Die Jockey-Reiterin.

Von Graf Günther Rosenhagen
in: „Preßburger Zeitung” vom 4.8.1895,
in: „Lübecker Eisenbahn-Zeitung” Nr. 127 vom 2. Juni 1896,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 24.Okt. 1896,
in: Humoresken und
in: Humoresken und Erinnerungen.


Wir hatten bei Dressel gut dinirt und der Wittwe Cliqout diejenige Hochachtung erwiesen, die ein Gentleman einer schönen Frau schuldig ist. Ihre stumme, aber doch so beredte Unterhaltung hatte uns in jene undefinirbar sorglose und heitere Stimmung versetzt, die geeignet ist, alle Sorgen und Mühseligkeiten dieses irdischen Daseins vergessen und belächeln zu machen. Wir hatten uns die Havanna angezündet und schauten mit stillem Wohlbehagen den blauen Ringen und Wolken nach, die immer höher und höher stiegen, bis sie endlich, wie so Vieles auf Erden, in ein Nichts zerrannen. Ich zog die Uhr, die Zeiger wiesen auf die neunte Stunde. Ich wandte mich an meinen Freund, den Rittmeister a. D. Strackwitz: „Was nun beginnen, Lieber? Die Zeit für das Mittagessen war nicht ganz glücklich gewählt, es ist ein angebrochener Abend und zum Schlafengehen entschieden noch zu früh, was beginnen?”

„Lassen Sie uns noch auf einen Akt in die Oper fahren,” rief er, „in wenigen Minuten sind wir dort.”

Ich war dagegen; nur jetzt nicht steif und feierlich in dem überfüllten heißen Opernhaus sitzen. Entsetzlicher Gedanke! Es gab ja noch so viele andere Vergnügungen, die besser für unsere Stimmung paßten. Ich ließ mir von dem Kellner die Zeitung bringen und studirte die verschiedensten Anzeigen. „Heureka, ich hab's,” rief ich endlich, „Cirkus Renz(1), erstes Auftreten der weltberühmten Jockeyreiterin Rosita de la Plata, das ist was für uns, da müssen wir hin. Kellner zahlen!”

Aber Strackwitz winkte dem diensteifrig herbeieilenden Jünger Ganymeds ab. „Suchen sir etwas Anderes,” rief er, „in den Cirkus gehe ich, wie Sie vielleicht nicht wissen, nie.”

Erstaunt sah ich ihn an. „Wie, Sie, der frühere schneidige Kavallerie-Offizier, meiden den Cirkus, der Sie, wenn ich den Gerüchten Glauben schenken darf, früher nur für Pferde und schöne Weiber(2) Sinn gehabt haben?”

„Es ist, wie Sie sagen,” antwortete er, „aber nicht jede Passion hält bis an das Lebensende vor, und ich bin von meiner Leidenschaft für den Cirkus und besonders für alle leichtgeschürzten Cirkusdamen gründlich geheilt.” Ein leises verächtliches Lächeln umspielte seinen Mund: „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, lassen Sie uns ruhig bleiben, wo wir sind, lassen Sie uns die Bekanntschaft der schönen Wittwe erneuern und während der Wein in den Gläsern perlt und schäumt, erzähle ich Ihnen von meiner ersten und letzten Cirkusliebe, von meiner Jockey-Reiterin.”

Ich willigte ein und Strackwitz begann: „Es sind nun schon viele Jahre her. Nachdem ich zweimal mit der höchsten Eleganz im Examen durchgefallen war, setzte ich mich endlich, der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, hinter die Bücher und es gelang mir, bei dem dritten Male mit einer knappen Nasenlänge durch das uns gesteckte Ziel zu kommen. In der strengen Zucht und Einförmigkeit des Kadettenkorps groß geworden, sehnte ich mich mit allen Fasern meines Herzens hinaus in die laute, fröhliche Welt, deren Freuden und Genüsse zu kosten mein ernsthaftester Vorsatz war. Von meinem Vater, dessen einziges Kind und verzogener Liebling ich war, mit einer großen Zulage ausgerüstet, trat ich eines schönen Tages bei meinem Regiment ein. Wir lagen damals in einer Garnison, die bei allen großen Vorzügen aber einen Fehler hatte, daß sie sträflich langweilig war. Es gab eine große Geselligkeit, aber die Gesellschaften waren ebenso steif und langweilig wie die Menschen selbst, und die Vergnügungen bestanden in einem sehr guten Theater, das mit Rücksicht auf den kleinen, in unserer Stadt residirenden Hofstaat einer verwittweten Fürstin nur die langweiligsten Opern und die klassischsten Dramen aufführen durfte. Eine Gelegenheit, uns einmal ordentlich zu amüsiren und über die Stränge zu schlagen, ein Begehren, das jeder zweiundzwanzigjährige junge Mensch in sich fühlt, fehlte uns.

Da verbreitete sich das Gerücht, ein damals weit und breit berühmter Cirkus wolle während des Winters in unserer Garnison Vorstellungen geben und wenn der Besuch den Erwartungen entspräche, auch bei uns wie an vielen anderen Orten einen festen Cirkus errichten. Sie können sich denken, mit welcher Freude wir diese auftauchende Nachricht begrüßten: schöne Pferde, Ballet, kühne und verwegene Reiterinnen, das war etwas, wofür unsere Kavalle­risten­herzen Interesse und Verständniß hatten!

Das Gerede nahm mehr und mehr feste Gestalt an, die Zeitungen brachten täglich Notizen und eines Abends wurden denn auch unter dem kolossalen Andrang des Publikums die Vorstellungen eröffnet; daß wir Offiziere uns schon lange vorher für die ganze Spielzeit eine Loge gemiethet hatten und mit der größten Spannung dem Kommenden entgegensahen, ist selbstverständlich. Die Reklame, die wochenlang in allen Blättern gemacht worden war, hatte unsere Erwartungen auf das Höchste gesteigert, aber wir sollten auch nicht enttäuscht werden. Die gebotenen Leistungen waren gut unddie Pferdedressur geradezu hervorragend, dennoch fand sie wie überall den geringsten Beifall. Was versteht das große Publikum auch schließlich davon? Die große Menge setzt es als ganz selbstverständlich voraus, daß das Schulpferd, sobald die Musik einen Marsch spielt, in den spanischen Tritt fällt und bei den Klängen eines Walzers sich ohne Weiteres zu drehen beginnt, sie sieht und kennt die Hülfen nicht, die der Dresseur oder Reiter dem edlen Thier giebt und geben muß. Doch nicht davon wollte ich sprechen. Als Glanznummer war auf dem Programm das Auftreten der Schwestern Rosa und Lilly(3) als Jockey-Reiterinnen angekündigt. Die Musik setzte ein und nach der bekannten Pause, die von Jahr zu Jahr mit der Berühmtheit des Künstlers wächst, kamen sie endlich in die Bahn hereingaloppirt. Die beiden Schimmel, die sie ritten, waren richtige Panneua-Gäule, und sonst nicht viel werth, aber die beiden Reiterinnen waren bildhübsch und die gut geschulte Claque begrüßte sie bei ihrem Auftreten miot einem Beifallssturm, in den wir Alle mit einstimmten. Es waren zwei mittelgroße, schlanke, tadellos gewachsene junge Mädchen im Alter von vielleicht neunzehn bis zwanzig(4) Jahren, die in dem vortheilhaften Jockey-Kostüm und den blau und rothen kurzen(5) seidenen Jacken entzücken aussahen.

Aber das Schönste an ihnen war das Haar. Nie wieder habe ich so lange, dichte blonde Haare gesehen, aufgelöst fielen sie bis über die Taille und wie ein dichter Mantel umflutheten sie die Schultern und das Gesicht, aus denen helle blaue Augen kokett hervorsahen. Nachdem sie mit einem freundlichen(6) Kopfnicken die Grüße erwidert hatten, begannen sie ihre Arbeit. Es war dasselbe, was man schon hundertmal gesehen hat, das Stehen und Tanzen auf dem losen Sattel, das Aufstehen mit verkreuzten Beinen und endlich das Voltigiren auf dem nackten Pferd. Was neu war an ihren Produktionen, war die großartige Sicherheit und die bewunderungswürdige Eleganz. Schließlich wurde ein Gaul herausgeführt und nun kam der Haupttrick: die Sprünge beider Schwestern auf den Rücken ein und desselben Pferdes. Während die Jüngere, Rosa, sich hierbei eines kleinen Sprungbrettes bediente, verschmähte die ältere Schwester diese Hülfe und arbeitete mit einer Kraft und Ausdauer, die ihres Gleichen suchte. Angefeuert durch den rasenden Beifallssturm überbot sie sich selbst, mit unfehlbarer Sicherheit kam sie bei jedem Sprung auf den Rücken des galoppirenden Pferdes zu stehen und setzte schließlich als Schlußeffekt mit einem genialen Satz über dasselbe hinweg. Mein jugendliches Reiterherz war entzückt, begeistert(7), entflammt und als die beiden Jockey-Reiterinnen endlich unter dem nicht endenwollenden Jubel des Publikums die Manege verließen, war ich in die Lilly so verliebt, wie ich es weder vorher noch hinterher jemals wieder gewesen bin. Mein Versuch, mich noch an demselben Abend der kühnen Reiterin vorzustellen, ihr meine Bewunderung und Hochachtung auszusprechen, mißlang, aber am nächsten Morgen schickte ich in aller Frühe einen duftenden Strauß in die Wohnung meiner Angebeteten und ein beigelegtes Billet verrieth ihm meine Gefühle. Mit höchster Ungeduld sah ich am Abend ihrem Auftreten entgegen, aber als ich eine meiner Marschall Niel-Rosen an ihrem Busen entdeckte, jubelte ich in meinem Innern vor nie geahnter Wonne, so hatte sie also meine feurigen Blicke bemerkt und erwiderte die Regungen meines Herzens! Wieder sandte ich ihr Blumen am nächsten Morgen, wieder bat ich in meinem Billet um die Erlaubniß, mich ihr nähern zu dürfen, wieder trug sie am Abend eine meiner Rosen — aber die erbetene Antwort blieb aus.

Es ist eine alte Geschichte, je schwerer etwas zu erobern ist, desto begehrenswerther erscheint es. Ich machte die kühnsten Versuche, die Jockey-Reiterin mir zu erobern, ich sandte ihr die schönsten Blumen, die werthvollsten Geschenke, ja sogar den Pegasus, den edlen Klepper, habe ich ihretwegen bestiegen. Alles vergebens. Abend für Abend stand ich am Eingang, den sie bei dem Betreten der Bahn passiren mußte, stets warf sie mir einen freundlichen Blick zu, wenn sie mich bemerkte.

Das war Alles. Eines Abends hatte ich die Stallmeister mit vielem Geld und wenig Worten dahin gebracht, daß sie es mir zufällig überließen, Fräulein Lilly nach dem Sprung über das Pferd aufzufangen. Es glückte; für eine Sekunde ruhte sie an meiner Brust, ich fühlte das starke, unruhige Schlagn ihres Herzens, ich athmete den sinnberückenden Duft ihrer Haare, ich preßte sie an mich, leise, ganz leise, allen Zuschauern unbemerkbar, aber sie, sie hatte es empfunden, ich fühlte es an dem Blick ihrer Augen — dann riß sie sich mit einem kurzen, fröhlichen Lachen los und war spurlos verschwunden. Spurlos. Wie oft bin ich nach den Vorstellungen um den Cirkus herumgewandert, in der Hoffnung und Erwartung, daß es mir doch einmal gelingen werde, sie anzutreffen; es war vergeblich. Man erzählte sich allerlei Märchen, der alte kleine Herr mit dem fabelhaft großen unechten Diamanten, der jeden Abend mit seiner langen Peitsche die Schimmel in ruhige Galoppsprünge zu bringen habe, sei nicht ihr wirklicher, sondern nur ihr Cirkusvater, der mit Argusaugen darüber wache, daß seinen beiden Zöglingen, von deren Wohlergehen auch seine Existenz abhing, nichts Böses widerfahre.

Genug, die kleine Jockey-Reiterin, die all mein Sinnen, Sehnen und Trachten in Anspruch nahm, blieb, ob freiwillig oder gezwungen, weiß ich nicht, unnahbar, und wie mein Geldbeutel, so litt auch ich selbst unter den Folgen dieser unglücklichen, aufreibenden Liebe. Natürlich blieb meine Schwärmerei für das schöne Mädchen nicht unbemerkt; wie oft bin ich deswegen im Kasino geneckt und gefoppt worden; wie oft hat man mich wegen meiner glänzenden Erfolge verhöhnt und verlacht(8) — ich ließ mir Alles ruhig gefallen, denn, so sagte ich mir, „kommen wird einst der Tag”, einmal wird sie doch mein, dann aber Viktoria! Aber Woche auf Woche, Monat auf Monat verging, ohne daß ich auch nur um einen Schritt vorwärts kam. So kam die Abschieds-Vorstellung heran. Abend für Abend war ich im Cirkus gewesen, ich hatte jede Gesellschaft abgesagt, täglich hatte ich in meiner Loge die wahrhaft großartigen Leistungen bewundert und mich immer und immer wieder gefragt: „Wie ist es nur möglich, daß ein verhältnißmäßig so schlankes und zartes Wesen solche enormen Anstrengungen mit solcher spielenden Leichtigkeit überwindet.” —

Jetzt sollte ich sie zum letzten Male bewundern dürfen und vergeblich zerbrach ich mir den Kopf, wie ich fernerhin ohne sie, die mein ganzes Sein ausmachte, das Leben ertragen würde. Nun war die Entscheidungsstunde gekommen, zum letzten Mal verneigten sich die jungen Mädchen vor dem Publikum, aber immer wieder wurden sie hervorgerufen, immer neue Kränze, Blumen und Geschenke wurden hereingetragen, als letzte kam meine Gabe: auf einem Sammetkissen, von Rosen und Veilchen umgeben, lag ein Brillantschmuck, über dessen Preis selbst mein grenzenlos freigebiger Vater in Exstase gerathen sein würde. Sofort errieth sie den Spender, dankend neigte sie das Haupt mit dem schönen, dichten blonden Haar, und warf mir dann einen Blick zu, einen Blick, der mich in meinem innersten Innern erzittern und erbeben ließ und mir mehr sagte als alle Worte.

Taumelnd vor Glück und vor Wonne erreichte ich meine Wohnung: „Sie liebt Dich, sie wird nicht von Dir gehen, ohne Dir ihre Gunst zu erweisen,” frohlockte mein Herz. Schlaflos verbrachte ich die Nacht, mir die Freuden murmelnd(9), die der kommende Tag mir bringen würde.

Am frühen Morgen überreichte mir der Diener ein zartes Billetdoux, es duftete nach Veilchen und Hyazinthen, kein Zweifel, es war von ihr. Lange wagte ich den Brief nicht zu öffnen, was würde er mir bringen, Leben oder Tod? Endlich faßte ich Muth und las:

„Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank für die schönen Blumen und Geschenke, durch die Sie mir eine große Freude bereitet haben, leider aber ist es mir unmöglich, die letzteren anzunehmen, da ich für sie keine Verwendung habe und schicke sie Ihnen daher zurück.”   (10)   Da fiel mein Blick auf die andere Seite der Karte und wie vom Schlage getroffen, fiel ich in die Kissen zurück. Es waren nur wenige Worte, die dort standen, aber sie trieben mir die Röte der Verlegenheit und der Scham in das Gesicht und gaben mir über Alles Aufklärung, was ich bisher zu begreifen nicht vermocht hatte.”

„Lieber Freund, Sie machen mich neugierig,” unterbrach ich ihn, „sagen Sie,(11) was hatte es für eine Bewandtniß mit Ihrer Jockey-Reiterin?”

Einen Augenblick sah er mich heimlich von der Seite an, als wenn er im Voraus den Eindruck seiner Worte auf meinem Gesicht lesen wollte, dann sprach er langsam, ernst und feierlich:

„Die junge Jockey-Reiterin —”

„Nun?”

„war ein jugendlicher Jockey-Reiter.”


Fußnoten:

(1) Schlichts Erfahrungen mit dem Zirkus, besonders mit dem Zirkus Renz, kann man nachlesen in seinen „Zirkus-Erinnerungen”. (zurück)

(2) In der Buchausgabe „Frauen” statt „Weiber”. (zurück)

(3) Siehe hierzu auch die Erwähnung der Schwestern Loisset aus dem Zirkus Renz. (zurück)

(4) In der Buchausgabe: „von neunzehn und zwanzig”. (zurück)

(5) In der Buchausgabe: „kurzen” fehlt. (zurück)

(6) In der Buchausgabe: „freudigen”. (zurück)

(7) In der Buchausgabe: „entzückt und begeistert”. (zurück)

(8) In der Buchausgabe: „wie hat man mich wegen meiner schnellen glänzenden Erfolge verhöhnt und verlacht”. (zurück)

(9) In der Buchausgabe: „ausmalend” statt „murmelnd”. (zurück)

(10) In der Buchausgabe ist hier ein Satz eingeschoben:
Ich war sprachlos, eine Jockey-Reiterin, die für Brillanten und Diamanten keine Verwendung hatte, erschien mir als das achte Weltwunder. (zurück)

(11) In der Buchausgabe fehlt: „sagen Sie,” (zurück)


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