Fräulein da von uns beiden denken? Muß die nicht glauben, ich hätte dich immer sehr schlecht behandelt, und muß es dich nicht für undankbar halten, wenn es nun erfährt, daß ich dich bisher immer in einer geradezu unerhörten Weise verzogen habe? Also komm hierher, komm zu mir, Waldy, aber sofort.”

Diesmal gehorchte der Hund, aber er tat es ungern. Mit angehaltenen Ohren und eingezogener Rute kam er angekrochen, um sich seinem Herrn zu Füßen zu legen. Aber kaum lag er da, da sprang er auch schon wieder auf und lief zu ihr zurück, um sich an ihr Kleid anzuschmiegen, so daß sie es nun für ihre Pflicht hielt, sich zu verteidigen, indem sie ihrem Besucher zurief: „Ich bitte mir zu glauben, Herr von Wangenberg, daß ich nichts tat, um Ihnen die Liebe Ihres Hundes zu rauben. Ich habe den Dackel in keiner Weise verzogen, ich wollte auch gar nicht, daß er sich an mich gewöhnte, deshalb ließ ich ihn auch nicht bei mir im Zimmer, sondern draußen bei dem Mädchen,” und sich nun ihrerseits an den Hund wendend, ermahnte sie den: „Geh, Waldy, geh zu deinem Herrn.”

Aber anstatt ihr zu gehorchen, schmiegte sich der Hund nur noch dichter an sie, so daß sie verlegen werdend meinte: „Das ist ja eine sonderbare Geschichte, Herr von Wangenberg, was machen wir da nur?”

„So sonderbar finde ich die Geschichte nun nicht, gnädiges Fräulein,” gab er zur Antwort, „denn daß der Hund Sie auf den ersten Blick, oder, um in der Hundesprache zu reden, auf den ersten Geruch hin lieb gewann, viel lieber als mich, das fühle ich ihm vollständig nach. Aber was wir mit dem Dackel machen sollen, weiß ich im Augenblick auch nicht, denn schon der Dichter sagt: zur Liebe kann ich dich nicht zwingen. Und wenn der Waldy mich nun nicht mehr lieb hat, dann, aber halt,” unterbrach er sich plötzlich, „ich weiß doch, was wir machen. Wenn Waldy nicht mehr von Ihnen gehen will, dann soll er meinetwegen hier bleiben, vorausgesetzt, gnädiges Fräulein, daß Sie ihn behalten wollen und daß ich die Erlaubnis von Ihnen bekomme, mich von Zeit zu Zeit nach ihm bei Ihnen umsehen zu dürfen, denn wenn Waldy mich auch verstoßen hat, ich hänge doch noch an ihm. Also wie ist es, gnbädiges Fräulein, sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden?”

Und ob sie es war! Denn dadurch, daß sie auf seine Worte einging, bot sich ihr Gelegenheit, mit Waldys Herrn auch in Zukunft manchmal zusammenzutreffen. Der würde seinem ersten heutigen Besuch hoffentlich bald weitere folgen lassen und vielleicht würde er sie dann bald ebenso sehr lieb gewinnen, wie seinen Waldy sie schon heute lieb gewonnen hatte. So erklärte sie sich denn gern mit seinem Vorschlag einverstanden und das tat auch Waldy, denn als habe er seinen Herrn ganz deutlich verstanden, lief er nun plötzlich zu dem hin, sprang an dem hinauf, und es war beinahe rührend mit anzusehen, wie Herr von Wangenberg sich über die wieder erwachte Liebe seines Dackels freute, wie er den in die Arme nahm und an sich drückte, während er ihm dabei zurief: „Na, Waldy, siehst du es nun endlich wieder ein, daß du es bei mir doch nicht so schlecht gehabt hast, wie du es uns glauben machen wolltest?” Und so zärtlich tätschelte er dabei seinen Dackel, daß es ihr auf den Lippen lag, ihm zuzurufen: Jetzt sehe ich es erst, wie sehr Sie an dem Waldy hängen, werden Sie ihn da nicht zu sehr entbehren, wenn Sie ihn bei mir lassen? Wollen Sie ihn nicht da doch lieber wieder mit nach Hause nehmen?” Das wollte sie sagen, obgleich der dann ja kaum einen Grund oder eine äußere Veranlassung gehabt hätte, seinem heutigen ersten Besuch weitere folgen zu lassen, aber sie kam nicht dazu. das auszusprechen, was sich ihr aufdrängte, denn als habe Waldy dieses Mal nun ihre Gedanken erraten, machte er sich fast gewaltsam aus den Armen seines Herrn frei, sprang auf den Boden, dackelte so schnell er nur konnte wieder auf sie zu, schmiegte sich von neuem an sie und gab ein paar Töne von sich, die da wohl heißen sollten: „Hier bin ich, hier bleibe ich und wenn mich einer von hier verdrängen will, dann beiße ich den, oder versuche ihn wenigstens zu beißen.”

Und wenn auch nicht aus Furcht vor der von ihm geknurrten Drohung, blieb er, wo er war, und zum Zeichen, daß man ihm seinen Wunsch erfülle, bückte sie sich, um ihren neu gewonnenen vierbeinigen Freund zu streicheln, und Herrn von Wangenberg bückte sich, um seinen Waldy noch einmal zu streicheln, bevor er ging und als ihre Hände gleichzeitig den Hund streicheln wollten, da berührten die sich, aber das nicht allein, seine Hand streichelte, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick und vielleicht nicht einmal absichtlich die ihrige und diese kurze Liebkosung seinerseits bewies ihr, wie sehr sie ihn schon liebte. Heiß und kalt ging es ihr über den Rücken und ein Schauern und Beben durchfuhr ihren Körper und ihr wurde dabei so sonderbar zumute wie ihr noch nie gewesen war.

Ein paar Minuten später war er gegangen, nachdem er noch einmal um Erlaubnis gebeten hatte, sich von Zeit zu Zeit nach seinem Waldy umsehen zu dürfen, aber wenn sie hoffte, dieses von Zeit zu Zeit hieße auf deutsch täglich, dann irrte sie sich sehr. Es vergingen manchmal vier bis fünf Tage und noch länger, ehe er wieder bei ihnen vorsprach. Selbst wenn sein Weg in den Wald ihn an ihrem Hause vorbeiführte, ging er oft vorüber und immer wieder fragte sie sich: warum tut er das? Liebt er seinen Hund doch nicht so, wie es den Anschein hatte oder hat auch er von den Gerüchten gehört, die über deinen Vater im Umlauf sind, und fürchtet er, sich zu kompromittieren und sich zu schaden, wenn er sich zu oft bei euch sehen läßt? Oder aber hat er bemerkt, daß du ihn liebst und kommt er deshalb nicht, weil er deine Liebe nicht erwidert und weil er keine Hoffnungen in dir erwecken will, die sich nicht erfüllen können?

Es waren Stunden voll trüber Gedanken, in denen sie sein Kommen erhoffte und erwartete, aber wenn er dann kam, um mit ihr und ihrer Mutter zu plaudern, da freute sie sich lediglich des Augenblicks, der sich oft sehr lange ausdehnte, und wenn es dann endlich für ihn Zeit wurde, zu gehen, merkte sie ihm deutlich an, wie schwer es ihm wurde, aufzubrechen, wie gern er noch länger geblieben wäre, so daß dann doch wieder die Hoffnung in ihr wach wurde: er liebt dich, und eines Tages wird er dir das auch gestehen.

Und dann kam der Tag. Ein Zufall fügte es, daß ihre Mutter wieder einmal das Bett hüten mußte, als er sich bei ihr anmelden ließ, und wenn er auch aufrichtig bedauerte, daß ihre Mutter sich wieder nicht wohl fühle, so merkte sie ihm dennoch an, daß er im Grunde seines Herzens über das Alleinsein mit ihr nicht traurig war, aber sie bemerkte sehr bald an ihm noch etwas anderes, eine gewisse Verlegenheit und Unsicherheit, die umso größer wurde, je länger sie mit einander plaudernd zusammensaßen. Was hatte er denn nur? Wollte er ihr erklären, daß er sie liebe, und fürchtete er, daß sie ihn nicht wiederliebe? War er im entscheidenden Augenblick schüchtern wie ein junger Schüler, der seiner ersten Liebsten errötend eingesteht, wie es in seinem Herzen aussieht? Aber nein, das traute sie ihm nicht zu. Fürchtete er wirklich, sie liebe ihn nicht? Ahnte er nichts davon, wie ihr Herz und ihre Sinne ihm entgegen schlugen, ihre törichten, dummen und doch so süßen Sinne fast noch mehr als ihr Herz? Ahnte er nichts davon, wie oft sie sich vor dem Einschlafen in ihren Gedanken mit ihm beschäftigte, wußte er nicht, wie oft er ihr im Traum erschien und wie oft sie ihn nicht schon im Traum geküßt hatte? Nein, das konnte er nicht wissen und nicht ahnen, aber daß sie ihn liebte, das mußte er ihr doch an tausend Kleinigkeiten angemerkt haben, aber um ihm den letzten Zweifel daran zu nehmen, wie sie über ihn dachte, zeigte sie es ihm nun im weiteren Verlauf des Zusammenseins so deutlich, wie sie es ihm nur zeigen konnte, ohne sich dadurch etwas zu vergeben. Sie tat es auch dadurch, daß sie plötzlich den Waldy, der in ihrem Schoß lag, streichelte und daß sie ihre Hand nicht fortzog, als seine Rechte liebkosend über die ihre hinfuhr, bis er die nun mit einem festen Griff umklammerte, während sich dabei schwer atmend und gepreßt die Worte über seine Lippen rangen: „Gnädiges Fräulein, Fräulein Malwine, was soll denn nur aus uns beiden werden?”

Zu ihrem Erstaunen ertappte sie sich in dieser Sekunde dabei, daß sie selbst über diese Frage noch nie nachgedacht hatte. Sie war glücklich gewesen in dem Bewußtsein, ihn zu lieben, und in der Hoffnung, von ihm wiedergeliebt zu werden. Und nun, da sie hörte, daß und wie sehr er auch sie liebe, da war ihr das, was daraus werden solle, erst recht ganz gleichgültig. Sie liebte ihn viel zu sehr, als daß sich ihr gleich der Gedanke an Standesamt und Kirche aufgedrängt hätte. Mit solchen banalen Dingen hatte sie sich nicht einmal in ihren Träumen beschäftigt, das waren doch nur leere Äußerlichkeiten und Formalitäten, die mit der Liebe als solcher nichts zu tun hatten. So war ihr Erstaunen und ihre Überraschung, mit der sie ihn ansah, auch völlig echt während sie ihn fragte: „Was aus uns beiden werden soll?”

„Ja, was soll nur werden?” wiederholte er abermals, um gleich darauf fortzufahren: „Lassen Sie mich ganz offen und wahr sein, gnädiges Fräulein. Und ich bitte Sie, erleichtern Sie mir mein Geständnis dadurch, daß Sie weiter Ihre Hand in der meinen lassen.” Und als sie ihm, schon weil sie ihn doch über alles liebte, nicht nur diesen Gefallen tat, sondern von Zeit zu Zeit auch leise seine Hand streichelte, fuhr er fort: „Ich habe es bisher stets vermieden, gnädiges Fräulein, davon zu sprechen, daß wir uns ja nicht das erstemal sahen, als ich auf der Suche nach meinem Dackel das Haus Ihrer Frau Mutter betrat. Schon als ich Sie auf der Straße traf, verliebte ich mich in Sie, da nahm Ihre äußere Erscheinung mein Herz gefangen, da hatte ich nur den einen Wunsch, Sie möchten mir einst angehören, und als ich dann bei meinen Besuchen hier im Hause Sie und Ihren Charakter näher kennenlernte, da wuchs meine Liebe zu Ihnen immer mehr und mehr, obgleich ich mit aller Gewalt gegen die ankämpfte, obgleich ich vor der zu fliehen versuchte. Ich wollte mich nicht in Sie verlieben, wenigstens nicht mehr, als ich schon von Anfang an in Sie verliebt war, und deshalb kam ich nicht so oft zu Ihnen in das Haus, so leidenschaftlich gern ich auch täglich, wenn nicht sogar zweimal täglich, zu Ihnen gekommen wäre.”

„Und warum kamen Sie denn nicht öfter?” fragte sie ihn, da sie ihn absolut nicht verstand. „Und warum kämpften Sie gegen Ihre Liebe zu mir an? Warum wollten Sie mich fliehen? Haben Sie mir schon so vieles gestanden, dann müssen Sie mir auch noch das erklären.”

„Gewiß muß ich das und ich will es auch,” pflichtete er ihr bei, um dann nach einer langen Pause, während sie ihn erwartungsvoll ansah, langsam und stockend hinzuzusetzen: „Sie wissen, gnädiges Fräulein, daß ich Sie nicht heiraten kann.”

Aber daß Sie mich heiraten sollen, verlange ich ja auch gar nicht von Ihnen, ja muß man denn bei dem Worte Liebe immer gleich an die Ehe denken, kann man sich nicht auch heimlich und im Verborgenen lieben und erhöht das nicht erst recht den Reiz der Liebe? Das und vieles andere, das ihr blitzschnell durch den Kopf schoß, hätte sie ihm gern auf seine Worte zur Antwort gegeben, aber sie tat es nicht, weil er ihr erklärt hatte, er könne sie nicht heiraten, und sie wisse davon. Das Wort „er könne” nicht, machte sie stutzig. Ja, wenn er ihr offen erklärt hätte, er wolle nicht heiraten, er wolle das wenigstens in absehbarer Zeit nicht, dann wäre das etwas anders gewesen, das hätte sie ihm nachgefühlt und das hätte sie auch sofort begriffen, denn viele Männer haben ja nun einmal eine Abneigung gegen die Ehe. Aber was hieß das, er könne sie nicht heiraten? Und mit einem Mal wußte sie, warum er das nicht konnte. Wie hatte sie das, verliebt wie sie in ihn war, auch nur einen Augenblick vergessen können? Aber nun, da sie es wieder wußte, machte sie ihre Rechte schnell und beinahe gewaltsam aus seinen Händen frei und rief ihm anklagend und vorwurfsvoll zu: „Deshalb also! Auch Sie gehören zu jenen kleinlichen Menschen, die da die Ansicht vertreten, die Schuld der Väter müsse sich an den Kindern rächen bis ins dritte und vierte Glied und die Kinder müßten büßen für das, was die Väter —”

Doch er ließ sie ihre Anklage nicht zu Ende sprechen, sondern schnitt ihr mit einer raschen energischen Handbewegung das Wort ab, um ihr seinerseits zuzurufen: „Halten Sie mich wirklich für so kleinlich und für geistig so beschränkt, gnädiges Fräulein, wie Sie es mir eben vorwarfen? Ja noch mehr, würde es mir gelungen sein, Ihre Liebe zu gewinnen, wenn Sie geglaubt hätten, ich könne auch nur eine Sekunde so urteilen, wie Sie es vermuten? Um das, was die Leute über Ihren verstorbenen Herrn Vater reden, habe ich mich von Anfang an auch nicht einen Augenblick gekümmert. Nein, gnädiges Fräulein, Ihr verstorbener Herr Vater steht nicht zwischen uns, ich würde Sie selbst dann um die Ehre bitten, meine Frau zu werden, wenn Ihr Herr Vater noch lebte und wenn er, von einem Gericht für schuldig erklärt, heute im Gefängnis säße. Mich hindert etwas ganz anderes daran, Sie um Ihre Hand zu bitten, und ich dachte, Sie wüßten davon, obgleich Sie ja kaum unter Menschen gehen. Aber trotzdem ist es sonderbar, daß Sie noch nichts davon erfuhren, denn ich habe in meinem Bekanntenkreis ganz offen davon gesprochen.”

Bei seinen männlichen Worten, bei der Art, in der er über ihren Vater sprach, bei seiner großen Liebe zu ihr, die aus allem, was er sagte, deutlich heraus klang, hatte sie schon lange ihre Rechte wieder in seine Hände gelegt und fragte ihn nun mit einer Stimme, die ihm deutlich verraten mußte, wie sehr sie ihn auch um seines mutigen Geständnisses willen liebte: „Und was ist das, was Sie offen Ihren Bekannten erzählten?”

Absichtlich stellte sie ihre Frage in dieser Form, sie gebrauchte dieselben Worte wie er, sie vermied es mit kluger Berechnung, ihn darüber auszuhorchen, was denn sonst noch für ein Ehehindernis vorliegen könne, denn er sollte nicht einen Augenblick auf den Gedanken kommen, sie habe sich nur deshalb in ihn verliebt, um dereinst seine Frau zu werden.

Er gab ihr nicht gleich Antwort, wie sie erwartet hatte, sondern saß ihr ein klein wenig verlegen gegenüber, bis er schließlich meinte: „Der Grund, der mich hindert, Sie um Ihre Hand zu bitten, gnädiges Fräulein, ist für mich nicht sehr schmeichelhaft und deshalb bitte ich auch um die Erlaubnis, mich darüber nur ganz kurz äußern zu dürfen, und da möchte ich nur folgendes sagen: ich war nicht immer so wohlhabend wie ich es heute bin. Es gab eine Zeit, in der ich durch meine eigene Schuld, durch meinen flotten Lebenswandel sehr tief im Wurstkessel saß, wie man das so nennt. Ich saß so tief drinnen, daß nicht nur meine Karriere, sondern auch meine Ehre auf dem Spiel stand und daß mir nichts anderes übrig blieb, als mich an einen reichen, kranken, durch eine unglückliche Ehe sehr verbitterten, kinderlosen Onkel zu wenden. Ich wußte es im voraus, daß der Gott weiß was alles von mir verlangen würde, ehe er mir hülfe, vorausgesetzt, daß er es überhaupt tun würde. Aber als ich dann bei ihm war, kam ich nach meiner damaligen Ansicht viel, viel besser davon, als ich es zu hoffen gewagt hätte. Der Onkel erklärte sich nicht nur bereit, mir meine Schulden zu bezahlen und mir, solange er noch lebe, einen sehr anständigen jährlichen Zuschuß zu geben, er gelobte mir sogar mit seinem Eid, mich, da seine Frau bereits vor ein paar Jahren gestorben war, zu seinem Universalerben einzusetzen, falls ich ihm meinerseits mein Ehrenwort darauf geben würde, niemals zu heiraten, damit ich in meiner späteren Ehe nicht vielleicht ebenso unglücklich würde, wie er es gewesen sei. Wie gesagt, gnädiges Fräulein, ich war auf viel schlimmere Bedingungen gefaßt gewesen, das Messer saß mir außerdem haarscharf an der Kehle und daran, zu heiraten, hatte ich damals überhaupt noch nicht ernstlich gedacht. So gab ich mein Ehrenwort und als der Onkel zwei Jahre später starb, erbte ich alles, was er hinterließ. Es war sogar noch viel mehr, als ich erwartete, aber als ich das Testament durchlas, stand in dem ein Satz, über den ich damals lachen mußte, denn es hieß in dem dem Sinne nach: ich bliebe an mein Ehrenwort bis an mein Lebensende gebunden, ich könne und dürfe mich auch dem nicht dadurch zu entziehen versuchen, daß ich später, falls ich einmal den Wunsch hätte, zu heiraten, das ererbte Geld von mir würfe oder es verschenke. Damals, gnädiges Fräulein, habe ich über diesen Satz gelacht, aber seitdem ich Sie kenne, und seitdem ich Sie liebe, lache ich nicht mehr. Jetzt verwünsche und verfluche ich die Stunde, die mich zwang, meinen Onkel um Hilfe zu bitten, die Stunde, in der ich leichtsinnig mein Ehrenwort verpfändete, das ich halten muß, wenn ich nicht vor mir selbst und vor den Menschen ehrlos werden will. Und ich darf nicht ehrlos werden, trotzdem ich Sie über alles liebe, und Sie wissen ja, gnädiges Fräulein, wie ich Sie liebe.”

Und mit einem Mal lag er vor ihr auf den Knien und gestand ihr in so glühenden Worten seine Liebe, daß sie zuerst glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Wohl hatte sie es geahnt und bemerkt, daß er auch sie liebe, aber daß er keinen anderen Gedanken mehr hätte als nur sie, daß er bei Tag und bei Nacht an sie dachte, das und vieles andere mehr, das sich nun in überströmender Leidenschaft seinem Herzen und seinen Lippen entrang, das hatte sie nicht gewußt. Wohl hatte sie es sich gewünscht, daß die Liebe auch ihn ergreifen möchte, aber nun, da sie sich über alles geliebt wußte, durchströmte ein grenzenloses Glücksgefühl ihr Herz und ihren Körper, daß sie hätte laut aufjauchzen und aufjubeln mögen, daß sie drauf und dran war, sich zu ihm niederzubeugen, ihre Arme um seinen Hals zu legen, ihre Lippen auf seinen Mund zu pressen und ihn so heiß, so wild und so voller Leidenschaft zu küssen, wie sie es nur irgend konnte. Aber nein, sie durfte ihn nicht zuerst küssen, sie mußte darauf warten, bis er sie küßte, dann aber wollte sie ihn wiederküssen, wie er noch nie geküßt worden war, und voll glühendster Ungeduld wartete sie darauf, daß er sie endlich, endlich küssen möge. Um sie aber küssen zu können, mußte er zunächst wieder aufstehen und das tat er denn auch. Aber als er sich erhoben hatte, da küßte er sie nicht, sondern sagte: „So, gnädiges Fräulein, nun wissen Sie, wie es in mir aussieht, wie ich mich aus Liebe zu Ihnen verzehre, wie ich körperlich und seelisch leide, weil ich nicht weiß, wohin die Liebe führen soll. Das heißt, ich wüßte das schon, gnädiges Fräulein,” fuhr er nach einer kleinen Pause fort, „eine Lösung gäbe es schon für uns beide, eine Lösung, die einzige, die ich in den vielen Stunden gefunden habe, in denen ich mir mein Gehirn zermarterte. Eine Lösung gibt es und da ich seit heute weiß, wie sehr auch Sie mich lieben, habe ich den Mut, ganz offen zu Ihnen zu reden und Ihnen zu sagen: fliehen Sie mit mir in eine Großstadt, wo man nicht so kleinlich denkt wie hier, oder noch besser, lassen Sie uns in das Ausland gehen. Ich reiche sofort meinen Abschied ein und lebe nur noch für Sie. Ich bin reich genug, um dauernd für uns beide sorgen zu können. Sie brauchen von dem Geld Ihrer Frau Mutter für sich nichts zu verlangen. Selbst wenn die dereinst die Augen schließen sollte, wäre es mir lieb, wenn Sie auf das Erbe verzichteten, denn ich will nur Sie, nur Ihre Seele, Ihr Herz, Ihre Liebe und Ihren Körper. Das alles sollen Sie mkir schenken. ich aber will Sie vor Gott und vor den Menschen halten wie meine Frau, wenngleich Sie die nach dem Gesetz nicht sein können. Ich will ihnen nicht nur ewige Liebe, sondern auch ewige Treue schwören und keine Strafe soll für mich schwer genug sein, wenn ich den Schwur jemals bräche,” und hoch aufatmend schloß er: „Das ist das, gnädiges Fräulein, was ich Ihnen als einzige Lösung für uns beide vorzuschlagen weiß, und deshalb frage ich Sie ganz offen und frei, wollen Sie meine Freundin, meine Geliebte werden?”

Mit feurigen Worten, sie mit seinen leidenschaftlich flehenden Blicken beinahe verzehrend, hatte er zu ihr gesprochen und jedes seiner Worte, das ihr in das Ohr klang, war eine süße, wollüstige, berauschende Musik, die ihre Sinne umschmeichelte, die ihr Denken verwirrte, die sie willensschwach und energielos machte, die sie berauschte, bis sie plötzlich wieder zu sich kam, als er sie mit nüchternen banalen Worten fragte, ob sie seine Freundin, seine Geliebte werden wolle. Da war ihr, als stürze das Liebesschloß, in dem sie bisher mit ihm gewohnt und von dessen Türmen sie an seiner Seite in ein weites herrliches Land geschaut hatte, mit Donnerkrachen in sich zusammen, daß sie zurücktaumelte und ihn fassungslos anstarrte, bis sie nun plötzlich die Hand erhob und ihm in das Gesicht schlug.

Sie sah, wie er erblaßte, totenbleich stand er da, nur die Spuren ihrer Finger hoben sich dunkelrot von seiner Wange ab, während er sich mit seinen beiden starken Händen an eine Stuhllehne klammerte, daß sie jeden Augenblick glaubte, das Holz müsse unter seinen Fingern zerbrechen. Kein Wort kam über seine Lippen, sie hörte nur, wie seine Brust schwer atmete, wie die keuchte und wie die sich stürmisch hob und senkte, bis er ihr dann endlich zurief: „Den Schlag werden Sie bereuen, gnädiges Fräulein, den werden Sie bereuen, so wahr ich Sie geliebt habe.”

Gleich darauf ging er und wie sie es erwartet hatte, durcheilte am nächsten Morgen die Schreckenskunde die kleine Stadt, daß Herr von Wangenberg in seiner Wohnung erschossen aufgefunden worden sei, ohne daß er auch nur die kleinste Zeile zurückgelassen hätte, die Aufklärung darüber gäbe, was ihn in den Tod getrieben habe.

Als die Nachricht von seinem Tode auch zu ihr gelangte, war es das erste, daß ihr wieder seine Worte einfielen: „Den Schlag werden Sie bereuen, gnädiges fräulein, so wahr wie ich Sie geliebt habe.” Aber wenn er damit gemeint hatte, sie werde den Schlag bereuen, weil sie ihn durch den in den Tod trieb, dann irrte er sich sehr. Ach nein, seinen Tod bereute sie nicht einen Augenblick, denn daß sie ihn schlug, ja, daß sie ihn hatte schlagen müssen, war einzig und allein seine Schuld. Wie hatte er so roh, so taktlos sein können, sie erst zu fragen, ob sie seine Geliebte werden wollte? Warum hatte er sie nicht, ohne sie erst zu fragen, einfach zu seiner Geliebten gemacht?

Darauf, daß er das nicht tat, sondern daß er sie erst fragte, ob sie seine Geliebte werden wolle, gab es, je länger sie darüber nachdachte, nur eine Antwort: sie mußte es ihm nicht deutlich genug gezeigt haben, wie lieb sie ihn hatte, wie ihr Herz, ihre Seele und ihr Körper sich nach ihm sehnten, sie mußte es ihm nicht deutlich genug verraten haben, welch heißes Blut zuweilen in ihren Adern rann, denn sonst hätte er es ganz sicher nicht gewagt, eine so rohe, so brutale, aber auch so eine banale Frage an sie zu stellen.

Nicht was sie getan hatte, bereute sie, wohl aber das, was sie zu tun unterlassen hatte. Das aber bereute sie fortan täglich, das bereute sie jahraus, jahrein, das bereute sie so, daß die tiefen Ringe unter ihren Augen nicht mehr fortgingen, daß ihre Nase immer spitzer und spitzer wurde und daß ihr die Haare immer mehr und mehr ausgingen.

Mit einem schweren Seufzer klappte Tante Malwine das Buch ihrer Erinnerungen, in dem sie in Gedanken geblättert hatte, wieder zu. Aber die Reue schwnad nicht dahin, die fraß und zehrte auch heute wieder an ihr. Wie hatte sie damals nur so dumm sein können, ihm nicht noch deutlicher zu zeigen, daß sie mit tausend Freuden bereit gewesen wäre, alles, aber auch alles für ihn zu tun.

Vor allem aber, wie hatte sie so dumm sein können, das so zu bereuen, daß sie darüber vor der Zeit spitznasig und kahlköpfig wurde, so daß kein anderer Mann mehr seine Augen zu ihr erhob?

Wie hatte sie nur so dumm sein können, das, was sie zu tun unterließ, derartig zu bereuen?

Und daß sie so dumm gewesen war, das war, wenn sie ganz offen und ehrlich gegen sich selbst sein wollte, das einzige, was sie bereute.


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© Karlheinz Everts