Der verrückte Hornist.

Humoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Berliner Leben” Zeitschrift für Schönheit und Kunst, 1900/01, H. 1,
in: „Nebraska Staats-Anzeiger” vom 13.12.1900 und
in: „Einquartierung”


Der Herr Major von Osterberg gehörte zu jenen wenigen glücklichen Menschen, die mit sich und ihrem Geschick vollständig zufrieden sind und die da nicht zum Himmel beten, daß es besser wird, sondern die da nur mit dem ganzen Schmelz ihrer Stimme singen: „Ach, wenn es doch immer so blie—be.”

Der Eine singt's im Tenor, der Andere im Bariton — die Stimmen sind verschieden wie die Charaktere und die Geschmäcker — der Eine singt's hoch, der Andere singt's tief.

Der Major sang es tief, denn er verfügte über einen ganz gewaltigen zweiten Baß.

Die Einen sagten, der Major hätte seine tiefe Stimme vom vielen Essen, die Anderen behaupteten: vom vielen Trinken.

Daß der Major viel aß, konnte kein Mensch leugnen, selbst der Herr Major nicht. Er behauptete, es seiner Gesundheit schuldig zu sein.

Er trank schnittweise. Und zu jedem Schnitt gehörte ein Bommerlunder, ein Kümmel — das hatte er sich angewöhnt, seitdem er aus dem warmen Süden nach dem rauhen Norden versetzt worden war. Er war einer der nördlichsten Bataillons­kommandeure und er begriff nicht, warum man ihn nicht mit seinem Bataillon absandte, um Andree zu suchen — er war ja garnicht so weit von Spitzbergen entfernt. Hätte er aber den Befehl bekommen, mit seiner Truppe auszurücken, so wäre ihm das ganz sicher nicht recht gewesen. Er kannte den schönen Vers: „Arbeit und Thätigkeit, ist was das Herz erfreut,” aber er fand die Worte blödsinnig, nach seiner Meinung war nur der glücklich, der noch weniger als gar nichts zu thun hatte.

Er selbst that absolut gar nichts. Böse Zungen behaupteten, er wisse nicht einmal, wo seine Kaserne sei. Das war nun entschieden krasse Verläumdung, aber allzuoft ließ er sich in dem Kasernement allerdings auch nicht sehen. Es ging auch so — wozu hatte er denn einen tüchtigen Adjutanten und einen noch tüchtigeren Bataillonsschreiber? Die regierten ganz allein und wenn es denn einmal garnicht anders ging, dann kamen sie zu ihm in die Wohnung und holten sich rat. Hatten sie Glück, dann ward ihnen, was sie begehrten, hatten sie Pech, was auch zuweilen vorkam, dann wurde der Major zu ihnen grob und verbat sich auf das energischste, ihn wegen jeder Lappalie zu stören. Er hatte, wie er sich ausdrückte, mehr und wichtigeres zu thun, als sich um jede Kleinigkeit zu kümmern.

Der Major that gar nichts, er fühlte sich sicher in seiner kleinen Garnison, in der er sein selbstständiges Bataillon führte. Die Garnison, in der die beiden anderen Bataillone seines Regiments mit einem Hohen Regimentsstab lagen, war weit entfernt und Gott sei Dank war die Eisenbahn­verbindung derartig miserabel, daß kein Vorgesetzter kam, wenn er nicht unbedingt kommen mußte.

Die Vorgesetzten kamen auch nicht, denn unbegreiflicherweise befand sich das Bataillon trotz seines Kommandeurs in tadelloser Verfassung. Daran waren die Herren Hauptleute schuld, die mehr als glücklich waren, einen Vorgesetzten zu haben, der sich um gar nichts kümmerte, ihnen jede Freiheit ließ, ihnen nie in den Dienst hineinsprach und zu ihnen nie grob wurde. Sie wußten, einen solchen Major würden sie nie wieder bekommen und sie suchten sich ihn dadurch zu erhalten, daß sie kolossal diensteifrig waren, um bei den Besichtigungen und im Manöver gut abzuschneiden. Auch die Mannschaften wußten, was sie an ihrem Major hatten, der ihnen keine großen Uebungen ansetzte und den Standpunkt vertrat: „Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß der Soldat ohne Dienst nicht leben kann und mag.”

Vergaßen die Kerls es aber einmal, wie gut sie es hatten und bummelten sie beim Exerzieren, dann sagten die Hauptleute: „Jungs, seid nicht faul. Wenn Ihr bei der Besichtigung nichts leistet, bekommt Ihr einen anderen Major — der ist nicht so gut, das kann ich Euch heute schon sagen. Zwar weiß ich nicht, wer der Nachfolger wird, aber das weiß ich, einen so guten Major, wie Ihr ihn jetzt habt. bekommt Ihr nie wieder. Merkt Euch das!”

Und die Leute merkten es sich und warfen bei dem Exerzieren die krummen Knochen so hoch in die Luft, daß die Sonne sich schnell hinter einer Wolke verbarg, weil sie fürchtete, daß ihr ein Kommißstiefel an die Nase fliegen werde — jener Kommißstiefel, dessen Sohle, wie das Gesetz es befiehlt, sechsunddreißig Eisennägel zieren.

Während die Leute auf dem Exerzierplatz sich ihre Knochen lahm und steif marschierten, lag der Herr Major zu Hause auf seiner Chaiselongue, rauchte und las. Seine Cigarren waren besser als seine Bücher — die ersteren mußten möglichst voll und kräftig, die letzteren möglichst leicht sein, denn der Herr Major war Junggeselle in Worten und in Werken. Mit Vorliebe las er Zola und Casanova, aber auch die Bücher Lombroso's wies er nicht zurück, wenn sie in einem Postpacket aus der Leihbibliothek der Residenz die Schwelle seines — pardon — jungfräulichen Hauses überschritten. Er las alles, nur nicht die drei Bücher, die nur für den Soldaten geschrieben sind: das Exerzierreglement, die Felddienstordnung und die Schießvorschrift. Der Inhalt dieser „Schmöker”, wie er diese Vorschriften fast subordinationswidrig nannte, setzte er bei sich selbst als bekannt voraus.

Hatte er genug gelesen und geraucht, so zog er sich die Decke über die Ohren und schlief, bis sein Bursche ihm das Mittagessen brachte. Er aß stets bei sich zu Hause. Am liebsten hätte er im Casino mit den jüngeren unverheirateten Leutnants gespeist, aber das ging nach seiner Meinung nicht. Die Disziplin und die Subordination mußten gewahrt werden. Wer als Hochgestellter sich zu oft bei seinen Untergebenen zeigt, verliert leicht an Ansehen — deshalb müssen die armen Kommandanten unserer Kriegsschiffe ja Tag für Tag allein speisen.

Nach beendetem Diner hielt der Herr Major seinen „Verdauungsschlummer”, dessen Quanti- und Qualität sich nach dem während der Mahlzeit genossenen Rothwein richtete.

Mit dem Glockenschlag 6 ging es zu dem Nachmittagsschoppen, der bis um 8 Uhr dauerte und mit dem Glockenschlag 8 nahm der Abendschoppen seinen Anfang. Da saß er zusammen mit den Offizieren seines Bataillons und den Honoratioren der kleinen Stadt, dem Herrn Bürgermeister und dem Apotheker, dem Doktor und dem Herrn Notar. Man sprach wenig, aber man trank desto mehr, denn etwas soll der Mensch ja nun thun, wenn er sonst nichts thut.

Mit dem Glockenschlag 11 erhob sich der Major — das war manchmal mit einigen Schwierigkeiten verbunden, denn von dem langen Sitzen wird man leicht steif. Ging es gar nicht, dann halfen freundliche Hände. Zuweilen geleitete sein Adjutant ihn auch nach Haus — bis zur Hausthür ließ der hohe Herr sich dies auch immer ruhig gefallen, aber sobald der Schlüssel im Schlüsselloch steckte, wurde er grob.

„Sagen Sie, bitte,” fuhr er dann seinen Begleiter an, „wer sind Sie eigentlich? Was wollen Sie denn hier? Wie kommen Sie dazu, mit mir zu gehen, ohne daß ich Sie dazu aufgefordert habe? Was denken Sie sich eigentlich dabei?”

„Daß Du keine Ahnung hast von dem, was Du redest,” dachte der Adjutant.

Aber während die Vorgesetzten ihre Meinung stets laut äußern, behalten die untergebenen ihre Ansicht für sich — hieraus den Schluß ziehen zu wollen, daß die Untergebenen klüger sind als die Vorgesetzten, wäre ganz falsch.

Beim Militär heißt es in erster Linie: Subordination, und hierunter versteht man bekanntlich das Bestreben, stets dümmer zu erscheinen, als der Vorgesetzte wirklich ist.

Der Adjutant kümmerte sich nicht im Geringsten um das, was sein Herr sagte. Er schob ihn in das Haus hinein und ließ den Burschen für das weitere sorgen. Der hatte die Pflicht, seinen Herrn zu Bett zu bringen und darauf zu achten, daß die Nachtruhe in keiner Weise gestört wurde. Zuweilen kam es vor, daß Nachts dienstliche Telegramme einliefen, die den Vermerk trugen „eilt”, aber die trotz alledem von einer geradezu welterschütternden Gleichgültigkeit waren.

Beim Milität „eilt” bekanntlich alles — man sagt, es läge daran, daß die hohen Vorgesetzten, die heut zu Tage häufig mit einem Helm zu Bett gehen und mit einem Cylinder erwachen, nicht wüßten, ob sie ohne das Wort „eilt” noch das Ende und den Ausgang der Angelegenheit erleben würden.

In der ersten Zeit, als der Herr Major sein Bataillon führte, war auch er auf das Wort „eilt” oft genug hineingefallen, bis er sich eines Tages schwor: „Nie wieder,” und darum hatte er seinem Burschen bei Androhung von sieben Tagen strengem Arrest und sofortiger Ablösung verboten, ihn jemals während der Nacht aus irgend welchem Grunde zu wecken.

Wachte der Herr Major des Morgens auf, so klingelte er anch dem Burschen und fragte: „Was giebt es Neues?”

Die Antwort lautete stets: „Nichts, Herr Major, wenigtens weiß ich nichts.”

Und das entsprach der Wahrheit: Der Diener schlief fast ebenso lange wie sein Herr; wie sollte er es da wissen, wenn sich während der Nacht wirklich etwas im Städtchen ereignet haben sollte.

So vergingen Tage, Wochen, Monate.

„Was giebt es Neues?” fragte der Major da eines schönen Morgens, als er nach langem, kräftigem und erquickendem Schlummer zu recht später Stunde erwachte.

Auf die Antwort war er gar nicht begierig, die kannte er ja schon im voraus — aber er irrte sich, dieses Mal gab es doch etwas Neues.

„Der Hansen, Herr Major, der Hornist von der ersten Compagnie, ist heute Nacht plötzlich verrückt geworden, ganz plötzlich, gestern Abend war ich noch mit ihm zusammen, und da war er noch ganz vernünftig.”

Den Herrn Major interessierte diese Neuigkeit absolut nicht, es giebt so viel Verrückte, daß es auf einen mehr oder weniger wirklich nicht ankommt; behaupten doch viele, die ganze Welt sei weiter nichts als ein großes Irrenhaus. So sagte er denn nur: „Der Hansen ist verrückt geworden? Was fällt dem Lümmel denn ein? Was hat er denn gemacht?” fragte der Major.

„Denken der Herr Major sich nur,” gab der Bursche zur Antwort, „der Hansen hat sich heute Nacht auf die Straße gerade vor unser Haus gestellt und da hat immer was geblasen und noch dazu etwas, was ich garnicht kannte. Wohl eine viertel Stunde hat er getutet, und dann ist er ganz schnell fortgelaufen.

Wenn der Kerl nicht wirklich verrückt ist, sperre ich ihn ein,” sagte der Major, „ich glaube eher, daß der Mensch betrunken war. Was hat er denn geblasen? Ein Lied?”

„Nein, Herr Major, ein Lied war es nicht, es klang beinahe wie ein Signal, es ging so — na, wie war es doch noch — ja so richtig, so war es,” und vollständig richtig sang der Bursch seinem Herrn die Melodie vor, die der Hornist geblasen hatte.

Mit beiden Beinen gleichzeitig fuhr der Major aus dem Bett heraus: „Schafskopf infamer — das war ja ein Signal, das war ja Alarm!”

Der Bursche stand wie vernichtet, endlich sagte er: „Dann ist der Hansen ja vielleicht garnicht verrückt?”

„Du bist verrückt,” schrie ihn sein Herr an, „warum hast Du Esel mich denn nicht geweckt?”

„Ich durfte doch nicht,” gab der Bursche zur Antwort.

Aber der Major achtete garnicht auf die Antwort. „In fünf Minuten ist das Pferd gesattelt,” befahl er, „marsch, Galopp, das Weitere findet sich.”

Wenig später ritt der Major trotz des entsetzlichen Straßenpflasters im sausenden Galopp zur Kaserne, um sich dort den wachthabenden Unteroffizier zu „kaufen”. Wie kam der Mann dazu, ohne sein Wissen und ohne seine Erlaubnis Alarm blasen zu lassen? Irgend etwas mußte passiert sein.,

„Zum Donnerwetter, so antworten Sie doch,” fuhr er den Unteroffizier an, „was hat's denn gegeben?”

„Der Herr General ist heute Morgen um vier Uhr hier angekommen und hat das Bataillon alarmiert,” lautete die Antwort. „Der Herr General ist mit dem Bataillon zu einer Felddienstübung ausgerückt und noch nicht wieder zurückgekommen.”

Nicht nur der Herr Major, sondern auch dessen Pferd zitterte bei diesen Worten, die Sache war genußreich, die konnte so bleiben; der General machte mit dem Bataillon eine Uebung, während der Herr Major im Bett lag und schlief.

„Wohin ist die Truppe marschiert?” wollte der Major den Unteroffizier fragen, aber er fragte ihn nicht, denn in diesem Augenblick schlug der Klang der großen Trommel an sein Ohr — mit klingendem Spiel kam das Bataillon zurück und an der Spitze der Truppe ritt der Herr General.

Der Major galoppierte ihm entgegen, um sich zu entschuldigen, soweit dies überhaupt möglich war; aber bevor er noch ein Wort sagen konnte, rief ihm der General schon von weitem zu: „Schon aufgestanden, Herr Major? Das thut mir Ihretwegen leid, denn jetzt brauche ich Sie nicht mehr. Reiten Sie nur ruhig nach Haus und legen Sie sich wieder schlafen. Gute Nacht.”

Da wandte der Herr Major sein Roß und ritt schweigend von dannen, er wußte: das Lied war aus. Nun kam für ihn die lange Nacht als Civilist, nun konnte er ruhig schlafen bis an sein Lebensende. Nun machte kein Mensch mehr den Versuch, ihn zu wecken — nicht einmal ein verrückt gewordener Hornist.


Erläuterung des Herausgebers:

Die unterstrichenen Textteile finden sich nur in der Ausgabe „Berliner Leben”, die durchgestrichenen Textteile nur in der Ausgabe „Nebraska Staats-Anzeiger”.


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