Gertys Verlobung.

Humoreske von Freiherr v. Schlicht.

in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland vom 10.Januar 1926

Eben war Gerty, die neunzehnjährige Tochter des ebenso reichen wie angesehenen Fabrikbesitzers Lindner, von ihrem Spaziergang zurückgekehrt und stand nun, mittelgroß, schlank und bildhübsch gewachsen, mit einem sie entzückend kleidenden dunkelblonden Bubikopf, mit frischen roten Wangen und leuchtenden kugelrunden blauschwarzen Augen vor der großen Spiegelscheibe ihres Kleiderschrankes und konnte sich an ihrem eigenen Bild nicht satt sehen, schon weil sie sich, während ihr junges Herz vor Glück und Glückseligkeit laut und stürmisch schlug, immer wieder sagte: So also sieht eine heimliche Braut aus, denn sie hatte sich doch eben erst verlobt. Das heißt, so ganz eben aber auch nicht, denn als ihr Heinrich sie in den verschwiegenen Parkanlagen küßte, da hatte die Uhr von der Marienkirche gerade sechs geschlagen und jetzt war es — wahrhaftig jetzt war es, wie ein rascher Blick auf die Armband-Uhr sie lehrte, schon zehn Minuten nach Sieben. Da war sie ja bereits länger als eine Stunde verlobt! Mein Gott, wie die Zeit dahinflog. Das war einfach unheimlich und wenn das damit in dem Tempo so weiter ging, dann war der Brautstand, jetzt der heimliche und später der öffentliche, im Fluge herum und ehe sie es für möglich gehalten, war der Hochzeitstag da, an dem die Kirchenglocken ihr junges Glück einläuteten und an dem all ihren Freundinnen vor Neid die Kleidernähte knackten und platzten, weil sie im Gegensatz zu ihnen schon heiratete und noch dazu einen so goldigen, süßen Menschen wie ihren Heinrich, denn einen solchen Menschen gab es auf der ganzen Welt einfach nicht wieder. Und küssen konnte der, das war einfach himmlisch! So wie ihr Heinrich sie vorhin, hatte noch nie einer sie geküßt, aber so lieb wie der sie, hatte ja auch noch nie ein anderer sie gehabt, und da kam das himmlische Küssen wohl ganz von selbst.

Ach sie war ja so glücklich, gräßlich, namenlos, zum Heulen und zum Kopfstehen glücklich, aber eins war doch sehr traurig, sie durfte noch keinem Menschen etwas davon erzählen, daß sie sich vorhin heimlich verlobte, denn erst mußte ihr Heinrich so weit sein, daß er vor ihre Eltern hintreten und die um ihre Hand bitten konnte und bis dahin würden, wie er ihr gestanden, immer noch ungefähr zwei Jahre vergehen. Aber wie schnell würden nicht auch die herum sein, die Zeit raste ja einfach dahin, denn als sie nun erneut einen Blick auf ihre Uhr warf, stellte sie fest, daß sie nun schon bald anderthalb Stunden verlobt sei und dabei war ihr, als hätte sie sich erst vor einer Minute mit ihrem Heinrich geküßt, mit ihrem Heinrich, der hier in der Stadt zu Besuch weilte, den sie erst vor ein paar Tagen in ihrer Lieblingskonditorei kennen lernte und in den sie sich gleich auf den ersten Anhieb verliebt hatte. Sie sich in ihn, er sich aber auch sofort in sie. Das hatte sie ihm natürlich auch gleich angemerkt, sonst hätte sie doch auch nie eingewilligt, sich heimlich mit ihm in den Anlagen zu treffen. Und das hatte sie nicht nur einmal, sondern viermal getan, bis es vorhin bei dem letzten Zusammensein, denn morgen früh mußte er wieder abreisen, zu einer ganz wahnsinnigen Küsserei gekommen war. Geküßt hatten sie sich allerdings bei den ersten heimlichen Zusammenkünften auch, denn nur um sich mit ihm zu unterhalten, war sie doch nicht mit ihm zusammengetroffen und nur deshalb hätte sie sich auch ganz bestimmt nicht immer so hübsch und verführerisch angezogen. Aber was war die Küsserei von gestern und vorgestern gegen die von heute gewesen? Ein Pappenstiel! Nein, noch viel weniger als das. Und hinterher hatten sie sich heute ganz richtig gehend heimlich verlobt, sich ewige Liebe und Treue geschworen und sie hatte ihm fest versprochen, ihm gleich morgen einen hübschen Ring zu schicken, den er beständig tragen solle, bis sie eines Tages beide den Verlobungsring austauschen konnten. Und er selbst wollte ihr an die ihm aufgegebene postlagernde Adresse ein goldenes Herz schicken, das sie aber leider nur bei Nacht tragen konnte, denn bei Tag konnte es gesehen werden und vorläufig durfte noch kein Mensch wisssen, daß und von wem und für wen sie das Herz trug.

Ach sie war ja so glücklich, so gräßlich, fürchterlich, scheußlich glücklich, aber wie sollte es ihr da gelingen, ihr Glück vor den Eltern zu verheimlichen, wenn sie nachher mit denen zusammen war. Und sie mußte schon jetzt mit ihnen zusammentreffen, denn es war Zeit für Abendessen und ihr Vater, der im Haus auf größte Pünktlichkeit hielt, liebte es nicht, wenn jemand bei den Mahlzeiten nicht rechtzeitig zur Stelle war.

Wie fange ich's nur an, daß niemand mir mein grenzenloses Glück anmerkt? fragte sie sich immer wieder, während sie jetzt langsam über den Korridor zu dem Wohnzimmer der Eltern schritt, was gebe ich als Erklärung an, wenn ich nachher nichts essen kann und es ist mir doch ganz unmöglich, jetzt etwas zu essen. Ich las einmal, die Liebe mache hungrig, aber das ist nicht wahr, die macht so satt, daß man vor allen Speisen und Getränken einen Ekel empfindet. Und wieder fragte sie sich: Wie fange ich es nur an, daß niemand mir mein grenzenloses Glück anmerkt?

Das wußte sie selbst nicht und deshalb gelang es ihr auch nicht, sich zu verstellen. Das irgend etwas Besonderes mit ihr vorgegangen sein müsse, sahen die Eltern ihr, als sie in das Zimmer getreten war, auf den ersten Blick an und so fragte die Mutter denn voll herzlicher Anteilnahme, aber auch voll ehrlichstem Erstaunen: „Aber Gerty, wie siehst du denn nur aus? So ganz anders als sonst, du bist ja gar nicht wieder zu erkennen, was hast du denn?”

Gertys Herz schlug zum Zerspringen und dunkelrot färbten sich ihre Wangen. Was sollte sie der Mutter antworten? Sie konnte nicht lügen, sie konnte es bei dem besten Willen nicht, schon weil ihr trotz allen Nachdenkens keine auch nur halbwegs glaubhafte Lüge einfiel und so stotterte sie schließlich: „Ach, Mutter, ich bin ja so unaussprechlich glücklich.”

„Dich hat wohl vorhin in der Konditorei einer auf Kuchen und Schokolade mit Schlagsahne eingeladen?” fragte ihr fünfzehnjähriger Bruder Kurt nicht ohne Neid.

„Red nicht solchen Unsinn, dummer Junge,” fuhr Gerty ihn an. „Was dich anscheinend glücklich gemacht hätte, ließe mich doch ganz kalt und wenn mein ganzes Glück weiter nichts wäre als Schlagsahne —”

„Na, die ist auch nicht zu verachten, besonders nicht, wenn man viel davon hat und wenn die nichts kostet,” knurrte Bruder Kurt, der den dummen Jungen, den seine Schwester ihm an den Kopf geworfen, noch nicht verschmerzt hatte.

„Sprich, mein Kind, was ist dir denn für ein Glück widerfahren?” erklang da die Stimme der Mutter, während ihr der Vater zwar nur einen stummen, aber doch sehr beredten fragenden Blick zuwarf und Bruder Kurt setze hinzu: „Da bin ich weiß Gott auch begierig, Gerty.”

Gerty stand in einem schweren Kampf da, sollte sie sprechen und durfte sie sprechen? Durfte sie ihr Geheimnis, das sie mit ihrem über alles geliebten Heinrich teilte, verraten? Nein und dreimal nein. Aber konnte sie schweigen, und wenn sie das Geheimnis auch jetzt im Augenblick noch hüten konnte, weil ihr in der letzten Stunde vielleicht doch noch eine Lüge einfiel, würde sie es noch Jahre lang vor ihren Eltern verheimlichen können? Nein und dreimal nein, das ging über ihre Kraft und ihr Heinrich würde und mußte ihr ja auch verzeihen, wenn sie ihm morgen in ihrem Brief eingestand, daß sie sich ihren Eltern habe anvertrauen müssen.

Gerty sah es ein, es blieb ihr nichts anderes übrig, da ihr ums Verrecken keine Lüge einfallen wollte, als die Wahrheit zu bekennen und so sagte sie, wenn auch stockend und zögernd: „Ach, ich bin ja so grenzenlos glücklich, ich habe mich vorhin heimlich verlobt.”

Einen Augenblick herrschte Totenstille, dann kam aus dem Mund des Vaters ein drohendes, unheilschwangeres „Ha” und gleich darauf warf er voller Wut einen Aschenbecher, der ihm am nächsten stand, donnernd gegen die Wand, daß das Glas eines getroffenen Bildes mit lautem Geklirr zu Boden fiel.

„Ha” kam es gleich darauf entsetzt aus dem Mund der Mutter und die ließ sich kraftlos auf das Sofa fallen, daß die Sprungfedern ächzten und stöhnten.

„Ha—ha—ha” wollte ihr Bruder sich totlachen.

Das „Ha” des Vaters und das „Ha” der Mutter hatte ihr Blut erstarren lassen, das „Ha—ha—ha” ihres Bruders aber ließ ihr Blut wieder fließen, sogar schneller und heißer als sonst und nicht nur das.

Schwupp! hatte ihr Bruder von ihr eine Maulschelle.

wollte ihr Bruder ihr die zurück geben, aber er schwuppte nur halb, denn im letzten Augenblick hielt er seine Hand zurück und rief ihr zu: „Freu dich, daß du nicht Samson Körner oder ein anderer mir ebenbürtiger Gegner bist, denn dann bekämst du jetzt von mir einen Kinnhaken, daß du in einem hohen Bogen über die Seile flögst. An einem Mädel vergreife ich mich nicht, damit du aber siehst, wie ich über deine Handgreiflichkeit denke, rufe ich dir voller Verachtung mit Götz von Berlichingen —” (Fortsetzung folgt.)

(1. Fortsetzung vom 17.Januar 1926)

Schwupp! hatte der Vater, der plötzlich vor ihm stand, ihm eine Maulschelle gegeben.

Ganz entsetzt flog Bruder Kurt zurück, dann aber rief er aus: „Dieses Geschwuppe ist ja einfach ekelhaft — Verzeihung, Vater,” verbesserte er sich schnell, „ich wollte natürlich sagen, das ist meiner doch unwürdig, ich habe doch jetzt Konfirmandenunterricht und stehe gewissermaßen schon jetzt mit einem Fuß in dem Kelch des heiligen Abendmahls.”

Aber seine Worte machten anscheinend nicht den gewünschten Eindruck, wenigstens nahm keiner von denen irgend welche Notiz, statt dessen befahl der Vater plötzlich mit strenger Stimme: „So, nun wird gebeichtet, Gerty, und zwar alles. Zunächst, wie heißt er?”

„Heinrich, mein Heinrich,” kam es angsterfüllt über ihre ganz blaß gewordenen Lippen, als wolle sie den Geliebten zur Hilfe rufen.

„Wie heißt er mit Nachnamen?” erkundigte der Vater sich weiter, ohne sich um ihren Liebes-Hilferuf zu kümmern.”

„Lauterbach — Heinrich Lauterbach,” gab Gerty zur Antwort.

Ihr Vater dachte einen Augenblick nach, dann meinte er: „Den Namen kenne ich nicht.”

„Er ist auch nicht von hier, Vater, er ist von Göttingen.”

„Schon faul,” erwiderte der Vater, als könne ausgerechnet aus Göttingen nichts Gutes kommen. Dann examinierte er weiter: „Was ist er?”

„Er studiert Jura.”

„In welchem Semester? Wann will er seinen Examen machen?”

„In etwa zwei Jahren, Vater. Das heißt,” setzte sie hinzu, „mein Heinrich sagte mir, es könne unter Umständen auch noch länger dauern.”

„Was hat er?” wollte der Vater weiter wissen, ohne auf ihre Bemerkung irgend etwas zu erwidern.

Ja, was hat er? Das war eine schwierige Frage, auf die sie bei dem besten Willen keine Antwort wußte. Aber was er hatte, war ja schließlich auch ganz gleichgültig, ihr Vater war ja reich genug und der verdiente doch so viel Geld, was brauchte ihr Heinrich da auch noch etwas zu haben? Und da kam ihr plötzlich ein rettender Gedanke. Um der Antwort nach den Vermögensverhältnissen ihres Heinrich zu entgehen, wollte sie sich so stellen, als habe sie die Frage des Vaters falsch verstanden und sie tat es auch, schon um ihren Vater durch das, was sie erwidern würde, für ihren Heinrich einzunehmen. Deshalb sagte sie jetzt: „Was er hat, Vater? Wundervolle dunkelbraune Augen, ganz dichtes dunkles Haar, prachtvolle Zähne und auf der linken Backe vier herrlioche Schmisse.”

„Davon kann er ja seine spätere Familie glänzend ernähren,” hohnlachte der Vater, um gleich darauf mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, zu erklären: „Den Studenten schlägst du dir aus dem Kopf, mein Kind, und wenn du das nicht selber tust, dann tue ich es, wenn allerdings auch nicht mit einer Maulschelle. Das brauchst du nicht zu befürchten. Du wirst deinen Heinrich gleich morgen abschreiben, aber nein,” besann er sich gleich darauf, „das wirst du nicht tun, sondern ich selbst werde ihm einen eingeschriebenen Brief schicken, daß er es nicht noch einmal wagen soll, sich dir zu nähern. Und damit ist die Sache erledigt.”

„Aber das geht doch nicht, Vater,” schluchzte Gerty herzzerreißend auf. „Wir haben uns geküßt, uns verlobt, uns ewige Liebe und Treue geschworen und für den Ring, den ich ihm morgen zu schicken versprach, habe ich doch auch schon Maß genommen, hier ist es.” Und aus dem Taschentuch, in dem sie es hineingeknotet, nahm sie mit zitternden Händen ein kleines Stück Bindfaden, dessen Länge genau der Fingerstärke ihres Heinrich entsprach.

Ihr Vater nahm ihr den kleinen Faden aus der Hand und betrachtete ihn voller Aufmerksamkeit: „Ist das dein ganzer heimlicher Bräutigam, Gerty? Ich meine, ist das alles, was du von ihm hast?”

„Ja,” schluchzte Gerty so herzzerbrechend weiter, daß selbst ihr Bruder Kurt mit ihr Mitleid empfand und die von ihr und ihrethalben erhaltenen Maulschellen vergaß.

„Um so besser,” meinte der Vater, „da schicke ich ihm diesen Bindfaden mit zurück.”

„Aber Heinrich wird sich ein Leid antun, Vater, wenn du ihm abschreibst,” jammerte Gerty. „Er wird nicht weiter leben können und wollen, ebensowenig wie ich das kann, er wird sich totschießen oder sich aufhängen.”

„An diesemm kleinen Stück Bindfaden, Gerty?” lachte der Vater, „das brauchst du nicht zu fürchten, der ist viel zu kurz und würde auch nicht halten.”

„Mutter, Mutter, hilf du mir doch,” stöhnte Gerty in ihrer Herzensangst jetzt plötzlich auf und warf sich verzweifelt vor ihrer Mutter auf die Knie.

Und liebevoll strich die Mutter ihr über das Haar. Sie war ja auch einmal jung gewesen und wußte, was solche erste Liebe bedeutet, wie die beglückt, aber auch wie die schmerzt. Aber sie wußte auch, daß die meistens ebensoschnell wieder vergeht, wie sie erwacht. So nahm sie denn ihr Kind in die Arme: „Komm, Gerty, ich bringe dich jetzt auf dein Zimmer, dann legst du dich nieder, ich bleibe bei dir sitzen, der Vater wird uns bei dem Abendessen entschuldigen und du erzählst mir, deiner Mutter, wie alles gekommen ist.”

„Ja, ja, Mutter, ach ja bitte, ich bin ja so unglücklich, ich glaube ich gehe ins Wasser.”

„Geh lieber zu Bett, wie die Mutter es dir rät,” schalt der Vater, „das ist viel gesünder und da holst du dir auch keinen Schnupfen.”

„Vater, du bist herzlos,” schrie Gerty auf, und auch die Mutter warf ihrem Mann einen leisen tadelnden Blick zu. Gleich darauf verließen Mutter und Tochter das Zimmer und als Gerty im Bett lag und die Mutter ihre Hand hielt, da erzählte sie ihr alles, alles, soweit es bei der kurzen Bekanntschaft mit ihrem Heinrich, mit dem sie im ganzen nur viermal zusammen gewesen war, überhaupt etwas zu erzählen gab.

„Das wirst du überwinden, mein Kind,” tröstete die Mutter sie, die aus dem ganzen Geständnis ihrer Gerty heraushörte, daß es sich in der Hauptsache lediglich um einen Flirt gehandelt hatte, bei dem der Student ganz bestimmt an keine Verlobung dachte, wenigstens an keine ernsthafte, die jemals mit einer Heirat enden solle und würde. Gott sei Dank, die Sache war nicht halb so schlimm, wie sie es im ersten Augenblick befürchtete, das schon deshalb, weil sie und der Vater seit einigen Tagen mit ihrem Kinde ganz andere Pläne hatten, und als ihre Gerty sich etwas beruhigt, erzählte sie ihr mit weicher, gütiger Stimme, warum sie und der Vater vorhin so „gehat” hatten. Es war nämlich vor ein paar Tagen aus Dresden ein Brief des Konsul Mertens, dem Freunde des Vaters gekommen, mit dessen Sohn Fritz sie selbst alle so viel zusammen gewesen waren, als sie im vorigen Jahr auf Westerland-Sylt weilten.

Bei ihren rasenden Kopfschmerzen und mit all ihren Gedanken nur bei ihrem Heinrich, verstand Gerty gar nicht, warum ihre Mutter ihr das alles erzählte. Wer war überhaupt Fritz Mertens? Hatte sie den wirklich je gesehen? Auf jeden Fall konnte sie sich nicht mehr auf ihn besinnen. Aber ja, fiel ihr nun plötzlich ganz dunkel wieder ein, war das nicht der mittelgroß schlanke Mensch, der in seiner Figur so gut zu ihr paßte, mit dem sie so viel tanzte, mit dem sie einmal eine Segelpartie machte, mit dem sie stundenlang am Strand herumlief und mit dem sie erst recht, wenn sie gebadet hatten, stundenlang zusammen am Strand lag, während sie sich von der Sonne trocknen und braun brennen ließ. Ja, nun wußte sie es wieder, das war der Fritz Mertens gewesen und nachmittags im Strandkaffee hatte er sie immer auf Fürst Melb-Eis eingeladen und das hatte immer wundervoll geschmeckt. Trotz alledem begriff sie nicht, warum ihre Mutter ihr jetzt von dem sprach.

Aber eine Viertelstunde später hatte sie es begriffen. Da hatte die Mutter ihr alles erzählt. Der Konsul in Dresden hatte ihrem Vater geschrieben, sein Sohn käme in den allernächsten Tagen hierher. Er habe geschäftlich zu tun, natürlich würde er dabei die in Westerland mit ihnen allen und namentlich die mit ihr, Gerty, geschlossene Bekanntschaft erneuern. Er, der Konsul, habe den aufrichtigen Wunsch, daß sie, Gerty, die Liebe seines Sohnes erwidern möge, von der sein Sohn ihm zwar kaum je spräche, die er ihm aber dennoch deutlich anzumerken glaube.

Vieles, vieles erzählte die Mutter ihr noch, das in kurzen Worten hieß: Es habe allen Anschein, als ob Fritz Mertens sie nicht nur liebe, sondern ihr bei dem Wiedersehen auch einen Antrag machen würde. Und wenn sie, Gerty, den annähme, würde sie nicht nur einen sehr guten Mann bekommen, mit dem sie außerdem eine glänzende Partie mache, sondern auch ihre beiderseitigen Eltern würden über die Verbindung sehr froh und glücklich sein. — Sie selbst aber, Gerty, würde durch eine wirkliche Verlobung das, was sie heute erlebt, am schnellsten überwinden.

Lange saß die Mutter noch an ihrem Bett, aber noch viel länger lag Gerty wach und dachte über alles nach, als sie endlich wieder allein war. Eins stand natürlich sofort bei ihr fest, nie, aber auch nie würde sie den Antrag von Fritz Mertens annehmen, niemals. Auf ihren Lippen brannten noch die Küsse, die sie heute nachmittag mit ihrem Heinrich austauschte, und da sollte sie dieselben Lippen von einem anderen küssen lassen oder mit denen gar einen anderen wieder küssen? Eher starb sie. Und wenn ihre Eltern auch nichts von ihrem Heinrich wissen wollten, sie selbst wollte und würde ihm die Treue halten, die sie ihm gelobt, sie ihm, wie er ihr. Der Fritz Mertens sollte nur kommen, den würde sie mit einem Korb wieder fortschicken, daß er zwei starke Dienstmänner mit einem großen Handwagen brauchte, um den dann zur Bahn zu bringen. —

Und ein paar Tage später war der Fritz Mertens da und saß ihr, nachdem die Eltern sie beide miteinander allein gelassen hatte, gegenüber, immer noch sehr gut aussehend, aber doch nicht annähernd so gut wie damals, in Westerland, als sein Gesicht von der Sonne gebräunt war. Und er war auch in seinem Wesen nicht mehr so frisch und übermütig, sondern er machte einen ziemlich gedrückten und geknickten Eindruck. Sicher hatten die Eltern ihm von ihrer Liebe zu ihrem Heinrich erzählt und er sah den Korb, den sie ihm geben würde, bereits ganz deutlich über seinem Haupte schweben. Damit hing es auch sicher zusammen, daß er absolut nicht mit dem anfing, was ihn doch in der Hauptsache hierher geführt hatte.

Und da er nicht davon begann, hielt sie es endlich für ihre Pflicht, damit den Anfang zu machen, denn ewig und drei Jahre konnten sie doch einander nicht so gegenübersitzen.

Deshalb sagte sie jetzt plötzlich, mit einem leisen spöttischen Lächeln: „Sie wollen mich also heiraten?”

Ganz überrascht sah er sie an: „Ich denke ja gar nicht daran, gnädiges Fräulein, wie kommen Sie denn nur auf diesen Unsinn?”

Nun war die grenzenlose Überraschung an ihr: „Ja, aber,” stotterte sie schließlich, „meine Mutter erzählte mir doch —”

Er lachte lustig auf: „Mütter erzählen vieles, und Väter und Mütter wünschen sich manches.” (Fortsetzung folgt.)

(2. Fortsetzung vom 24.Januar 1926)

„Und sie selbst wollen also nicht?” fragte sie, während ihr Herz vor Freude ganz laut schlug.

„Ich denke ja gar nicht daran, gnädiges Fräulein,” gab er gelassen zur Antwort, „und ich wüßte auch wirklich nicht, wie ich dazu kommen sollte, mich gerade in Sie zu verlieben.”

„So gefalle ich Ihnen also nicht?” frohlockte sie in dem Gedanken an ihren Heinrich weiter, denn mehr und mehr sah sie die Gefahr schwinden, daß sie unter dem Zwang der Eltern und unter dem Einfluß ihrer Mutter, die heute morgen nochmals sehr ernstlich mit ihr gesprochen hatte, sich einer Verlobung mit ihm würde fügen müssen, vorausgesetzt, daß er auf einer solchen bestehen würde, wenn sie ihm erklärt hätte, daß sie einen anderen liebe.

„Ob Sie mir gefallen, gnädiges Fräulein?” wiederholte er ihre Frage, bis er hinzusetzte: „Wie soll ich das wissen, gnädiges Fräulein, wir kennen uns doch eigentlich gar nicht?”

Gertys Eitelkeit wurde wach und so meinte sie ein klein wenig kokett: „Damals in Westerland dachten Sie, glaube ich, etwas anders.”

„Ja, damals,” stimmte er ihr bei, bis er die Einschränkung machte: „Da kannte ich meine Anny aber auch noch nicht.”

„Wer ist das, Ihre Anny?” erkundigte sie sich voller Neugierde, „und vor allen Dingen, ist sie hübsch, hübscher als ich?”

„Wenn ich die Wahrheit sagen soll, viel hübscher,” bekannte er offen und ehrlich.

Na, liebenswürdig ist er ja nun gerade nicht, dachte Gerty etwas gekränkt, aber daß seine Worte sie verstimmt hatten, durfte sie ihm natürlich nicht merken lassen und so fragte sie lediglich: „ Da werden Sie also die Anny heiraten?”

Er seufzte schwer auf: „Das kann ich leider nicht, gnädiges Fräulein, die Anny ist lediglich meine Freundin.”

Gerty erriet, was er damit sagen wolle und rief ihm zu: „Pfui, schämen Sie sich!”

„Aber warum denn nur?” fragte er ganz erstaunt, „weil ich eine kleine Freundin habe? Die hat in meinem Alter doch jeder, nur daß nicht jeder den Mut hat, das offen einzugestehen, besonders dann nicht, wenn er merkt, daß eine junge Dame der Gesellschaft sich für ihn interessiert. Da spielt er natürlich den Tugendhaften, schwört, noch nie eine andere geliebt zu haben, und lacht sich im Stillen krumm und schief, wenn er die junge Dame endlich so weit hat, daß sie sich küssen läßt, und ihn womöglich wieder küßt. Und um ihr zu beweisen, daß er wirklich ein Ehrenmann ist, verlobt er sich dann auch noch auf acht oder vierzehn Tage mit ihr.”

Ganz blaß war sie plötzlich geworden und starrte ihn an, bis es endlich spöttisch über ihre Lippen kam: „Na, Sie müssen es ja wissen, ob alle Herren so sind!”

„Weiß ich auch, gnädiges Fräulein,” und belustigt setzte er hinzu: „wenn Sie eine Ahnung hätten, wieviel Bräute ich in meinem Leben schon gehabt habe. Die erste als Qaurtaner, die letzte —”

„Ihre Bräute interessieren mich absolut nicht,” fiel sie ihm rasch in das Wort, und dann bat sie nach einer kleinen Pause: „Erzählen Sie mir lieber noch etwas von Ihrer Anny, denn die interessiert mich schon deshalb, weil sie so hübsch ist, wie Sie sagten.”

„Aber davon habe ich doch gar nichts gesagt, gnädiges Fräulein,” widersprach er, „ich habe Ihnen lediglich auf Befragen erklärt, sie wäre viel hübscher als Sie.”

Mein Gott, war der Mensch unliebenswürdig, so etwas war ihr denn doch noch nicht vorgekommen. Sie fühlte sich wirklich auf das tiefste beleidigt und deshalb sagte sie jetzt: „Aber erlauben Sie mal, so häßlich bin ich doch auch nicht.”

„Das wollte ich mit meinen Worten natürlich auch nicht gesagt haben, gnädiges Fräulein. Im Gegenteil,” setzte er jetzt zum ersten Male galant werdend hinzu: „Es wird sicher sehr viele Herren geben, die Sie sehr, sehr hübsch finden. Aber nach meinem persönlichen Geschmack gibt es augenblicklich nur ein einziges hübsches junges Mädchen auf der Welt, die Anny,” und plötzlich Feuer und Flamme werdend, fuhr er fort: „die müßten Sie mal sehen, gnädiges Fräulein, allein schon ihre entzückenden kleinen schmalen Füße.”

„Habe ich die etwa nicht auch?” fragte sie, unter dem kurzen Rock ihre Füße in den hübschen Schuhen weit vorstreckend.

„Und die bildschönen schlanken wohlgeformten Beine mit den verführerischen Waden,” fuhr er fort, ohne ihren Einwand zu beachten.

„Na, erlauben Sie mal,” widersprach Gerty, schon deshalb gereizt, weil er sie gar keiner Antwort gewürdigt hatte, „schöner als meine sind die Ihrer Anny aber ganz gewiß nicht.” Und in ihrer gekränkten Eitelkeit ihre wirklich bildschönen Beine unter dem kurzen Rock ganz weit vorstreckend, fragte sie: „Sind die Beine nicht etwa auch schön?”

„Und den Wuchs von dem Mädel sollten Sie nur mal sehen, gnädiges Fräulein,” fuhr er fort, ohne auf ihre Bemerkung etwas zu erwidern und diesesmal war sie ihm beinahe dankbar dafür, denn passend fand sie es nun selbst nicht mehr, daß sie ihm ihre Beine in ihrer ganzen Schönheit zum Vergleich mit denen seiner Anny so deutlich gezeigt hatte, bis ihr nun wieder einfiel, daß er die in Westerland bei dem gemeinsamen Baden täglich stundenlang, sogar nackt gesehen hatte.

Damit hing es wohl auch zusammen, daß er nicht den kleinsten Blick auf ihre Beine warf, sondern daß er ihr lediglich weiter von seiner Anny vorschwärmte, bis er nun endlich mit den Worten schloß: „Und küssen kann das Mädel, küssen!” und in seliger Erinnerung an die Küsse seiner Anny schloß er nun die Augen und schnalzte mit der Zunge.

Dieses Geschnalze fand Gerty ganz außerordentlich geschmacklos und was er gesagt hatte, ärgerte und empörte sie in gleicher Weise. Er tat ja wirklich, als wenn außer seiner Anny kein anderes Mädel zu küssen verstände. Das durfte sie um ihrer selbst Willen nicht auf sich sitzen lassen und so meinte sie spöttisch: „Sie tun wirklich, als wenn das Küssen eine besondere Kunst wäre.”

„Das ist es auch,” erwiderte er schnell, „es ist sogar eine Kunst, die zwar alle üben, die aber nur die Wenigsten verstehen.”

„Pah —,” machte Gerty geringschätzig und ohne, daß sie es gewollt hatte, entschlüpften ihr die Worte: „So gut wie Ihre Anny küsse ich noch alle Tage.”

Mehr als ungläubig sah er sie an: „Wenn das nur wahr ist, gnädiges Fräulein. Ich möchte es jedenfalls in der Hinsicht auf einen Vergleich mit meiner Anny nicht ankommen lassen.”

„Dazu würde sich Ihnen auch keine Gelegenheit bieten,” rief sie ihm zu, dann aber ärgerte sie sich maßlos über ihn und fragte nun: „Wissen Sie wohl, daß Ihre Worte eben ganz außerordentlich ungezogen waren?”

Aber ihr Tadel ließ ihn ganz kalt und völlig gelassen verteidigte er sich: „Wäre es Ihnen vielleicht lieber gewesen, ich hätte den Wunsch geäußert, jetzt gleich durch einen Vergleich feststellen zu können, wer besser zu küssen verstände, Sie oder die Anny?”

„Die Worte möchte ich mir sehr energisch verbeten haben,” brauste Gerty nun erst recht beleidigt auf, „denn die wären eine Unverschämtheit gewesen.”

„Na, also, gnädiges Fräulein. — Im übrigen sieht man es da mal wieder, was man auch macht und was man auch sagt, es ist immer falsch.”

Eine ganze Weile saßen sie sich nun schweigend gegenüber, bis er sich nun plötzlich derartig mit der flachen Hand vor die Stirn schlug, daß sie ihn, da sie erschrocken zusammengefahren war, bat: „Lassen Sie doch das, sonst bekomme ich davon Kopfschmerzen.”

„Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein, aber wissen Sie wohl, warum ich mich eben vor die Stirn schlug?”

„Wahrscheinlich, weil Ihnen eingefallen ist, daß Sie vergessen haben, mir noch irgend etwas von der Schönheit Ihrer Anny zu erzählen,” meinte sie hochmütig und geringschätzig.

„Da habe ich sogar noch sehr vieles vergessen, gnädiges Fräulein, denn ein solches Prachtmädel, wie die Anny, ist mit all ihren Vorzügen in wenigen Minuten auch nicht annähernd zu schildern. Nein, gnädiges Fräulein, das war es nicht, was mir eben einfiel, sondern etwas ganz anderes, das aber sicher auch Sie interessieren wird.”

„Und das wäre?” fragte sie nun doch, neugierig geworden.

„Daß Sie mir immer noch die drei Küsse schuldig sind, die Sie mir im vorigen Jahr in Westerland ganz, aber auch ganz fest versprochen haben.”

Gerty sah ihn an, als habe er seinen Verstand verloren: „Da hätte ich Ihnen drei Küsse versprochen und zwar gleich drei, davon müßte ich doch aber auch etwas wissen und wann sollte ich Ihnen das Versprechen wohl gegeben haben?”

„An dem Tag, an dem wir beide ganz allein die Segelpartie machten, als sich plötzlich das Unwetter zusammenzog und als Sie anfingen, für Ihr Leben zu zittern.”

Gerty lachte hell auf: „Da war doch aber gar kein Unwetter, im Gegenteil, der hellste Sonnenschein und plötzlich eine derartige Windstille.”

„Das war doch gerade das gefährliche Unwetter,” fiel er ihr rasch in das Wort. „Entsinnen Sie sich nicht mehr, wie wir mit dem Boot nicht von der Stelle kamen, wie ich Ihnen erklärte, wenn nicht bald Wind käme, müßten wir die ganze Nacht und vielleicht noch länger auf dem Wasser bleiben, wie Sie mich anflehten, die Segel so zu setzen, daß wir vielleicht doch etwas Wind auffingen, damit wir, wenn auch nur ganz langsam, wieder nach Hause kämen und wie Sie mir alles versprochen haben, was ich nur haben wolle, wenn ich Sie nur wieder heil und gesund an das Ufer brächte.” Und mit vorwurfsvoller Stimme schloß er: „Das haben Sie alles wieder vergessen, gnädiges Fräulein? Seien Sie mir nicht böse, aber beinahe möchte ich jetzt sagen: Pfui!”

Richtig, nun fiel es ihr wieder ein, wie sie damals bei der absoluten Windstille stundenlang auf dem Meere herumlagen, wie sie es mit der Angst bekam, die Nacht könne sie da draußen überraschen und wie sie zu weinen und zu jammern anfing. Aber darauf, daß sie ihm da drei Küsse versprochen haben solle, wenn er sie heil wieder an das Ufer brächte, konnte sie sich trotz allen Nachdenkens nicht besinnen. Das sagte sie ihm auch. (Fortsetzung folgt.)

(3. Fortsetzung und Schluß vom 31.Januar 1926)

„Das tut mir leid, gnädiges Fräulein, daß Sie ein so schlechtes Gedächtnis haben, ein solches darf man ganz besonders dann nicht besitzen, wenn es sich um Versprechungen handelt, denn was man verspricht, muß man als anständiger Mensch auch halten.”

„Ja, das muß man wohl,” stimmte sie ihm kleinlaut bei.

„Und je schneller man es tut, um so besser ist es,” ermunterte er sie. „Dann kommt man nicht noch nachträglich in den Verdacht, sein Versprechen überhaupt nicht einlösen zu wollen, und desto schneller hat man die Sache dann auch hinter sich. Wenn ich also bitten dürfte, gnädiges Fräulein?”

Ganz dicht hatte er seinen Stuhl plötzlich an den ihrigen gerückt und bot ihr seine Lippen zum Kuß.

Aber natürlich dachte sie nicht daran, ihn zu küssen. Was sollte wohl ihr Heinrich dazu sagen, wenn er das je erführe? Bis sie sich plötzlich eingestand, wenn ich ihn küsse, tue ich das doch nicht aus Liebe, sondern nur, um mein Versprechen, von dem ich selbst allerdings noch nichts weiß, einzulösen. Und außerdem war ihr bei den Gedanken an ihren Heinrich plötzlich ganz außerordentlich küsserlich zumute geworen. Und dann reizte es sie, ihm zu beweisen, daß auch sie küssen könne, ebenso gut wie seine Anny, nein, noch viel, viel besser. Und wie hatte er eben ganz richtig gesagt: Je eher, desto besser, dann hat man die Sache hinter sich. Und verdient er es nicht auch schon deshalb, daß sie ihr Versprechen einlöste, weil er, trotz des Wunsches ihrer beiderseitigen Eltern nicht daran dachte, sie zu heiraten, daß er auch nicht den leisesten Versuch machte, ihre Liebe zu gewinnen?

Da küßte sie ihn, und um ihm zu beweisen, daß und wie sie küssen könne, küßte sie ihn, wie sie letzthin ihren Heinrich geküßt hatte, nein, noch leidenschaftlicher und temperamentvoller.

Aber als sie ihn geküßt hatte und ihm nun, obgleich sie doch dadurch nur ihr Versprechen einlöste, blutübergossen gegenüber saß, sah er sie ganz erstaunt und enttäuscht an, um sie nun zu fragen: „Ist das alles, was Sie können, gnädiges Fräulein?” Und noch einmal wiederholte er: „Ist das alles?”

„Ja, aber, um Gottes willen, wie soll man denn sonst noch küssen?” stotterte sie ganz verwirrt, aber auch ganz beschämt, denn sie hatte wirklich geglaubt, ihre Sache sehr gut und die Anny mit ihren Kußkünsten weit übertroffen zun haben.

„Wie man sonst noch küssen soll, gnädiges Fräulein?” gab er ihre Frage zurück, um ihr gleich darauf zur Antwort zu geben: „So küßt man, gnädiges Fräulein, wenn man die Kunst des Küssens versteht, so und nicht anders.”

Und ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er ihren Kopf zwischen seine Hände genommen und küßte sie, daß — Aber mein Gott, war das überhaupt noch ein Küssen? Das war ja einfach um verrückt und wahnsinnig zu werden, da mußte man ja ganz einfach wieder küssen, ob man wollte oder nicht, schon damit er mit dem Küssen nicht aufhörte. Da mußte selbst das kälteste Fischblut siedend kochend heiß werden, das war einfach so jeder Beschreibung spottend wahnsinnig schön, daß man darüber alles andere vergaß, und wenn sie es auch nun wollte, sie konnte nicht einmal mehr an ihren Heinrich denken, sie wußte überhaupt kaum noch, wie der aussah. Ach, war das schön, war das schön, und wenn ihr auch war, als müsse sie bei seinen Küssen ersticken, sie hatte trotzdem nur den einen Wunsch, ach hoffentlich hört er noch lange nicht mit dem Küssen auf, und damit er auch nicht auf den Gedanken käme, küßte sie ihn immer und immer wieder.

Endlich, endlich lösten sich ihre Lippen und da sah Gerty erst, daß sie auf seinem Schoß saß und ihre Arme um seinen Nacken geschlungen hatte. Das gehörte sich natürlich nicht, das gehörte sich sogar absolut nicht, aber es saß sich da so schön und sie war von dem endlosen Küssen so müde geworden, daß sie nun den Kopf an seine Schulter lehnte.

„Bist du mir böse, Gerty?” erklang da leise seine Stimme.

Wie kam er nur dazu, sie plötzlich du zu nennen? Das gehörte sich doch auch absolut nicht, dann aber sagte sie sich, wenn zwei Menschen sich so geküßt haben wie wir zwei uns eben, dann können sie wohl hinterher einander nicht mehr Sie nennen. So gebrauchte denn auch sie das Du und fragte ihrerseits: „Warum soll ich dir wohl böse sein?”

„Weil ich dich mit List und Tücke als meine kleine Braut eingefangen habe, Gerty, denn daß ich dich nun jemals wieder los lasse, das glaubst du doch hoffentlich selber nicht?”

Es sauste und brauste ihr in den Ohren und sie glaubte, ihn nicht richtig verstanden zu haben. Bis sie endlich ganz erschrocken stotterte: „Ich bin aber doch schon mit meinem Heinrich heimlich verlobt, haben die Eltern, auch wenn sie vorläufig nichts davon wissen wollen, dir das nicht erzählt? Ich habe meinen Heinrich und du doch deine Anny —”

Mit starken Händen hielt er sie fest, als sie jetzt aufspringen wollte, dann meinte er lachend: „Aber Gerty, die Anny existiert doch gar nicht. Von der habe ich dir doch nur so viel erzählt, um dich auf sie eifersüchtig zu machen und um dich dahin zu bringen, daß du dich von mir küssen ließest. Um das zu erreichen, erfand ich auch das Märchen von den drei Küssen, die du mir in Wirklichkeit nie versprochen hast, sonst hätte ich die doch schon in Westerland einkassiert, denn als Kaufmann bin ich für keine Außenstände. Immer bare Bezahlung, das ist die Hauptsache. Und wegen deines Heinrichs brauchst du dir auch keine Gedanken mehr zu machen, der hat deinem Vater geantwortet, er selbst hätte Eure Verlobung nicht einen Augenblick ernsthaft genommen.”

Da stiegen ihr die Tränen in die Augen, denn sie hatte ihren Heinrich wirklich, wirklich geliebt, aber hatte er ihre Liebe verdient, wenn er nur ein Spiel mit ihr getrieben?

Und anstatt zu weinen, schämte sie sich nun plötzlich. Und als er das bemerkte, zog er sie zärtlich an sich: „Deshalb brauchst du wirklich nicht rot zu werden, Gerty, dazu liegt kein Grund vor. Da müßte ja auch ich mich schämen, daß ich vor dir schon manches andere Mädchen küßte und ich habe jedenfalls sehr viel öfter geküßt als du.” Bis er nun fröhlich auflachend meinte: „Aber nicht wahr, Gerty, das habe ich schlau angefangen, um dich als Braut zu gewinnen, denn wenn ich dir in der üblichen Weise meine Liebe gestanden und dich um deine Hand gebeten hätte, wäre ich sicher wundervoll bei dir abgeblitzt und hätte mir den schönsten aller Körbe geholt.”

„Das hättest du totsicher getan,” stimmte sie ihm bei. Aber so glücklich sie auch war, noch viel, viel glücklicher als bei der heimlichen Verlobung mit ihrem Heinrich, sie ärgerte sich nun doch über sich selbst, daß sie plump in die Falle hineingepurzelt war, die er ihr mit allem, was er ihr sagte und erzählte, gestellt hatte, und deshalb meinte sie jetzt: „Schlau angefangen hast du deine Sache schon, aber weißt du, was du trotzdem oder gerade deshalb bist? Ein — ein — ein —” aber die fand das richtige Wort nicht.

„Dann will ich dir sagen, was ich bin, Gerty,” ergänzte er da ihren Satz, „ich bin ein Mensch, der dich sehr lieb hat, der alles tun wird, was er nur kann, damit du glücklich wirst und es auch bleibst, und der dich in Zukunft noch sehr, sehr viel schöner küssen wird, als vorhin.”

„Noch sehr viel schöner?” fragte sie zweifelnd. Und um es gleich festzustellen, ob nicht auch das vielleicht nur eine Falle sei, die er ihr noch nachträglich stellte, bot sie ihm die Lippen zum Kuß.

Und voller Genugtuung und mit tausend freudigen Empfindungen stellte sie es fest, er konnte, so unglaublich ihr das auch selbst erschien, tatsächlich noch viel, viel schöner küssen, als er sie vorhin geküßt hatte und da sah sie ein, daß er doch wohl mit seinen Worten, die er ihr vorhin einmal sagte, recht hatte: Das Küssen ist eine Kunst, die alle üben, die aber nur die wenigsten verstehen.

Er aber verstand diese Kunst, und das war ja die Hauptsache.


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© Karlheinz Everts