Der kranke Oberst.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Simplicissimus”, VII.Jahrgg. Nr. 1, S. 2, 1.4.1902,
in: „Die Fahnenkompagnie” und
in: „Der Gefechtsesel”


Es war am Vormittag nach einem Liebesmahl. Es hatte etwas länglich gedauert, so kurz bis nach halb, wie der dicke Bredow meinte, der sich absolut nicht darauf besinnen konnte, wenn(1) und wie er denn eigentlich nach Haus gekommen sei. Feucht war die Sitzung gewesen, verflucht feucht — über fünfzig leere Schaumweinflaschen standen im Kasino herum, von den Rotwein- und Moselflaschen gar nicht zu reden. Man hatte mächtig gekneipt, einmal aus Angewohnheit, dann aber auch, um sich endlich das Trinken abzugewöhnen, und nun liefen alle mit einem gewaltigen Oelkopf herum — der allgemeine Jammer war groß und abwechselnd verschwand ein Leutnant nach dem anderen in der Kantine, um dort mit einer Flasche Sodawasser die geschwächten Lebensgeister wieder aufzufrischen. Die Stimmung sowohl der berittenen wie der unberittenen Herren war miserabel und sie wurde dadurch nicht besser, daß der Herr Oberst plötzlich Sendboten durch das Land schickte und die Herren Offiziere zu einer Besprechung um zwölf Uhr mittags befahl. In richtiger Erkenntnis der Thatsache, daß allen frische Luft sehr bekömmlich sei, berief er die Herren nicht in das Kasino, sondern nach dem Kasernenhof. Selbstverständlich fluchten alle — nun war es mit der Hoffnung, gleich nach dem Dienst wieder zu Bett gehen und schlafen zu können, wieder einmal doppelkohlensaurer Essig. Es war einfach zum Weinen, aber es half nichts; der Oberst rief und alle, alle kamen, sogar der dicke Etatsmäßige erschien, obgleich er sich gestern die Nase nur deshalb so mächtig begosse hatte, weil er nach seiner Ansicht die Gewißheit hatte, achtundvierzig Stunden lang schlafen zu können. Man sah es ihm an, es ging ihm gar nicht gut.

„Meine Herren,” nahm der Kommandeur das Wort, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß seine Offiziere, wenn zum größten Teil auch nur noch teilweise, am Leben waren, „ich habe Sie zu mir gebeten, um mit Ihnen eine Sache zu besprechen, die mir am gestrigen Abend sehr unangenehm aufgefallen ist: ich meine das Skatspielen, das gestern von einigen unter Ihnen mit einer Ausdauer betrieben wurde, die nach meiner Ansicht einer besseren Sache würdig ist. Sie wissen, wie ich über den Skat denke, nach meiner Meinung ist es die ultima ratio — zu den Karten greift man nur dann, wenn der Stumpfsinn in der höchsten Potenz uns erfaßt. Wir stellen uns selbst ein testimonium paupertatis aus, wenn gleich nach Tisch die Skatpartieen arrangiert werden. Sie, meine Herren, beweisen damit, daß Sie nicht im stande sind, eine Unterhaltung zu führen. Was mögen unsere Gäste aus der Stadt und von den benachbarten Gütern nur gedacht haben — schon derentwegen mußten Sie an der gemeinsamen Tafel sitzen bleiben und Sie durften sich nicht mit ihnen an einen Nebentisch zu einem Skat setzen. Das suchen die Herren doch nicht bei uns, sondern eine heitere Unterhaltung — keinen Skat, den können die Herren ja zu Haus oder in ihrem Stammlokal spielen. Was ich gestern sah, wünsche ich nicht wieder zu sehen, fortan bleiben wir alle an der gemeinsamen Tafel sitzen und wenn die Unterhaltung einmal stockt, dann singen wir ein frisches, fröhliches Lied, wie dies ja bekanntlich in Studentenkreisen üblich ist. Ich habe bereits mit dem Zahlmeister gesprochen, die Mittel sind vorhanden, ich werde eine genügende Anzahl Kommersbücher anschaffen lassen und die werden in Zukunft nach einem Liebesmahl, wenn die Lichter auf den Tisch gestellt sind, an die Herren verteilt werden und dann spielen wir keine Karten mehr, sondern singen. Guten Morgen, meine Herren.”

„Und um diesen Bockmist anzuhören, muß man bei Gott, hol mich der Teufel, am hellen lichten Tage aus dem Bett steigen,” fluchte der Etatsmäßige ingrimmig vor sich hin, dann begab er sich nach Haus, um weiter zu schlafen. Die anderen Herren blieben auf dem Kasernenhof stehen, bildeten chargenweise Gruppen und besprachen die Rede, die sie soeben vernommen hatten. Darüber, daß der Oberst nicht ganz richtig im Kopf sei, wurden sich alle einig — der gestrige Abend entschuldigte zwar viel, aber doch nicht alles. Ein Liebesmahl ohne Skat! Der Kommandeur mußte Flöhe im Gehirn haben und er verkannte die Situation vollständig. Glaubte er denn wirklich, die Gutsbesitzer kämen nur deshalb zum Liebesmahl, um die schlechten Weine zu trinken? Die hatten sie doch auch zu Haus und sicher viel besser. Was ihnen aber fehlte, war der zweite und dritte Mann zum Skat — die Spielpartie lockte, nicht der Wein, und nun wurde der Skat verboten.

„Da werden wir fortan wohl ganz unter uns sein,” meinte ein Ober, „denn mit unserem St. Julien und dem Kalbsvogel locken wir niemanden, stundenlang über Land zu fahren. Und wovon soll man denn schließlich leben, wenn uns die letzte Gelegenheit genommen wird, in einem durchaus einwandfreien Spiel auf die anständigste Art und Weise ein paar Goldstücke zu gewinnen? Anstatt zu spielen, soll man nun singen: Gaudemus igitur, ,Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein' und solchen Unsinn. Wir sind doch keine Studenten.”

„Was meint Ihr?” fragte der dicke Bredow, „ob ich nicht einmal meiner Cousine einen Schreibebrief schicke — die hat einen Vetter, der jetzt zum Militärkabinett kommmandiert ist. Wenn man dem Mann einmal die Augen darüber öffnete, daß unser Kommandeur in den letzten Tagen etwas schwach auf der Brust ist, dann bekommen wir vielleicht einen neuen Herrn.”

Aber die anderen rieten ab, man wollte erst einmal abwarten, wie sich die Sache entwickelte und der dicke Bredow war damit schließlich auch sehr einverstanden. Das Briefeschreiben war doch immerhin eine nicht unbedeutende Arbeit und heutzutage müßte man sich, nach seiner Meinung, das Leben so bequem wie nur irgend möglich einrichten.

So wartete man der Dinge, die da kommen würden, und was da kam, zeigte sich, als nach vierzehn Tagen abermals ein Liebesmahl im Kasino stattfand. Die überaus zahlreich erschienenen Gäste waren auf die Ueberraschung, die ihrer harrte, vorbereitet worden, aber die meisten schienen nicht recht daran geglaubt zu haben, denn sie machten ein ganz erstauntes Gesicht, als ihnen nach Tisch ein Kommersbuch vorgelegt wurde.

„Gott bewahr mich,” sagte der Gutsbesitzer Tüxen, ein wahrer Riese, der früher dem Regiment angehört und sich vor einigen Jahren auf sein ererbtes Rittergut zurückgezogen hatte. „Gott bewahr mich, daß ich in meinem Leben noch einmal aufgefordert würde, zu singen, habe ich mir auch nicht träumen lassen. Wenn das meine Jungens sehen könnten, die ich immer ausschelte, weil sie im Singen stets die schlechteste Censur haben — ein wahres Glück nur, daß sie mich nicht hören.”

„Meine Herren,” nahm jetzt der Oberst das Wort, „ich glaube in Ihrem Sinne zu sprechen, wenn ich Ihnen den Vorschlag mache, jetzt ein recht fröhliches Lied zu singen, vielleicht Gaudeamus igitur. Die Musik spielt den ersten Vers vor.”

Das geschah.

„Also jetzt, bitte, meine Herren,” mahnte der Herr Oberst. Aber außer dem Herrn Oberst sang kein Mensch, nur ein Fähnrich hatte den Versuch gemacht mitzusingen, aber sein Tischneber(2) stieß ihn sofort so energisch gegen die Schienbeine, daß auch er es vorzog, den Mund zu halten.

Der Oberst sang den ersten Vers ganz allein — Schaudern ergriff alle, die es mit anhörten.

„Der kann noch falscher singen als ich,” sagte der Rittergutsbesitzer Tüxen freudestrahlend halblaut zu seinem Nachbar, „darauf wollen wir einmal anstoßen. Prosit.”

Als der Herr Oberst mit seinem Solo fertig war, wandte er sich an die Tafelrunde. „Meine Herren, ich darf Sie wohl bitten, den nächsten Vers mitzusingen — den Herrn meines Regiments befehle ich es.”

Noch bevor die Gesellschaft sich von ihrem Erstaunen ob dieser kurzen, aber sonderbaren Rede erholt hatte, bat der dicke Etatsmäßige: „Ich bitte mich vom Singen zu dispensieren, Herr Oberst, ich bin heiser.”

„Ich auch,” rief der Rittergutsbesitzer Tüxen. „Ich auch — ich auch — ich auch!” ertönte es überall.

„Aber meine Herren,” mahnte der Kommandeur, „es singt ein jeder so gut er kann, also bitte jetzt, meine Herren.”

Der Cantus stieg — leise schlichen die im Augenblick unbeschäftigten Ordonnanzen zum Saal hinaus, zum Anhören war der Gesang nicht: der Rittergutsbesitzer Tüxen sang Gaudeamus igitur nach der Melodie von „Heil dir im Siegerkranz” und ein gänzlich unmusikalischer Leutnant sang den Text nach dem berühmten „Ist denn kein Stuhl da, Stuhl da — für meine Hulda, Hulda, Hulda.”

Der Herr Oberst konnte zwar nicht singen, aber er war trotzdem sehr musikalisch und hatte ein sehr feines Gehör: so krümmte er sich eben jetzt vor Entsetzen und litt wirklich körperliche Schmerzen.

„Aber meine Herren — meine Herren — ich bitte Sie — höher — tiefer — viel zu hoch und Takt — aber meine Herrn, so geht es nicht — meine Herrn, etwas richtiger können wir vielleicht doch singen, versuchen wir es noch einmal.”

Aber auch der erneute Versuch scheiterte und schließlich konnte sich der Kommandeur der Erkenntnis nicht verschließen, daß seine Offiziere absichtlich so falsch sangen. Der Oberst ärgerte sich maßlos, für den Augenblick aber konnte er nichts dagegen thun — es wurde so gut, oder besser gesagt, so schlecht es ging weiter gesungen.

Am nächsten Vormittag aber erschien der Herr Oberst auf dem Kasernenhof und ein Fluchen hub an, daß allen die Augen übergingen. Alles war schweinisch und hundsmiserabel — die Leistungen der Mannschaften, die Leistungen der Offiziere und die Beaufsichtigung seitens der höheren Vorgesetzten. Vom dicken Etatsmäßigen bis hinab zum jüngsten spindeldürren Fahnenjunker bekamen alle die Wahrheit zu hören.

Als der Oberst sich endlich so heiser geschrieen hatte, daß er keinen Ton mehr in der Kehle hatte, machte er, daß er nach Haus kam. Verwundert blickten ihm die anderen Herren nach und bildeten dann chargenweise Gruppen, um den Angriff, den sie soeben bekommen hatten, zu besprechen.

„Wenn das nicht nur wegen des gestrigen Cantusgesanges war, will ich mich einbalsamieren lassen,” sagte der dicke Bredow, „dem Mann sind die Augen aufgegangen, daß wir gestern absichtlich so falsch sangen. Beweisen kann er uns das ja nicht, da wird er uns angeblich wegen anderer Dinge grob. Was meint ihr, ob ich nicht doch einmal an meine Cousine schreibe? Die hat einen Vetter — ach so, ich sagte es euch ja schon . Aber vielleicht wird es Zeit, daß wir den darauf aufmerksam machen, daß unser Oberst etwas sehr schwach auf der Brust geworden ist.”

Aber man beschloß auch dieses Mal, noch mit dem Schreibebrief zu warten. Alle waren sich darüber einig, daß der Oberst, nach den traurigen Erfahrungen des gestrigen Abends, bei dem nächsten Liebesmahl die Kommersbücher ruhig im Schrank liegen lasse und sie nicht verteilen würde.

Nach einem Monat kam der Tag des nächsten Liebesmahls heran und brachte eine sehr große Enttäuschung: alle Gäste lehnten die Einladung dankend ab, alle waren leider schon anderweitig versagt. Nur einer sagte zu, der Rittergutsbesitzer Tüxen, der schrieb an den Herrn Oberst persönlich: „Euer Hochwohlgeboren freundliche Auforderung, an dem nächsten Gesangsunterricht unter der Leitung Euer Hochwohlgeboren teilzunehmen, acceptiere ich mit bestem Dank und werde mir, Euer Hochwohlgeboren Einwilligung voraussetzend, erlauben, meine drei ältesten Jungens mitzubringen. Die Bengels haben in der letzte Gesangstunde, weil sie so falsch sangen, schon wieder etwas mit dem Stock auf eine gewisse Körperstelle bekommen, und da sie zu Haus keine Gelegenheit haben, sich zu üben, gelingt es ihnen vielleicht unter Euer Hochwohlgeboren bewährter Leitung, zu lernen, was sie in der Schule nicht kapieren.”

Der Oberst dachte natürlich zuerst, das Schreiben wäre ein mehr oder weniger schlechter Witz, als aber der Rittergutsbesitzer wirklich mit seinen drei Söhnen im Kasino eintrat, sprach der Kommandeur einen Augenblick mit dem Kasino–Unteroffizier unter vier Augen. Als nach Tisch der Gesang losgehen sollte, waren die Kommersbücher verlegt und wurden auch nie wieder gefunden. Die Gäste stellten sich bei dem nächsten Liebesmahl wieder ein, der Skat trat wieder in seine Rechte, Gaudeamus igitur wurde füe alle Zeiten begraben und darüber freuten sich alle, nur einer nicht, der dicke Bredow, der hatte nach reiflichem Ueberlegen sich doch entschlossen, an seine Cousine zu schreiben, die den Vetter im Militärkabinett hatte. Drei Tage hatte er zu den zwei Seiten gebraucht, es fehlte nur noch der Schlußsatz und bevor er den „gedeichselt” hatte, wurde der Oberst wieder gesund auf der Brust.

Die ganze Arbeit war umsonst gewesen und das verzieh der dicke Bredow seinem Oberst nie — war der Mann einmal krank, so hatte er auch die moralische Verpflichtung, dauernd krank zu bleiben.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „Wann”. (zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es hier: „Tischnachbar”. (zurück)


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© Karlheinz Everts