Er darf nicht heiraten.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: Deutscher Volkskalender für das Jahr 1916, Wien 1916, S. 79,
in: „Excellenz lassen bitten” und
in: „Seine Hoheit”


Leutnant von Becherer war nicht nur der reichste, sondern nach Meinung aller jungen Damen und aller Mütter, die an dem neuen, dreißig Jahre alten Oberleutnant das lebhafteste Interesse nahmen und an ihm nur das auszusetzen hatten, daß er immer noch Jungegeselle war, auch der liebenswürdigste und hübscheste Offizier in der großen Residenzstadt. Wenn er mit seinem Rappenviererzug, dessen rotes Ledergeschirr sich leuchtend von der dunkeln Farbe seiner Pferde abhob, durch die Straßen fuhr, ruhten die Blicke aller jungen Mädchen länger als unbedingt notwendig war auf dem schlanken, blonden Offizier, dem die blaue Husarenjacke mit den schneeweißen Litzen ausgezeichnet stand und jede, die einen Blick seiner großen, dunkeln, sinnenden Augen traf, errötete, ohne den Grund hierfür angeben zu können.

Es gab in der ganzen Gesellschaft nicht eine einzige junge Dame, die nicht für den „Kronleuchtertänzer” schwärmte. Er verdankte diesen Beinamen dem Umstande, daß er bei allen Bällen mit seiner Dame sofort unter den Kronleuchter(1) tanzte und auf diesem kleinen Platz seine Tänzerin nach den Klängen der Musik hin- und herführte. Niemand tanzte einen solchen „himmlischen” langsamen Walzer wie er, niemand führte so elegant und sicher, niemand verstand es so wie er, seine Dame durch das dichteste Gedränge beim Tanz zu geleiten, ohne auch nur ein einziges Mal mit einem anderen Paar zusammen zu stoßen(2).

Er war der liebenswürdigste und lustigste Tischherr, den eine Dame sich nur wünschen konnte, und wie er der Jugend durch seine frische Natürlichkeit gefiel, so lobten die Eltrn und namentlich die Väter in ihm sein reiches Wissen, den Ernst und die Tiefe seiner Anschauungen. Er war eben nach der Meinung aller ein besonderer Mensch, und diesem Unstand hatte er es auch zu verdanken, daß er nicht bei seinem in einer kleinen Stadt garnisonierenden Regiment Dienst that, sondern zur Dienstleistung bei der Botschaft in der Residenz kommandiert war.

Die Wintersaison stand in voller Blüte, ein Fest, ein Ball, eine Gesellschaft folgte der anderen, und es schien fast, als ob für diese Vergnügungen die Parole ausgegeben sei: „Leutnant von Becherer soll und muß heiraten.” Die Mütter bewarben sich fast noch mehr um ihn als die jungen Mädchen: sie glaubten es ihm selbst und ihren Kindern gegenüber nicht verantworten zu können, ihn noch länger an seinem Glück vorübergehen zu lassen. Warum war der junge Offizier denn in jeder Gesellschaft zu finden, wenn er überhaupt nicht daran dachte, einmal Ernst zu machen?

Dachte er nicht daran, so mußten andere für ihn daran denken, und diese anderen waren nicht nur die Mütter, sondern auch die jungen Damen. Ihnen allen hatte er den Hof gemacht, der einen mehr, der anderen weniger; aber „bekourt” hatte er alle, und nun wollten sie Klarheit haben und wissen, wer denn diejenige sei, die am meisten Eindruck auf sein Herz gemacht habe. Er sollte Farbe bekennen — nicht zum zweitenmal sollte er einen ganzen Winter hindurch wie ein Schmetterling von einer Blume zur anderen flattern.

Viele Hoffnungen wurden auf Leutnant von Becherer gesetzt. Man gab ihm deutlich zu verstehen, daß er in jeder Familie als Schwiegersohn sehr willkommen sein würde. Aber als es endlich schien, als wenn sich in der Brust des Löwen der Saison ernstere Absichten zu regen begannen, da schwirrte plötzlich wie eine Unglücksbotschaft das Gerücht durch die Stadt: „Leutnant von Becherer darf nicht heiraten.”

Das war stark, das hatte man von ihm nicht erwartet.

„Er darf nicht heiraten,” das war das Wort, das die Väter, die Mütter und die Töchter, die sich auf der Straße begegneten, sich gegenseitig zuriefen — das war das Wort, das Veranlassung gab zu den Kaffeekränzchen der jungen Dame, zu den Kaffeeschlachten der alten Damen.

Er darf nicht heiraten!

Schrecken lähmte alle, aber nur für kurze Zeit, dann hieß es auch für die Frauen, sich zu ermannen.

Er darf nicht heiraten!

Das war nach Ansicht aller ein unhaltbarer Zustand, das durfte nicht so bleiben.

Es mußten Gegenmaßregeln getroffen werden, es galt im allseitigen Interesse, die plötzlich aufgetauchten Hindernisse zu beseitigen.

Warum durfte er nicht heiraten?

Niemand wußte es und dennoch behaupteten alle es zu wissen — es ist ja eine Eigentümlichkeit der meisten Menschen, daß sie lieber die größte Dummheit zur Antwort geben, als daß sie offen und ehrlich eingestehen: ich weiß es nicht.

Sie wußten alle „ganz genau Bescheid”.

„Er hat es auf der Brust,” sagte die Frau Generalkonsul zu ihrer Untergebenen, der Frau Vizekonsul, „er soll mit seinen Lungen gar nicht in Ordnung sein. Wissen Sie, Liebste, Ihnen kann ich es ja sagen: was ich heute weiß, wußte ich schon lange, aber ich hütete mich wohl, etwas zu sagen. Damals hätte man mich ausgelacht und jetzt? Nun stehe ich groß da, ich bin die Einzige, die durch die Nachricht in keiner Art und Weise überrascht ist. Wie gesagt, ich wußte, daß er krank war — ich habe für so etwas einen Blick, auf den ich mich verlassen kann — und das war auch der Grund, daß ich in der letzten Zeit meine Bertha absichtlich den Gesellschaften fernhielt, auf denen ich Leutnant von Becherer vermutete. Ich bin eine viel zu kluge und verständige Frau, eine viel zu liebevolle Mutter, als daß ich mein Kind sich in einen jungen Herren verlieben ließe, der sozusagen Todeskandidat ist. Passen Sie auf, er wird sterben.”

Dieser tiefen Weisheit wagte die Frau Vize-Konsul nicht zu widersprechen, und die Frau General-Konsul fuhr fort: „Und wissen Sie, Liebste, daß er hierher zur Botschaft kommandiert ist, kam mir gleich sehr verdächtig vor — ich bitte Sie, solch junger Mensch, fast noch ein Kind, was versteht denn der von den Geschäften einer Botschaft? Ich habe mich danach erkundigt, die Herren, die ein solches Kommando erhalten, haben, wie es beim Militär heißt, fast alle einen „Knacks” — der eine ist mit dem Kopf, der zweite mit der Brust, der dritte mit den Beinen nicht ganz in Ordnung, und bei Becherer hapert's mit den Lungen. Es ist ja eigentlich schade um den jungen Mann, aber warum hat er in seiner Jugend so leichtsinnig gelebt, von nichts kommt nichts, das ist eine alte Geschichte.”

Und auch dieser tiefen Lebenswahrheit wagte die Frau Vize-Konsul nicht zu widersprechen.

Andere erzählten anders: Herr von Becherer hätte einen unermeßlich reichen Onkel, von dem er seine hohe Zulage erhielt. Die einen gaben sie auf zehn, die anderen auf hunderttausend Mark im Jahr an. — Dieser Onkel sollte seinen Neffen zum alleinigen Erben seiner vielen, großen Güter unter der Bedingung eingesetzt haben, daß dieser Junggeselle bliebe. Der Onkel sollte in der Ehe sehr traurige Erfahrungen gemacht haben, und er wollte seinen Herrn neveu vor einem ähnlichen Unglück bewahren und behüten. Er durfte nicht heiraten — that er es dennoch, so fiel der märchenhafte Besitz an einen entfernten Verwandten.

Viele Mütter schüttelten den Kopf, als sie diese Geschichte hörten, nicht etwa, weil sie den leisesten Zweifel in die Wahrheit derselben setzten, sondern ihr Erstaunen galt der Schlechtigkeit und der Unzuverlässigkeit der modernen Männer. Ja, ja, so waren sie alle, Geld, Geld und immer nur Geld, weiter gab es nichts für sie auf der Welt, darin waren sie alle gleich, einerlei, ob sie Herr von Becherer oder Herr Ypsilon hießen. Daß einer aus Liebe zu einem jungen Mädchen auf ein paar tausend Mark im Jahr verzichtete — nein, das gab es heutzutage nicht mehr! Früher, als sie, die Mütter, noch jung waren, da waren die Zeiten anders gewesen, da gab es noch treue, selbstlose, eine alles für die Geliebte opfernde Liebe, aber jetzt? Es wurde wirklich Zeit, daß der Staat das Umsichgreifen des Realismus verböte und den Idealismus wieder an seine alte Stelle setzte. Wozu bezahlte man denn seine hohen Steuern?

Wieder andere erzählten, die Geschichte von dem Onkel sei nur ein Märchen — Leutnant von Becherer habe gar keine Verwandten, er habe aber auch gar kein Geld. Er habe vom ersten Tage an weit über seine Verhältnisse gelebt und stecke bis über die Ohren in Schulden. Seine Gläubiger hätten gedrängt und ihm den Rat gegeben sich durch eine reiche Heirat zu arrangieren. Herr von Becherer hätte auch die Absicht gehabt, diesem Rat zu folgen, aber keine der Damen sei für seine enorme Schuldenlast reich genug — da habe er den Onkel erfunden, und auf dessen Tod könnten die Gläubiger nun warten, bis sie selbst tot wären, der Onkel würde nie sterben, weil er gar nicht lebte.

Wenn die Eltern aber hofften, durch solche Erzählungen ein für allemal ihren Kindern das Interesse für den jungen Offizier zu rauben, so mußten sie zu ihrer Betrübnis einsehen, daß sie gerade das Gegenteil von dem erreichten, was sie erstrebten. Die Neugierde wurde auf das höchste erweckt, die jungen Damen ergingen sich in noch viel tolleren Vemutungen als ihre Eltern, und um Herrn von Becherer spann sich ein vollständiger Sagenkreis.

Man fing an, es unbegreiflich zu finden, daß der Offizier noch immer nicht um seine Versetzung eingekommen war, man begriff die Botschaft nicht, daß sie einen solchen Herrn noch nicht hatte ablösen lassen, man fand es unerhört, daß die Regierung noch nicht eingegriffen hatte.

So war alles starr, als es eines Tages hieß, in der nächsten Woche werde auf der Botschaft ein großes Ballfest stattfinden, und Herr von Becherer sei von dem Botschafter selbst als Vortänzer bestimmt worden. Diejenige Dame zu bestimmen, die mit ihm zusammen den Ball eröffnen und die Rolle der Vortänzerin übernehmen soll, sei ihm selbst überlassen.

Alle waren sich darüber einig, daß es für so etwas überhaupt gar keine Worte gäbe.

„Ich will nicht hoffen,” sagte jede Mutter zu ihren Töchtern, „daß seine Wahl auf eine von Euch fällt, denn selbstverständlich würde ich niemals meine Einwilligung geben. Man erzählt sich in den letzten Tagen geradezu entsetzliche Geschichten von ihm, er ist eigentlich gesellschaftlich mehr als unmöglich, und wenn das Fest nicht eben auf der Botschaft wäre, so müßten wir, schon um ein Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden, unbedingt absagen.”

Alle Töchter versprachen hoch und heilig, eine etwa auf sie fallende Wahl als Vortänzerin nicht annehmen und sich für diese(3) ehrenvolle Auszeichnung nach Gebühr bedanken zu wollen, nur eine junge Dame setzte den Worten ihrer Mutter Widerstand entgegen.

„Und wenn er kommt und mich fragt, so sage ich doch ja!” erwiderte Rosa von Poten, eine neunzehnjährige, mittelgroße, schlanke Blondine, und ihre großen blauen Augen blitzten hell auf, „ich sage doch ja; denn von dem ganzen Gerede, daß er ein schlechter Mensch sein soll, glaube ich kein Wort; und wenn er nicht heiraten darf, so muß man Mitleid mit ihm haben und ihn nicht ungehört verurteilen und verdammen.”

Die verwitwete Excellenz sah ihr einziges Kind entsetzt an: „Aber Rosa, ich verstehe Dich nicht, ich begreife Dich gar nicht, Du bist doch sonst ein kluges(4) und verständiges Mädchen. ich muß sagen, das hätte ich nicht von Dir erwartet, ich hätte geglaubt, mein Erziehung hätte bessere Früchte getragen.”

Anstatt jeder Antwort zuckte Rosa nur mit den Achslen und schickte sich an, den auf einem großen Blumentisch stehenden Topfpflanzen Wasser zu geben. Jede ihrer Bewegung(5) war graziös und zierlich, und voll zärtlicher Liebe ruhten die Blicke der Mutter auf ihrem Kinde.

„Sei doch verständig, Rosa, und nimm doch Vernunft an,” bat sie, „daß Herr von Becherer gerade Dich bitten sollte, seine Dame zu sein, ist ja ganz ausgeschlossen; er ist nur ein einziges Mal bei uns im Haus gewesen, auch sonst bist Du nur wenig mit ihm in Berührung gekommen, und unsere Vermögens­verhältnisse sind leider nicht derartig, daß Herr von Becherer hoffen könnte, sich durch Deine Mitgift zu arrangieren. Wer Dich einst heimführen will, muß in durchaus geregelten Verhältnissen leben, denn mehr als eine gute Aussteuer vermag ich Dir nicht zu geben, das weißt Du. Herr von Becherer denkt gar nicht an Dich, um so leichter müßte es Dir sein, Deinen Widerspruch aufzugeben.”

Rosa antwortete immer noch nicht, schon zum zweitenmal gab sie denselben Blumen Wasser und wendete der Mutter immer noch den Rücken — so sah diese nicht, wie während ihrer Worte die Farbe auf dem Gesicht ihrer Tochter wechselte, und wie sie sich gewaltsam zwingen mußte, die Thränen zurückzuhalten.

„Du magst recht haben, Mama,” gab sie endlich zur Antwort, „Herr von Becherer denkt ja gar nicht an mich, wir kennen uns ja kaum.”

Für einen Moment flog ein unmerkliches Lacheln um ihren Mund, dann fuhr sie fort: „Verzeih, wenn ich Dir widersprach — es ist ja zwecklos, daß wir uns über diesen Punkt streiten.”

Sie reichte der Mutter die Hand, und zärtlich küßte diese die Stirn ihres Kindes.

„Wie ist es, Rosa? Willst Du mich zur Stadt begleiten? Ich habe allerlei Besorgungen zu machen.”

Aber Rosa lehnte ab: „Laß mich zu Hause bleiben, Mama, ich möchte heute vormittag noch einige Briefe schreiben; auch denke ich, daß Blanche kommen wird, um wegen der lebenden Bilder, die wir bei ihren Eltern stellen sollen, Rücksprache zu nehmen.”

„Wie Du willst, mein Kind,” gab die Mutter zur Antwort, „für mich aber wird es die höchste Zeit zum Gehen. Auf Wiedersehen.”

Eine Sekunde später war Rosa allein — sie ging in ihr Zimmer, um ihre Korrespondenz zu erledigen, aber schon, nachdem sie nur wenige Worte geschrieben, legte sie die Feder wieder bei Seite und gab sich ganz ihren Gedanken hin.

Wen Herr von Becherer wohl als Vortänzerin wählen würde? Vielleicht Blanche? Sie war hübsch und reich, sehr reich — er hatte ihr im vorigen Jahre sehr den Hof gemacht, alle Welt hatte geglaubt, daß sie sich verloben würden, aber mit einemmal war er, wie man zu sagen pflegt, abgeschwenkt. Sie erinnerte sich noch ganz genau des Abends — es war der Tag gewesen, an dem Becherer sich ihr hatte vorstellen lassen. Da hatte es plötzlich geheißen: er kümmert sich nicht mehr um Blanche, er muß zur Abwechslung einmal sein Herz wieder an eine andere verloren haben — aber darüber, wer diese andere war, zerbrachen sich alle vergebens den Kopf; denn er zeichnete an diesem Abend niemanden aus, keine einzige. Sie selbst hatte nur sehr wenig mit ihm gesprochen, kaum fünf Minuten hatten sie über ganz gleichgiltige, nichtssagende Dinge zusammen geplaudert, dann hatten sie sich verabschiedet, um sich erst nach vierzehn Tagen wiederzusehen. Er war ihr Tischherr, und noch nie hatte sie sich während der Tafel so gut unterhalten.

Zuerst — ja da allerdings war er schrecklich gewesen, der richtige schnarrende, eingebildete Leutnant, dem auf der ganzen Welt weiter nichts imponiert als sein eigenes „Ich” und verwundert hatte sie sich gefragt: „Was haben die Freundinnen nur an ihm, daß sie mich um die Ehre beneiden, neben ihm zu sitzen, daß sie sich die Augen nach ihm ausgucken und sich alle der Reihe nach in ihn verlieben? Mir könnte er nie gefährlich werden.”

Aber kaum hatte sie das gedacht, da hatte er seine Maske fallen lassen und zu ihr, halb lachend, halb ernsthaft geäußert:

„Ich glaube, ich muß, um nicht ganz in Ungnade bei Ihnen zu fallen, mich so geben, wie ich von Haus aus bin — ziehen wir also einmal, natürlich nur bildlich gesprochen, für heute abend den Leutnant aus und seien wir nur Mensch.”

Herr von Becherer war ein sehr netter Mensch gewesen, liebenswürdig, klug, amüsant und lustig.

„Um Gottes willen, verraten Sie mich aber nicht, mein gnädiges Fräulein,” hatte er gebeten, „die Welt kennt mich anders und ist auch so von mir entzückt, so arrogant das auch klingen mag. Ob das Urteil über mich ebenso lauten würde, wenn ich nicht meinen Namen, meinen Reichtum und meine bevorzugte Stellung hier hätte? Qui en sabe! Ich weiß nicht, woran es liegt, Ihnen gegenüber mußte ich wahr sein, aber noch einmal: Sie verraten mich nicht?”

Sie hatte geschwiegen gegen jedermann, sogar gegen ihre Mutter, vor der sie sonst gar keine Geheimnisse hatte — so hatte sie ein leises Lächeln nicht unterdrücken können, als diese vorhin sagte: Ihr kennt Euch ja kaum.

Sie kannte ihn sehr genau, vielleicht am besten von allen jungen Damen und wenn sie sich in Zukunft auf einer Gesellschaft trafen, hatten sie sich vor der Öffentlichkeit zeremoniell begrüßt, aber heimlich und verstohlen hatten sie sich zugenickt wie gute, alte Bekannte. Im Grunde seines Herzens lachte er selbst über die Rolle, die er spielte, über die Art, wie er sie spielte und ihr machte es Spaß, zuzusehen, wie er gefeiert wurde und sich feiern ließ, als müßte das so sein. Sie freute sich über seine Erfolge, wie man sich über den Beifall freut, den ein Schauspieler, den man persönlich kennt, auf der Bühne davon trägt.

Sie sah ruhig zu, wie er in einem Kreis von jungen Damen stand und flirtete. „Er spielt ja nur mit ihnen allen,” sagte sie sich, „er weiß es selbst nicht, was seine Lippen sprechen.”

Aber mit einem Mal regten sich in ihr die Zweifel: wenn er doch für irgend eines der jungen Mädchen etwas empfände — wenn er nicht dir allein gegenüber frei und offen gewesen wäre?”

Die Eifersucht war erwacht, sie merkte, daß sie ihn liebte. „Er darf nicht heiraten!”

Wieviel Thränen hatte sie nicht geweint, als sie diese Worte zum erstenmale hörte — sie hatte geweint für ihn und auch um ihrer selbst willen.

„Er hat nie an dich gedacht, nie, nie,” suchte sie sich selbst zu trösten, „und selbst wenn er sich einmal für Dich interessiert hat, er denkt nicht daran, dich zu heiraten — wer so reich ist wie er, der nimmt kein armes Mädchen.”

Und als dann die Gerüchte über seine schlechte Finanzlage, über seine Schulden, über die Notwendigkeit, reich heiraten zu müssen, zu ihr drangen, da weinte sie von neuem bittere Thränen — er hätte eine Ausnahme bilden, doch ein armes Mädchen wählen können, nun sah sie auch die letzte Hoffnung schwinden, daß er je um sie werben würde.

Sie liebte ihn, obgleich sie sich selbst sagte, daß ihre Liebe völlig aussichtslos sei, und sie nahm ihn in Schutz gegen alle Angriffe und Verdächtigungen.

Und wenn er käme, um sie zu fragen, ob sie mit ihm zusammen den Ball eröffnen wolle, so würde sie doch mit Freuden „ja” sagen, schon um ihm und ihren Freundinnen zu zeigen, daß ein junges Mädchen auch dann einem Herrn zugethan sein kann, wenn es ganz genau weiß, daß an eine Heirat aus vielen Gründen nicht zu denken ist.

Sie hatte gehofft, daß er kommen würde, eine innere Stimme hatte ihr gesagt: er wählt dich, nur dich und keine andere, sie hatte sich selbst thöricht und albern gescholten, aber der Galube und die Überzeugung waren nicht von ihr gewichen.

Drei Tage waren schon, seit die Einladungskarten verschickt waren, verflossen. — Auch sie würde mit ihrer Mutter dem Fest beiwohnen. Noch hatte er, soweit sie unterrichtet war, keine Wahl getroffen — wen würde er wählen?

Sie schloß die Augen und ließ ihre Freundinnen im Geiste Revue passieren — wer würde die Glückliche sein?

Sie fuhr empor aus ihren Träumen. Pferdegetrappel ließ sie einen Blick aus dem Fenster werfen, mit kurzem Ruck hielt ein Viererzug vor ihrem Hause und schon war Herr von Becherer ausgestiegen und hatte dem Groom die Zügel übergeben.

Rosa war aufgesprungen und drückte die Hände gegen das laut klopfende Herz, sie war blaß, totenblaß geworden und ein Zittern und Beben ging durch ihren Körper.

Sie sah ihn die wenigen Schritte in das Haus gehen, sie hörte den Klang der elektrischen Glocke, sie vernahm die Stimme des Dieners,der da meldete, daß die gnädige Frau ausgegangen sei.

„So melden Sie mich dem gnädigen Fräulein,” hörte sie seine frische Stimme.

Sie rührte sich immer noch nicht, sie wollte dem Diener sagen, daß sie nicht imstande sei, Besuch anzunehmen, aber als sie nun seine Karte in den Händen hielt, hatte sie nicht den Mut und nicht die Kraft, ihn abweisen zu lassen, und eine Minute später stand er ihr gegenüber.

Sie faßte sich so gut sie es vermochte, und so unbefangen wie es ihr nur möglich war, trat sie ihm mit einem leichten Lächeln entgegen und reichte ihm die Hand zum Willkomm.

„Wie freundlich von Ihnen, Herr von Becherer, daß Sie sich einmal wieder bei uns blicken lassen. Mama wird es sehr bedauern, Sie nicht zu sehen, sie ist zur Stadt; doch kann sie jeden Augenblick zurückkommen.”

Er hatte sich ihr gegenüber auf einen Sessel niedergelassen und stellte nun auf ihre Aufforderung hin seine Pelzmütze neben sich auf die Erde. „Sie sehen mich in großer Gala, mein gnädiges Fräulein,” sagte er scherzend, „ich habe mich so schön gemacht wie nur möglich, alle Orden angelegt, die ich mir durch meine Verdienste um die Erhaltung des Weltfriedens eroberte, den Dolman umgehängt und die allerneueste Garnitur aus dem Schrank geholt. Ich bin nämlich auf dem Kriegspfade und das Reglement schreibt vor, daß der Soldat, wenn er in den Krieg geht, sich sein allerbestes Kleid anziehen soll, sintemalen die Kriegstage für den Soldaten Festtage sein sollen.”

„Und gegen wen ziehen Sie denn zu Feld?” fragte sie neckend, „sind diplomatische Verwickelungen eingetreten, die nur Sie durch Ihr Einschreiten und durch die Macht Ihrer Persönlichkeit lösen können? Eine geeignetere Persönlichkeit als Sie, um Streitigkeiten beizulegen, hätte eine hohe Regierung schwerlich finden können.”

Er verbeugte sich zeremoniell: „Mein gnädiges Fräulein, Ihr Vertrauen ehrt mich — aber beruhigen Sie sich, zwischen den verbündeten Regierungen herrscht wie immer das beste Einvernehmen, obgleich sie sich natürlich von ganzem Herzen das denkbar Schlechteste wünschen und gönnen. Wenn ich vorhin sagte, daß ich mich auf dem Kriegspfade befinde, so wollte ich damit ausdrücken, daß ich eine Eroberung machen muß, es kommt für mich darauf an, eine Dame zu gewinnen, die mir die Ehre erweisen will, mit mir zusammen den Ball auf der Botschaft zu eröffnen. Ich habe Tage lang darüber nachgedacht und immer wieder kam ich zu dem Resultat: „Geh zu Fräulein von Poten, die wird dir raten und helfen.” — Und nun bin ich hier.”

Sie mußte lachen trotz der Unruhe ihres Innern. „Ja, nun sind Sie hier,” versuchte sie zu scherzen, „das sehe ich, und nun weiter?”

„Ja, mein gnädiges Fräulein,” gab er zur Antwort, „das ist es ja gerade, deshalb kam ich ja zu Ihnen. Darf ich ganz offen mit Ihnen sprechen?”

Ihr Herz drohte ihr still zu stehen; was würde er wollen, was ihr anvertrauen?

„Aber selbstverständlich, Herr von Becherer,” gab sie zur Antwort, „ich denke, Heimlichkeiten und Verstellungen giebt es nicht zwischen uns Beiden.”

„Dann also Courage,” sagte er und sich in seinem Sessel aufrichtend, fuhr er fort: „Wissen Sie wohl, mein gnädiges Fräulein, daß mir Ihnen gegenüber immer ganz sonderbar zu Mut ist. Ich habe stets die Empfindung, als hätte ich mir die vorschriftsmäßige Halsbinde zu stramm angezogen oder als hätte der Schneider mir den Kragen der Attila zu eng gemacht, ich getraue mir Ihnen gegenüber nie zu sagen, was ich auf dem Herzen habe, obgleich ich doch sonst gar nicht so schüchtern bin.”

„Ich glaube, das Zeugnis schüchtern zu sein, werden Ihnen nur wenige ausstellen, und die auch nur gegen ihr besseres Wissen und gegen ihre bessere Überzeugung,” sagte sie neckend.

„Sie sind wenigstens offen,” erwiderte er, „und das gibt mir den Mut zu der Frage: „Wollen Sie, mein gnädiges Fräulein, bei dem Botschaftsball meine Partnerin sein?”

Sie fühlte, wie sie errötete, wie sie ihre Bewegung nicht verbergen konnte — so ging ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung, und sie zögerte nicht, ihre Zustimmung zu geben.

Dankbar blickte er sie an. „Wissen Sie aber auch, mein gnädiges Fräulein, was alles in der Stadt über mich geredet wird?” fragte er.

Sie nickte stumm mit dem Kopf, dann sagte sie: „Ich weiß alles, alles, aber ich habe nie etwas davon geglaubt, und um Ihnen das zu beweisen, will ich auch mit Ihnen tanzen.”

„Haben Sie aber auch gehört, daß ich nicht heiraten darf?”

Wieder nickte sie nur stumm mit dem Kopf.

„Und trotzdem wollen Sie sich dem Gespött aussetzen? An höhnischen Bemerkungen wird es nicht fehlen.”

Sie versuchte zu scherzen und zwang sich zu einem Lächeln: „Aber Herr von Becherer, wir wollen einander doch nicht heiraten, wir wollen doch nur miteinander tanzen.”

Er sah sie lange prüfend und forschend an, so daß sie unwillkürlich den Blick zu Boden senkte, dann sagte er: „Was aber dann, mein gnädiges Fräulein, wenn Sie dadurch, daß Sie bei dem Tanz meine Partnerin werden, sich auch verpflichten müßten, mich zu heiraten? Aber nein, dann werden auch Sie nicht einwilligen, denn das junge Mädchen, das mich heiratet, müßte auf alles verzichten. An dem Tage, da ich mich verlobe, verliere ich mein ganzes Vermögen, ich besitze dann kaum noch das obligate Kommißvermögen. Ich muß die Residenz verlassen, zurückkehren in meine kleine Garnison, allen Luxus entbehren und zusammen mit meiner Frau müßte ich jeden Groschen dreimal umdrehen, damit das Wirtschaftsgeld langt. Ich habe mir geschworen, das Mädchen zun heiraten, das mit mir den Ball eröffnet — nun habe ich alles gesagt; wollen Sie doch noch mit mir tanzen oder schreckt auch Sie die Zukunft, die ich Ihnen schilderte?”

Sie sah ihn an mit offenen, ehrlichen Augen: „Glauben Sie wirklich, daß ein Mädchen, das Sie liebt, sich durch Ihre Worte abhalten lassen könnte, ja zu sagen? Glauben Sie denn, daß Reichtum und Besitz alles ist? Können Sie einem Mädchen mehr opfern als Ihre ganze Zukunft, den ganzen Luxus, der Sie bisher umgab? Und das sollte ein Mädchen hindern, Sie zu lieben? Aber Herr von Becherer, wie schlecht kennen Sie uns.”

Er sprang auf und ergriff ihre beiden Hände. „Rose, so liebst Du mich auch, wie ich Dich liebe seit dem Tage als ich Dich zum erstenmal sah? Ach, sag mir das Wort, nach dem ich mich sehne, das mich zum glücklichsten Menschen macht, sag mir, daß auch Du mich liebst.”

Sie sah mit leuchtenden Augen zu ihm empor und, vor Freude und Glück unfähig zu sprechen, lehnte sie den Kopf an seine Brust.

Zärtlich schloß er sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit heißen, flammenden Küssen. „Ich wußte es ja,” jubelte er auf, „ich wußte es ja, daß Du mich liebst. Und nun laß mich ein Geständnis ablegen, ich habe das Gerücht, daß ich nicht heiraten durfte, selbst in Umlauf gesetzt, weil ich die ewigen Anspielungen, die ewigen Ermahnungen, die ewigen Fragen, ob ich denn gar nicht daran dächte, eine Frau zu nehmen, nicht mehr ertragen konnte. Ich ließ die Welt reden, was sie wollte, mir machte es Freude, zu sehen, welche unglaublichen Gerüchte entstanden und wie selbst das Unglaublichste geglaubt wurde. Ich sagte mir: je toller, desto besser, da wird es sich zeigen, ob auch überhaupt eine an dich glaubt, ob auch nur eine wirklich etwas von dir hält. Du, Geliebte, hast die Probe glänzend bestanden, glänzender, als ich zu hoffen wagte, denn wisse, was ich Dir erzählte, war ein Märchen. Mein Besitz, mein Reichtum, alles verbleibt mir, nur eines ist wahr: die Residenz müssen wir verlassen, mein Kommando ist hier beendet, heute morgen habe ich meine Berufung an die Botschaft in Paris erhalten. Willst Du mich auch dorthin begleiten?”

Lächelnd sah er zu ihr nieder und als sie nun vor Freude und Glückseligkeit weinte, da beugte er sich über sie und küßte ihr die Thränen von den Augen.

Als die Excellenz nach Haus kam und ihre Tochter in den Armen des jungen Offiziers fand, fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe — sie sank in einen Sessel und suchte vergebens nach Worten, um ihrer Entrüstung Ausdruck zu geben. Aber wenige Minuten genügten, um ihr die sie vollständig befriedigende Auskunft zu geben und ihre Einwilligung zu erlangen.

Schon am Nachmittag desselben Tages bildete die Verlobung das einzige Gesprächsthema in der ganzen Gesellschaft und alle wurden sich darüber einig, daß die Versetzung des Herrn von Becherer ein wahres Glück sei. Mit seinen Anschauungen und Ansichten paßte er nicht mehr hierher und alle vertraten den Standpunkt, daß er, selbst wenn wirklich alle Gerüchte wahr gewesen wären, denn doch noch eine ganz andere Partie hätte machen können.

Er hatte sich verlobt, er hatte seine Rolle ausgespielt, er war gerichtet.


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißt es hier: „unter dem Kronleuchter” (Zurück)

(2) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißt es hier: „zusammenzustoßen” (Zurück)

(3) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißt es hier: „für die ehrenvolle Auszeichnung” (Zurück)

(4) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißt es hier: „ein so kluges” (Zurück)

(5) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißt es hier: „Jede ihrer Bewegungen” (Zurück)


zurück zur

Schlicht-Seite