Leutnantskummer.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.

in: „Deutsche Lesehalle”,
Sonntags -Beilage zum Berliner Tageblatt, Nr. 2, 14.1.1894, Seite 9,
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 27.5.1894,
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 31.5.1894,
in: „Indiana Tribüne” vom 17.6.1899
und in: „Aus der Schule geplaudert”.


Ich hatte mich an meinen Schreibtisch gesetzt, um zu arbeiten: da öffnete sich die Tür, und herein trat, ohne vorher angeklopft zu haben, mein Kamerad, der Leutnant Basedow, Sr. Majestät Schönster, wie wir ihn wegen seiner Häßlichkeit stets scherzhaft zu nennen pflegten. Aber obgleich ich, da Basedow über mir wohnte und viel mit mir zusammenkam, an sein Äußeres gewöhnt war, erschrak ich dennoch, als er bei mir eintrat: seine großen Augen waren noch weiter geöffnet als sonst, seine Ohren standen noch mehr ab, als unter normalen Verhältnissen, seine Sommersprossen, die ihn auch im Winter nicht verließen, hatten noch nie so geleuchtet wie heute, und seine kurzen, borstigen Haare schienen mir noch steiler als sonst in die Höhe zu stehen.

„Um Gottes willen, was fehlt dir?” fragte ich ihn, während ich ihn in einen bequemen Lehnstuhl zur Seite des wärmenden Ofens niederdrückte, „bist du krank, hat die hochmoderne Influenza auch dich ergriffen? Kann ich dir mit irgend etwas dienen, so sprich, es steht alles zu deiner Verfügung.”

„Wenn du ein gutes Werk tun willst,” sagte er endlich, „so gib mir, bitte, eine Zigarre — nein, bitte, nicht von diesen, sondern aus jener kleinen Kiste, die den einfachen Namen Uppmann führt — du weißt, ich bin nicht verwöhnt. So, und nun reiche mir einen Kognak, aber einen großen, denn ich bedarf der Stärkung. So, und nun höre.”

Und während er den Rauch der schönen Zigarre, von der ich als sparsamer Mensch mir höchstens alle fünf Minuten einen Zug gönne, in dichten Wolken von sich stieß, hub er also an:

„Das Leben ist schwer, das ist eine alte Geschichte, ja, manche behaupten sogar, dies Leben wäre eine der schwersten, und die größten Philosophen haben dies nicht wegzuleugnen vermocht. Ein weiser Mann, Schopenhauer, glaube ich, heißt er, hat einmal irgendwo behauptet, das Leben wäre so traurig, daß es sich gar nicht lohnte, geboren zu werden, und ein anderer, noch weiserer Mann, Julius Stettenheim, hat einmal die Behauptung aufgestellt, das höchste Glück auf Erden wäre, ein totgeborenes Kind zu sein.

Dem sei nun, wie ihm wolle, die Traurigkeit des Daseins steht fest, und wenn ein Mensch auf der Welt es schwer hat, so ist es der Offizier. Kürzlich las ich irgendwo, der Offizier wäre überhaupt kein Mensch, sondern nur eine Maschine. Aber nicht einmal das sind wir: die Maschine ist uns in einem Punkt bedeutend über, sie kann streiken. Wenn ihr das ewige Einerlei langweilig wird, bleibt sie eines schönen Tages stehen und freut sich über die Gelehrten, die mit dem Finger an der Nase herumstehen und nach dem Fehler im Mechanismus suchen. Hat sie sich etwas erholt und fällt ihr ein, daß sie in der Zeitung gelesen hat, daß bei einem Streik doch nichts herauskommt, dann fängt sie von selbst wieder an zu gehen, und die weisen Männer schütteln dann ihr Haupt und sagen: I, wie sonderbar.

Aber wir können nicht einmal streiken, und doch könnte ich es keinem verdenken, denn die Langeweile, die man auch den schlimmsten Feind der Menschen nennt, erzeugt gar wunderliche Gedanken. Wo aber, frage ich, bemächtigt sich die Langeweile unser mehr, als beim Exerzieren, und da wiederum besonders bei dem ‚Rekrutenexerzieren’.   ‚Wie seltsam, es trifft mich immer wie ein Schlag, das ist das Wort, das ich nicht hören mag,’ sagt Faust in seinem zweiten Teil.

Sieben Jahre sind es nun her, daß ich Leutnant wurde. Als ich zum erstenmal im Schmuck der Waffen prangte, kannte mein Stolz und meine Freude keine Grenzen. Aber schon nach wenigen Tagen fing ein Wunsch an, sich in meiner Heldenbrust zu regen. ‚Der jüngste Leutnant’ zu sein, behagte mir dienstlich und außerdienstlich gar nicht; man wird so als Nestküken behandelt, man liest auf allen Gesichtern so eine Art väterlichen Wohlwollens und mütterlichen Mitleids, das ärgerte mich stets. Ich wollte Hintermänner haben, vorläufig nur einen, damit wollte ich mich bis auf weiteres begnügen. Und der Himmel meinte es gut mit mir; eines Tages konnte ich dem jüngeren Kameraden wohlwollend auf die Schulter klopfen und ihn darauf aufmerksam machen, daß sein Anzug nicht ganz vorschriftsmäßig sei. Wie war ich glücklich.

Aber es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken, auch wenn man keine Jungfrau von Orleans ist. Dieser eine Hintermann genügte mir bald nicht mehr, ich sehnte mich nach neuen Reservetruppen, und zwar fing diese Sehnsucht an, als ich zum erstenmal Rekruten exerzierte. Da stiegen meine Wünsche himmelhoch, und ich begehrte gleich ein ganzes Dutzend. Zwölf Kompagnien hat das Regiment, so rechnete ich mir aus, die zwölf Jüngsten exerzieren die Rekruten, folglich fehlen dir noch elfe zur vollen Glückseligkeit. Sieben Jahre habe ich auf diesen Augenblick warten müssen, sieben volle Jahre, und dem Jakob, als er um Rahel warb, kann die Zeit nicht länger vorgekommen sein als mir. Wenn man auf etwas wartet, so gleicht die Sekunde der Minute, die Minute der Stunde, die Stunde aber der Ewigkeit. Und nun sieben volle ganze Jahre!

Ich weiß es noch wie heute, als ich in das Kasino kam und den neuen Kameraden erblickte. ‚Ihr zwölfter Hintermann,’(1) sagte mir der Adjutant. Ich hatte meinen Nachfolger im Amt noch nie zuvor gesehen, aber ich bin ihm um den Hals gefallen und habe ihn abgeküßt, gerade als wenn ich ein Russe wäre, ja, ich habe ihm sogar einen Floh in das Ohr gesetzt, allerdings keinen wirklichen. Ich bin der solideste Mensch unter der Sonne, aber wenn ich mein Leben dadurch retten könnte, ich vermöchte nicht anzugeben, wie ich an jenem Abend nach Hause gekommen bin.

Aber der Himmel sorgt dafür, daß wir Menschen nicht übermütig werden. Als ich am Morgen nach jenem denkwürdigen Tage mit schwerem Kopf wach im Bette lag, brachte mein treuer Bursche mir die Zeitung, und was ich las, machte mir das Blut in den Adern erstarren: Neue Militärvorlage, vierte Bataillone, zwei neue Kompagnien, nein, so grausam konnte der Himmel nicht sein. Dann müßte ich ja noch zwei Jahre Rekruten exerzieren, dann wäre die ganze Freude des gestrigen Tages umsonst gewesen, die hohe Weinrechnung, an die ich mit Schrecken dachte, wäre für nichts angeschafft? Nein, nein, das durfte nie und nimmer geschehen, der Reichstag mußte die Militärvorlage ablehnen, der Schlag würde mich auf der Stelle treffen, wenn sie angenommen würde, und der Staat ist doch verpflichtet, das Leben und die Gesundheit seiner Bürger zu schützen. Not lehrt beten, das ist ein altes Wort. Jeden Morgen und jeden Abend habe ich ein Stoßgebet zum Himmel gesandt, daß die Vorlage durchfiele. Hätte mich jemand belauscht oder meine innersten Gedanken erraten, ich wäre kriegsgerichtlich mindestens zum Tode verurteilt worden. Aber was sollte ich machen; auf Nachersatz konnte ich nicht rechnen, weiß der Teufel, woran es liegt, daß wir keine Fähnriche bekamen. Und sie sollten es so gut bei mir haben, auf diesen meinen Händen wollte ich sie tragen, ich wollte über sie wachen und für sie sorgen, auf daß ihnen kein Unglück zustieße und mir kein Hintermann entginge.”

Einen Augenblick schwieg er, gern hätte ich sein Gesicht gesehen, ich glaube, er weinte vor Freude bei dem Gedanken, der zu schön war, aber wie ein undurchdringlicher Schleier lag der Tabaksqualm über ihm. Nach einer kleinen Weile ertönte seine Stimme wieder aus den Wolken: „Laß mich schweigen von der Minute, in der das vierte Bataillon seinen Einzug hielt. Ich habe an meinem Fenster gestanden und zugesehen, wie die neueingetretenen Rekruten auf dem Kasernenhof antraten. Die Tränen sind mir die Wangen heruntergelaufen, und ich habe gefleht, daß die Erde sich öffnen und die Unglücklichen und mich verschlingen möge. Nach vierzehn Tagen hatte ich mich in mein Schicksal gefunden, man gewöhnt sich ja mit der Zeit an alles. Zweimal noch, dachte ich, dann hast du den Leidenskelch bis auf die Neige geleert. Aber was sind Gedanken und Hoffnungen?

Da muß den guten Zastrow der Teufel reiten, daß er im Klub zuviel Geld verliert. Auf Gnade und Erbarmen kann er bei der durch den Hannoverschen Prozeß(3) gereizten Stimmung nicht rechnen. Was ist die Folge? Der arme Mensch bekommt den Abschied, und ich verliere dadurch wieder einen Hintermann. Nun muß ich noch dreimal Rekruten exerzieren.”

In unnennbarem Weh stöhnte er laut auf, vergebens suchte ich ihn zu trösten, er wehrte mich ab: „Laß gut sein, Lieber, höre weiter, ich bin noch nicht am Ende.

Nachdem ich acht Tage wie ein Verzweifelter umhergeirrt war, schöpfte ich wieder Mut. Schlimmer, als es ist, kann es nun wenigstens nicht mehr werden, sagte ich zu mir, es ist dies ja zwar ein schwacher Trost, aber es ist doch wenigstens einer. Selbst die Prüfungen, die der Herr den Unglücklichen schickt, haben eine Grenze. Aber das Maß meines Leidens ist noch nicht voll.

Es sind nun wohl vierzehn Tage her, da kam eines Abends der kleine Lanslow zu mir auf die Stube gestürmt: ‚Basedow, Mensch, Sie müssen mir helfen, ich kann nicht mehr vorwärts, noch rückwärts, bis über die Ohren sitze ich in Schulden. Raten Sie mir, was soll ich tun; bezahlen kann ich nicht, meinem alten Herrn beichten darf ich nicht, mich totschießen mag ich nicht, was soll ich tun?’

Nach einer kleinen Stunde war es mir gelungen, ihn zu trösten. Ich versprach, ihm zu helfen, ich bin ja reich,für einen einfachen Infanteristen fast zu reich. Ich wollte ihm die Schulden bezahlen, und in monatlichen Raten sollte er mir das Geld zurückgeben. Die einzige Bedingung, die ich daran knüpfte, war, daß die Angelegenheit vollständig unter uns bliebe, keines Menschen Seele durfte etwas daon erfahren. Er versprach alles, ich ließ mir von meinem Bankier tausend Mark schicken, und achtundvierzig Stunden später war er schuldenfrei wie ein neugeborenes Kind. Seine Dankbarkeit kannte keine Grenzen, er wollte mich sogar küssen — mach' dir klar, was das bei meiner Häßlichkeit bedeutet — und diese seine Dankbarkeit war es wohl, die ihn sein Versprechen vergessen ließ. In der Freude seines Herzens hat er nach Hause geschrieben und von dem besten aller Freunde, wie er mich jetzt stets mit einiger Übertreibung zu nennen pflegt, berichtet. Und was ist die Folge?

Sieh diesen Brief, den mir der Postbote vor einer halben Stunde eingeschrieben überreichte; er ist es, der mich von neuem an den Rand der Verzweiflung bringt und alle meine Hoffnungen wieder über den Haufen wirft.

„Durch meinenn Sohn,” so lautet das Unglücksschreiben, „höre ich von dem großen Freundschaftsdienst, den Sie ihm erwiesen haben. Indem ich Ihnen einliegend die tausend Mark zurückerstatte, sage ich Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit und Opferfreudigkeit meinen herzlichsten Dank. Aber ich bin nicht reich, wenigstens nicht so reich, daß ich zum zweitenmal Schulden für meinen Sohn bezahlen könnte. Um diesem vorzubeugen, habe ich bereits an Ihren Herrn Regiments­kommandeur geschrieben und ihn gebeten, umgehend die Versetzung meines Sohnes in eine kleinere, billigere Garnison beantragen zu wollen. Sie aber bitte ich nochmals, meines herzlichsten Dankes versichert zu sein.”

Basedow sprang auf und schlug dröhnend mit der Faust auf den Tisch. „Könnte man nicht rasend werden, wenn man es nicht schon wäre? Ist es zu sagen und zu glauben? Ich habe getan, was in meinen schwachen Kräften stand, und was habe ich erreicht? Daß ich wieder einen Hintermann weniger habe.”

Vernichtet sank er in den Stuhl zurück und vergrub sein Gesicht in den Händen. Dieses Mal weinte er wirklich, ein konvulsivisches Zucken ließ seinen ganzen Körper erzittern. Dann aber sprang er wieder empor und faßte mich krampfhaft an der Schulter: „Du mußt mir helfen, mir raten. Ich ertrage es nicht mehr, ich werde verrückt, tatsächlich verrückt. Es ist, als wenn der Himmel sich gegen mich verschworen hätte, es ist die umgekehrte Regeldetri; je länger ich diene, desto jünger werde ich, paß auf, wenn das so weiter geht, bin ich in einem Jahr wieder der jüngste Leutnant. Und um das zu erreichen, habe ich siebén, sieben lange Jahre gebraucht.”

Aus seinen Worten klang ein so unsagbares Weh, daß sein Kummer mein Herz ergriff: „Gern wollte ich dir helfen,” sagte ich zu ihm, „aber ich weiß wirklich keinen Rat. Schreibe mal eine Postkarte an Hahnke(2), vielleicht fühlt der ein menschliches Rühren und schenkt dir zu Weihnachten einen Hintermann.”

„Mach' keine schlechten Witze,” fuhr er zornig auf, „solche Ratschläge kann ich mir selbst geben.”

„Aber lieber Freund, so beruhige dich doch,” bat ich ihn, „jedes Ding muß doch erst reichlich überlegt werden. Laß mich einmal denken.” Aber vergebens zermarterte ich mir mein Gehirn, wo sollte ich auch auf einmal einen neuen Leutnant herbekommen?

„Wie wäre es mit einer Annonce in irgendeiner großen Zeitung?” wagte ich endlich schüchtern zu fragen. „Gesucht per sofort oder später ein tüchtiger Hintermann. Nur solche Herren, die die feste Absicht haben, nie zu spielen, keine Schulden zu machen und nicht zu sterben, werden um gefällige Angabe ihrer Adressen gebeten.”

In ohnmächtiger Wut fuhr Basedow sich mit beiden Händen durch sein struppiges Haar: „Nicht einmal Erbarmen, nicht einmal Mitleid findet man heutzutage, nur Spott und Hohn überall, wohin man sich wendet. Das aber sage ich dir,” fuhr er zornig fort, während er sich in drohender Haltung mir gegenüberstellte, „das aber sage ich dir, wenn du es dir etwa einfallen lassen solltest, dich auch in der Öffentlichkeit über mich lustig zu machen, oder wenn du gar den Mut hättest, mich in eine deiner Geschichten hineinzubringen, dann kündige ich dir die Freundschaft für ewig und werde mit den Waffen in der Hand dafür Genugtuung fordern.”

Noch einen finsteren Blick warf er mir zu, dann ging er. Aber noch an demselben Abend schrieb ich diese Geschichte, ich fürchte Basedows Zorn nicht. Zwar wird er, wenn er sein Gespräch hier aufgezeichnet findet, furchtbar schelten und toben, aber auf Pistolen fordern wird er mich deshalb doch nicht. Denn es wäre doch immerhin möglich, daß er mich im Duell erschösse, und das wird er doch nicht wollen: denn ich bin ja sein Hintermann.


(1) Im Jahre 1894, seinem 7.Dienstjahr als Leutnant, hatte Frhr. v. Schlicht selbst zum erstenmal 14 Hintermänner und in diesem Jahr waren die 4.Bataillone eingeführt worden!!! (zurück)

(2) Zur Zeit der Niederschrift dieser Erzählung war General d.Inf. v.Hahnke Chef des Militärkabinetts. (zurück)

(3) Dieser Prozeß fand vom 23.Okt. bis 1.Nov.1893 in Hannover statt und fand weiteste Beachtung, besonders wegen der Beteiligung zahlreicher Offiziere — bis hin zum Generalmajor — als Zeugen. Eine ausführliche Berichterstattung findet sich in diesen Tagen im „Hannoverschen Courier” und ein abschließender Kommentar am 3.Nov. 1893. Eine weitere Dokumentation über diesen Prozeß findet man bei Zeno.org. (zurück)


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