Der kluge Adjutant.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Simplicissimus”, VI.Jahrgg. Nr. 17, S. 130-131, 16.7.1901,
in: „New Orleans Deutsche Zeitung” vom 4.8.1901 und
in: „Der nervöse Leutnant”


Die große, fast eine halbe Million Einwohner zählende Handelsstadt war im Vergleich mit anderen viel kleineren Städten seitens des Kriegs­ministeriums in militärischer Hinsicht sehr schlecht behandelt worden — das eine Regiment verschwand spurlos in der Riesenstadt. Nur ein Regiment unter so vielen Civilisten — auf einunddreißig Köchinnen kam ein Soldat und auf sechs lebendige Goldfische ein Leutnant. Aber während der Musketier mit seinen vielen Lieben in Freude und Eintracht lebte und ihnen und sich selbst schwur, alle einunddreißig Bräute zu heiraten, kam der Leutnant nicht dazu, sich eine einzige Braut anzuschaffen — bei den ganz genau rechnenden Kaufleuten stand der Leutnant weit unter pari und ein Geschäft war mit ihm als Schwiegersohn nicht zu machen. Na und nur als Zimmerdekoration? Da that ein Makartbouquet dieselben Dienste und hatte vor allen Dingen den Vorzug, sehr viel billiger zu sein.

Die Leutnants spielten in der Stadt gar keine Rolle, das wußten die Herren auch ganz genau, deshalb ließen sie sich auch gar nicht in Uniform sehen, sondern nur in Civil. Zwar war das verboten, aber das schadete nichts, denn die Gesetze sind bekanntlich dazu da, damit sie überschritten werden.

Aus den Leutnants und selbst aus den Hauptleuten und Stabsoffizieren machte man sich so gut wie gar nichts, desto mehr bewarb man sich um die Gunst Seiner Excellenz des kommandierenden Herrn Generals, der seinen „Sitz”, wie es offiziell heißt, ebenfalls in der Handelsstadt hatte.

Die beiden militärischen Gebäude, die Kaserne und das Generalkommando, lagen nur einige Minuten voneinander entfernt, dem kommandierenden Herrn General war das ganz gleichgültig, aber das Regiment fühlte sich durch die hohe Nachbarschaft sehr beengt. Sobald der Kommandierende sich auf seinen Ausfahrten, seinen Spaziergängen oder seinen Ausritten der Kaserne näherte, hieß es: „Um Gottes willen, Excellenz kommt.” Zwar war es bisher noch nie geschehen, daß Excellenz unangemeldet den heiligen Boden des Kasernenhofes betreten hatte, aber es konnte doch einmal geschehen und dieser Gedanke allein genügte, um die Gemüter zu beunruhigen.

Trotzdem sich die beiden militärischen Kommandobehörden so nahe waren, fand ein direkter Verkehr zwischen ihnen nicht statt — alle Befehle von oben und alle Zuschriften von unten gingen, wie das Gesetz es befiehlt, den vorgeschriebenen Instanzenweg. Von dem Regiment wanderte das Schreiben zuerst an die Brigade, die ihren Sitz in einer etwa 60 Kilometer entfernten Stadt hatte, von da ging es zur Division, die wieder in einer anderen Stadt saß, die von der Brigade 127 Kilometer entfernt war und von dort erst ging es zu dem Generalkommando. Zurück ging es auf dem umgekehrten Wege, da kam erst die Division, dann die Brigade und zuletzt das Regiment.

Der Weg war zwar nicht der kürzeste und geradeste, aber er hatte dienstlich seine großen Vorzüge und so waren beide Teile glücklich, das Generalkommando hatte es nicht nötig, mit einem so subalternen Wesen, wie ein Regiment es ist, sich direkt abgeben zu müssen und der Herr Oberst freute sich, die Dummheiten, die er mit seiner ihm anvertrauten Truppe zuweilen anstellte und die förmlich nach einem Anpfiff von oben schrieen, nicht direkt, sondern erst auf Umwegen an Excellenz melden zu müssen.

Da geschah es eines Tages, daß der kommandierende Herr sein Kommen zu der am nächsten Morgen stattfindenden Rekrutenbesichtigung auf dem Instanzenweg anmeldete.

Ueber diese Nachricht freute sich niemand, weder die Rekruten, noch die Unteroffiziere, noch die Offiziere — am allerwenigsten freute sich der Herr Oberst. Der saß auf dem Regimentsbureau neben seinem Adjutanten und brütete sogar ingrimmig vor sich hin.

„Das kommt davon, wenn man mit einem so hohen Herrn zusammen in derselben Stadt wohnt,” schalt er mit lauter Stimme, ohne auf die Schreiber Rücksicht zu nehmen, die in der Stube nebenan sich selbst zur Freude, dem Staate zum Nutzen, den Soldaten zum Frommen einen Bogen Papier nach dem anderen voll schrieben. „Das kommt davon: was will Excellenz morgen hier? Das ist, fast hätte ich gesagt, ein Eingriff in meine Rechte — ich besichtige nach den Bestimmungen die Rekruten, nicht der kommandierende General, der hat gefälligst bis zur Kompagnie­vorstellung zu Haus zu bleiben. Nun schreibt Excellenz zwar, er werde nicht selbst besichtigen, sondern der Besichtigung nur beiwohnen — in der Theorie klingt das ganz schön, aber in der Praxis ist das nicht eitel Gold, sondern eitel Unfug. Ich kenne meine Pappenheimer und meine Vorgesetzten — nach der ersten halben Stunde hängt Sr. Excellenz das ,Beiwohnen' unmittelbar neben seinen vielen Orden zum Hals heraus, er fängt an sich zu langweilen und das Ende vom Liede ist, daß nicht die Rekruten, wie sie es verdienen, von mir etwas auf den Hut bekommen, sondern daß Excellenz mir grob wird. Das sehe ich mit tötlicher Sicherheit kommen und daß diese Aussicht mich nicht gerade mit Jubel erfüllt, kann sich jeder an seinen elf Zehen abzählen — vorausgesetzt, daß er bei diesen schlechten Zeiten in der glücklichen Lage ist, wenigstens in dieser Hinsicht über einen embarras de rcihesse zu verfügen.”

Wäre der Kommandeur weniger schlechter Laune gewesen, so hätte der Adjutant sich verpflichtet gefühlt, über diesen schwachen Versuch seines Herrn, einen Witz zu machen, zu lächeln, so aber that er, als hätte er nichts gehört, sondern blätterte weiter in dem Schreiben, das von dem Generalkommando gleichzeitig mit der Meldung, daß der General käme, eingelaufen war.

Plötzlich nahm sein Gesicht des Ausdruck starren Schreckens an: „Ich bitte um Verzeihung, Herr Oberst, ich habe das bisher auf eine mir ganz unbegreifliche Weise übersehen — hier schreibt Excellenz: Anzug für die Rekruten morgen: ,Dritte Garnitur'” —

Es hätte nicht viel gefehlt und den Kommandeur hätte der Schlag gerührt, für einen Augenblick verließ ihn die Sprache, dann aber kam er hoch: „Was,” rief er, „dritte Garnitur will Excellenz sehen? Das giebt es nicht, das ist einfach unmöglich, das ist ein Unding, seit Wochen haben die Kompagnien Tag und Nacht daran gearbeitet, die vierte Garnitur in stand zu setzen und nun soll es auf einmal die dritte sein? Nun sollen heute nachmittag noch mehr als tausend Anzüge neu verpaßt, umgeändert und teilweise neu besetzt werden? Und wenn die Heinzelmännchen aus Köln uns zu Hilfe kämen, selbst dann ginge es nicht. Die dritte Garnitur will Excellenz sehen? Das durfte nicht kommen, das nicht.”

Der Herr Oberst sank vernichtet in seinen Stuhl zurück, ihm war mehr als elend zu Mute.

Mitleidig betrachtete der Adjutant seinen Herrn und er ließ ihm einen Augenblick Zeit, sich zu erholen, dann sagte er: „Und doch wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als den Befehl Sr. Excellenz auszuführen — die Brigade und die Division, die das Schreiben des Generalkommandos in Händen hatten, haben ihre zustimmenden Bemerkungen gemacht. Die Brigade hat die Worte dritte Garnitur mit einem Blaustifte unterstrichen und die Division schreibt an den Rand: ,Also dritte, unter keinen Umständen vierte Garnitur.' Wenn der kommandierende Herr General morgen kommt, werden voraussichtlich auch der Herr Divisions- und der Herr Brigade–Kommandeur kommen. Alle wollen die dritte Garnitur sehen, dagegen werden wir schwer etwas machen können.”

Dröhnend schlug der Komandeur mit der Faust auf den Tisch: „Der Teufel soll die Vorgesetzten holen,” rief er.

„Das war das weiseste Wort, was du je gesprochen hast,” stimmte ihm der Adjutant im stillen bei, dann aber sagte er: „Ich glaube, Herr Oberst, daß wir trotzdem den Befehl Sr. Excellenz ausführen müssen.”

Der Herr Oberst stöhnte auf in unnennbarem Weh: „Es geht nicht, es geht weiß Gott nicht. Man darf nichts Unmögliches verlangen. Wenn es sein muß, will ich den Rekruten bis morgen früh noch das Kunststück beibringen, den Parademarsch auf einem Bein zu machen, aber was zu viel ist, das ist nun einmal zu viel! Wenn Excellenz aus mir unbekannten Gründen will, daß ich meinen Abschied nehme, konnte er mir das nach meiner Meinung auf eine andere Art beibringen — der morgige Tag bedeutet mein militärisches Ende, darüber täusche ich mich nicht.”

„Aber Herr Oberst,” widersprach der Adjutant.

„Reden Sie nicht, reden Sie nicht,” unterbrach ihn der Kommandeur, „die nicht passenden Rockkragen der dritten Garnitur schnüren mir den Hals zu, da ist nichts zu wollen. — Aber ich will noch nicht sterben, noch nicht,” fuhr er nach einer kleinen Pause fort, „ich fühle den Wunsch in mir, erst noch eine höhere Pension zu verdienen, in dieser Hinsicht ist es nach meiner Ueberzeugung Ehrenpflicht eines jeden Bürgers, den Staat zu schädigen, soweit er es nur irgend kann. Nein, ich will noch nicht sterben,” wiederholte er noch einmal. „Denn daß ich eine schöne militärische Leiche sein würde, bezweilfle ich keinen Augenblick, aber trotzdem lockt mich der Gedanke, morgen zu sterben, absolut nicht. Und darum giebt es nur eins, Sie werden nachher zu Sr. Excellenz, dem kommandierenden Herrn General, hingehen und ihm sagen, wie die Sachen stehen — beharrt Excellenz auf seiner Absicht, dann trinke ich Peptonthee, bade zu Hause und schmücke mein Heim mit Diaphanien, obgleich ich die Dinger wie die Sünde hasse. Vielleicht plätte ich dann auch Dalli, ich weiß noch nicht, was ich dann thue, nur daß ich dann heute nacht den Imperativ: „Schlafe patent” nicht befolge, glaube ich schon jetzt beschwören zu können. Sobald Sie mit Excellenz gesprochen haben, geben Sie, wenn es nötig ist, den Befehl in Betreff der dritten Garnitur an die Kompagnieen aus, sonst bleibt alles beim alten — mir selbst brauchen Sie keine weitere Meldung zu erstatten, ändern kann ich an dem unter Umständen bevorstehenden désastre doch nichts, höchstens werden die Hauptleute nur noch konfuser, als sie es sowieso schon sein werden, wenn ich mich auch noch dazwischen mische. Oder wissen Sie was?” setzte der Kommandeur nach einer kleinen Pause hinzu, „lassen Sie mich heute abend spät oder morgen ganz früh eine kurze schriftliche Meldung zu Hause von Ihnen vorfinden, ob dritte oder vierte Garnitur — je später, desto besser, dann komme ich nicht erst in Versuchung, die Kaserne nervös zu machen.”

Aufmerksam hatte der Adjutant zugehört; er war keine Zierde seines Berufes, es ging ein Gerücht durch die Welt, daß es klügere Regiments­adjutanten gäbe und daß er seine Stellung mehr der Protektion, seinem guten Aeußeren, seiner hohen Zulage und seinen schönen Pferden verdanke als seinen etwas unter dem Nullstrich stehenden geistigen Fähigkeiten. Außerdem hatte der Adjutant noch einen großen geistigen Fehler: er klebte an den Buchstaben des Gesetzes, ihm fehlte jedes selbständige Denken und Handeln.

Von diesen großen Kleinigkeiten aber abgesehen, war er ein äußerst tüchtiger Beamter.

Für viele Leute ist das Schönste an der Arbeit das Ende und so ging der Herr Oberst, als er ausregiert hatte, denn auch glückselig in dem Bewußtsein nach Haus, daß dort das Mittagessen auf ihn warte. Bei seinem Leibgericht, das er sich bestellt hatte, wollte er die Sorge des morgigen Tages vergessen.

Und er vergaß sie, er vergaß sie vollständig, sie fielen ihm erst wieder ein, als auch am nächsten Morgen die erwartete Meldung seitens des Adjutanten noch nicht da war.

Zuerst wollte der Kommandeur sich ärgern, dann aber besann er sich eines anderen und freute sich, daß man ihn nicht mit einer Meldung belästigte, an der er doch nichts mehr ändern konnte.

Er machte sich auf den Weg zur Kaserne und fand dort jene fieberhafte Thätigkeit vor, die überall unmittelbar vor Beginn einer Besichtigung herrscht.

Auf den ersten Blick sah der Herr Oberst, daß die Leute die vierte Garnitur anhatten. Zwei Dutzend Steine fielen ihm vom Herzen, also hatte Excellenz ein menschliches Rühren gefühlt.

Der Kommandeur sah sich nach seinem Adjutanten um, der aber war nicht da. „Er sitzt wohl noch auf dem Bureau,” dachte der Oberst, „ich will ihn mir aber doch lieber holen lassen.”

Aber der Adjutant war nicht auf dem Bureau.

„Nanu?” sagte der Herr Oberst, „wo steckt er denn?”

Niemand konnte ihm Antwort geben und niemand hatte für den Adjutanten Interesse, denn plötzlich erschien der kommandierende General auf dem Kasernenhof und der Schreckensruf: „Excellenz kommt” ertönte durch die Welt.

Der hohe Herr ließ sich melden und schritt die Front hinab.

„Miserabel — miserabel,” schalt er und dann fragte er plötzlich: „Ist das wirklich die dritte Garnitur, Herr Oberst?” Dem Kommandeur wurde schwach: „Nein, Excellenz, dies ist die vierte, die vierte Garnitur.”

Hilfesuchend blickte er sich um, wo war der Adjutant — er war immer noch nicht da.

Excellenz sah den Herrn Oberst an und dieser versuchte, Excellenz wieder anzusehen, aber er versuchte es auch nur. Die Leute hatten einen falschen Anzug an? Das war ein militärisches Vergehen, für das es keine Sühne giebt.

Der Herr Oberst selbst stand still mit der Hand an dem Helm — aber seine Eingeweide krümmten und sträubten sich vor Entsetzen unter dem tadelnden Blick Sr. Excellenz.

„Ob mir wohl ein Cylinder- oder ein Strohhut besser steht?” dachte der Herr Oberst — da erschien der Adjutant. Er sah etwas übernächtig aus, er war nicht gewaschen und nicht rasiert, selbst die Schnurrbartbinde war nicht in Thätigkeit gewesen.

„Wo kommen Sie denn her?” fragte der kommandierende General.

„Von der Wohnung Ew. Excellenz,” gab der Adjutant, der da glaubte, daß der Kommandeur den Kommandierenden bereits aufgeklärt habe, zurück, „da ich gestern den Herrn Divisions–Kommandeur nicht zu Hause antraf, sondern lange auf ihn warten mußte, habe ich den Schnellzug nicht erreicht, sondern mußte mit dem Bummelzug die ganze Nacht durchfahren — vor einer halben Stunde kam ich erst auf dem Bahnhof an und erfuhr auf dem Generalkommando, daß Excellenz bereits hier seien.”

Excellenz sah verwundert auf den Kommandeur, er begriff von alledem nicht ein Wort und auch nur ganz langsam begann es in dem Schädel des Herrn Oberst Tag zu werden.

Aber als der Kommandeur klar sah, stützte er sich schwer auf seinen Säbel, um nicht umzufallen. Sein Adjutant litt nicht nur an Dummheit, sondern auch an temporärer Geistesstörung. Der hatte geglaubt, es gäbe nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich keinen direkten Verkehr, so hatte er sich auf die Eisenbahn gesetzt und war vom Regiment zur Brigade, von der Brigade zur Division, von der Diviion zum Generalkommando gefahren und hatte den Zwischeninstanzen seine Absicht, mit Excellenz zu sprechen, gemeldet.

Der Oberst war verzeifelt, aber über eins freute er sich doch: er pries im stillen das Militärkabinett, daß er nicht der Adjutant war.

Der aber konnte, sobald Excellenz mit Gottes Hilfe fort war, nicht nur ein blaues, sondern ein in allen Regenbogenfarben schillerndes Wunder erleben.

Und er erlebte es.


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© Karlheinz Everts