Flossen und Glossen

Militär-Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Arme Schlucker” und
in: „Die Fürstentreppe” und
in: „In lustige Lande


Vor einem Kriegsgericht hat sich vor einiger Zeit ein sehr interessanter Fall abgespielt. Ein aus Südwestafrika zurückgekehrter Krieger, der drüben an mehreren Gefechten teilnahm, meldet sich auf seinem Bezirks­kommando. Wie ich vermute, mit den kurzen, aber inhaltsreichen Worten: „Aus Afrika zurück.” Nur der Offizier sagt: „Ich melde gehorsamst.” Für den Musketier existieren diese Worte nicht. Daß der was zu melden hat, zeigt er dadurch, daß er sich im Meldezimmer einfindet. „Aus Afrika zurück.” Der Leutnant mustert den vor ihm stehenden Krieger, der da drüben für die Ehre und das Ansehen des deutschen Vaterlandes sein Leben und seine Gesundheit zu Markte trug, und sagt dann, von dem durchaus begreiflichen Wunsch geleitet, dem Südwestafrikaner wieder deutsche militärische Zucht und Ordnung beizubringen: „Kerl, nehmen Sie die Flossen zusammen.” Der Mann gehorcht sofort, aber trotzdem erlaubt er sich zu bemerken, daß er keine Flossen, sondern Beine und Füße habe. Das wagt der Mann zu sagen, noch dazu in Gegenwart anderer Kameraden, und damit ist er schuldig der Achtungsverletzung vor versammelter Mannschaft. Er hat es gewagt, dem Vorgesetzten zu widersprechen, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er keine Flossen, sondern Füße und Beine hätte. (Als ich noch aktiv war, diente das Wort „Flossen” nur als Bezeichnung für die Hände — mit Interesse habe ich aus der Notiz über die kriegsgerichtliche Verhandlung ersehen, daß die „zoologische Sprache” in der Armee immer noch besteht und weiter um sich greift.)

Der Südwestafrikaner, der da drüben Europas übertünchte Höflichkeit um so leichter vergessen konnte, als er sie bei seinem Regiment in Deutschland nicht kennen lernte, hat nicht nur gegen die Gesetze der guten Sitte, sondern auch gegen die Kriegsartikel gefehlt. Er widersprach. Das erfordert Sühne.

Ob der Mann sofort, nachdem er das schwere Verbrechen beging, den Herrn Leutnant darauf aufmerksam zu machen, daß er keine Flossen habe, in Untersuchungshaft abgeführt ist, weiß ich nicht. Aber auch in der Freiheit wird er seines aus Afrika glücklich zurückgebrachten Lebens kaum sehr froh geworden sein. Zuerst Verhöre durch den untersuchungs­führenden Offizier, Weitergabe der Akten an das Regiment, bange Zweifel: werde ich disziplinarisch bestraft, komme ich vor ein Standgericht oder gar vor ein Kriegsgericht? Bei der Schwere des Falles einigen sich die höheren Behörden auf das Kriegsgericht — von einer disziplinarischen Bestrafung kann nicht die Rede sein, ebensowenig von einem Standgericht. Nur ein Kriegsgericht, das die schwersten Strafen verhängt, das selbst das Todesurteil fällen kann, ist imstande, über diese Schuld zu urteilen.

Der Mann hat einem Vorgesetzten widersprochen — aber nicht in dem Sinne, daß er einen ihm gewordenen Befehl nicht sofort ausführte, sondern daß er sich nur erlaubte, über die Beschaffenheit seiner ihm von Natur verliehenen Gliedmaßen anderer Ansicht zu sein. Und nicht nur, daß er diese Ansicht überhaupt hegte, er sprach sie sogar aus. Hatte er da drüben denn ganz das Wort vergessen: Der Soldat spricht nur, wenn er gefragt wird, und auch dann sagt er nur: Zu Befehl! — eine Antwort, aus der jeder Vorgesetzte heraushört, was er will. Wenn es schon das Vorrecht des preußischen Bürgers ist, zu allen Maßnahmen der Regierung um so intensiver schweigen zu dürfen, je weniger sie ihm gefallen, um so mehr noch genießt der Soldat dies Vorrecht dem Vorgesetzten gegenüber. Er darf nicht nur schweigen, ja er muß sogar schweigen. In seinem eigenen Interesse darf er sich sogar nicht einmal wundern und dieser Verwunderung irgendwie Ausdruck geben. Wo bliebe sonst jener Gehorsam, der ganz allein die Veranlassung war, daß der Hauptmann von Köpenick seine Truppen zum Siege führte? Hätte ich etwas zu sagen, dann hätte ich dem „Hauptmann” einen hohen Orden verliehen, denn sicher zeigte er bei dem Sturm auf das Rathaus ebensoviel Mut wie General Stössel bei der Verteidigung Port Arthurs. Und noch aus einem anderen Grunde hätte ich Wilhelm Voigt einen hohen Orden verliehen — er bewahrt durch seine Tat Deutschland Jahrzehnte lang vor einem Krieg. Er hat dem Ausland gezeigt, wie unerschütterlich der Gehorsam in unserer Armee ist, wie da der Untergebene nichts, der Vorgesetzte alles bedeutet. Und die Nachbar­staaten werden sich hüten, mit einem Land Krieg anzufangen, dessen Soldaten sogar einem Hauptmann gehorchen, der gar keiner war. Wie gehorchen sie dann erst einem wirklichen, einem ganz echten Vorgesetzten!

Wilhelm Voigt hat dem Staat den Frieden gesichert — der Südwestafrikaner konnte das Ansehen unserer Armee im Auslande untergraben, einen Krieg heraufbeschwören. Hat nicht erst kürzlich ein angesehener französischer Militär­schriftsteller die Schäden der französischen Armee, den Mangel an Disziplin dort schonungslos aufgedeckt? Wie stolz schüttelten wir den Kopf: „Bei uns ist so was unmöglich.” Was aber dann, wenn man in Paris von der Antwort des Afrikaners erfuhr, wenn die französischen Spione aus Deutschland in chiffrierten Telegrammen ihrer Regierung meldeten: Deutschland wackelt, ein Afrikaner hat erklärt, er hätte keine Flossen, sondern Hände und Beine. Mit dem Gehorsam ist es in Deutschland noch viel schlechter bestellt, als bei uns. Erklärt schnell den Krieg, die Gelegenheit ist günstig.”

Was dann? Die Schuld des Afrikaners muß gesühnt werden. Das Kriegsgericht tritt zusammen, der Angeschuldigte wird vorgeführt. (Auch Leute, die gar nicht in Untersuchungshaft saßen, werden „vorgeführt”. Warum?) Die Verhandlung beginnt, die Akten werden verlesen, es kann für die Richter kein Zweifel mehr bestehen: der Mann hat die ihm zur Last gelegten Worte wirklich gebraucht. Die Tat des Angeschuldigten ist so groß, so ungehuerlich, daß man dafür vergebens nach einer Erklärung sucht — ob die Richter selbst auch keine Erklärung fanden, weiß ich natürlich nicht. Aber jeder, der den Prozeß in der Zeitung las, fragte sich sicher: Der Mann ist doch ein Deutscher, vielleicht sogar ein Preuße und außerdem noch Soldat — drei Gründe für einen, um zu schweigen, und er sprach dennoch? Wie ist das möglich?

Lieb Vaterland kannst ruhig sein! Bei der kriegs­gerichtlichen Verhandlung erhebt sich plötzlich der Stabsarzt, der bei der Schwere des Vergehens, vielleicht aber auch nur aus gesundheitlichen Gründen, den Angeklagten untersuchte und sagte: Der Mann war bei Begehung der Straftat nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, er hat vielmehr unter dem Eindruck eines Tropenkollers gehandelt. Das Kriegsgericht spricht den Mann frei, und nicht nur die Armee, deren Ansehen auf dem Spiel stand, ganz Deutschland atmet erleichtert auf: Der Mann wußte nicht, was er tat, als er sich erlaubte, eine Ansicht zu äußern, die von der seines Vorgesetzten abwich. Und in der Freude über den Ausgang des Prozesses übersehen viele fast das Wichtigste, das dieser Prozeß lehrt. Nämlich, daß der Tropenkoller wirklich als Krankheit existiert, daß er nicht nur als Vorwand für unerhörte Grausamkeiten in den Kolonien dienen mußte. Immerhin für das, was da drüben geschah, hätte sich vielleicht auch noch eine andere Erklärung finden lassen, aber für den Widerspruch des Südwest­afrikaners?

Was dann, wenn der Mann nun keinen Tropenkoller hatte? Wenn der Mann trotzdem die Worte gebraucht hätte: Ich habe keine Flossen, sondern Füße und Beine? Wie wäre das dann zu erklären? Würde sich da überhaupt jemals eine Erklärung finden lassen? Aber warum sich den Kopf zerbrechen. Der Mann war krank, er hatte den Tropenkoller, und darüber, daß er ihn hatte, wollen wir uns nicht nur in seinem Interesse, sondern auch in dem der Armee und des ganzen deutschen Vaterlandes, deren Ruf und Ansehen auf dem Spiel standen, herzlichst freuen.


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