Einberufen

Von Freiherr von Schlicht
in: „Rostocker Anzeiger” vom 7.6.1896,
in: „Kieler Zeitung” vom 23.5.1897,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 6.6.1897 und
in: „Ein Adjutantenritt.”

(Dieser Text ist nicht identisch mit dem gleichnamigen Text aus „Türke und Stachelschwein”,
der die Einberufung der Reserveleutnants zum Thema hat.)

Nun ist sie da die schöne Zeit, in der die Landwehrbrüder zu den militärischen Übungen einberufen werden. Aber ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß sich irgend jemand über diese Einberufung freute.

Die Landwehrleute gehören noch zu den alten Soldaten, die drei Jahre dienten, na, und wenn man seine drei Jahre abgerissen hatte, dann dankte man seinem Schöpfer. Man zog den bunten Rock am letzten Tage viel schneller aus, als man ihn am ersten Tage angezogen hatte, und hätte man selbst darüber zu entscheiden, so würde man die „Lumpen” nie wieder anziehen. Aber es gibt ein „Muß” und dies heißt „Einberufen”. Gar mancher Fluch steigt gen Himmel, wenn die Landwehrleute die Einberufungsorder erhalten: als Reservist zu dienen, geht nach ihrer Meinung noch an, aber als Landwehrmann ist es einfach scheußlich. Fast zehn Jahre sind vergangen, seitdem man als Soldat „abgeliefert” hat, und in den zehn Jahren ist man nicht jünger geworden, man hat sich verheiratet, hat Weib und Kinder, aber was hilfts? Gegen das Wort „Einberufen” gibt es kein Mittel, und so stellen sich denn die zur Übung Befohlenen pünktlich auf dem Kasernenhof ein.

„Auch alle da?” fragt der Hauptmann als erstes seinen Feldwebel, und die Leute, in dem Glauben, die Frage hätte ihnen gegolten, antworten laut: „Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

„Na, zählen Sie doch lieber mal nach, Feldwebel,” meint der Hauptmann, und der Feldwebel konstatiert, daß nicht nur alle, sondern sogar zwei zuviel da sind.

Wie ist das möglich?

Es wird nochmals nachgezählt, gerechnet, Listen verlesen, das Resultat bleibt dasselbe – zwei zuviel.

„Na, mir solls recht sein,” denkt der Vorgesetzte, da kommt der Hauptmann der zweiten Landwehrkompagnie zu seinem „Kollegen”:

„Hören Sie mal, ich begreife das nicht, mir fehlen zwei Leute.” Und nun klärt sich die Sache schnell auf: Zwei brave Landwehrleute, die zur zweiten Kompagnie sollten, haben sich stillschweigend zur ersten „gedrückt”, weil es bekannt ist, daß der Hauptmann der ersten seine Leute sehr anständig behandelt, während der Häuptling der zweiten mächtig „bimst”. Da gilt es denn Abschied nehmen, und verfolgt von Hohngelächter der bei der ersten Zurückbleibenden ziehen die beiden Drückeberger wieder von dannen.

Besonders gut werden sie es bei der zweiten nicht haben.

Sind die Mannschaften verteilt, so beginnt das Einkleiden. Ach, das ist ein schweres Stück Arbeit! Für die Übungsmannschaften sind im Gegensatz zu den alljährlich eintretenden Rekruten keine Garnituren auf den Kammern vorhanden, sondern sie müssen in die Hosen hinein, die von den Mannschaften der Linienkompagnien für diese Zeit abgegeben, gleichsam verliehen werden. Auch bekommen die Landwehrleute keine Waffenröcke, sondern nur blaue Tuchblusen, die sogenannten Litewken.

Am Nachmittag soll das Exerzieren beginnen, aber das militärische Auge sträubt sich, die „Soldaten” anzusehen, die da vor ihm stehen. Der eine trägt zu seiner Uniform einen großen neuen Schlapphut, weil ihm kein Helm paßt, der zweite trägt helle Zivilbeinkleider, der dritte hat keinen Leibriemen, weil ihm alle zu eng waren – ganz fertig angezogen ist kaum ein einziger.

Aber exerziert wird doch, aber fragt mich nur nicht wie!

Die Griffe gehen noch, aber der Marsch!

Irgend ein weiser Mann hat einmal gesagt: „Landwehr hat Ruh'” – das Wort kennen die Einberufenen, und sie lassen sich durch nichts aus ihrer Ruhe herausbringen. Man mag bitten, ermahnen, schelten, fluchen, drohen, – alles vergebens, wie die Schnecken schleifen die Leute vorwärts, und wenn dem Vorgesetzten endlich die Geduld reißt, antworten sie ganz ruhig: „Meine Stiefel passen mir nicht.”

Na, und wenn die Stiefel nicht passen, kann der Kerl auch nicht marschieren, das ist ja klar. Beweisen, daß die Stiefel doch passen, kann kein Mensch – folglich behält der Landwehrmann recht und seine Ruhe.

Unter den Einberufenen befinden sich mächtig viele „Knochenschoner”. So nennt man die Leute, die bange sind, sich im Dienst zu überanstrengen, die nicht ein Atom mehr tun, als sie unbedingt müssen, und die auf Kosten der andern bummeln. Schön ist so etwas ja gerade nicht, verdenken aber kann man es den Leuten nicht, denn der ungewohnte Dienst bereitet ihnen große Mühe, und gar mancher Schweißtropfen fließt von der Stirne, die Wangen hinunter, in den langen Bart, an den das Messer des Barbiers sich nicht herangewagt hat, denn zu dem Einkleiden gehört auch, daß der Barbier seines Amtes waltet. Wie der Vater zu seinem Sohn sagt: Gehe hin und laß dir die Haare schneiden, so sagt auch der Hauptmann zu den Landwehrleuten, die manchmal älter oder oft doch wenigstens ebenso alt sind wie der Vorgesetzte: „Heute mittag lassen Sie sich die überzähligen Haare schneiden.” Ein Landwehrmann bittet, er hat an den Ohren eine schöne Schmachtlocke, das Entzücken seines Jungen, der mit wahrer Wollust seinen Vater an diesen Locken zieht, aber die Bitte ist vergebens: der Dienst erfordert es, „Zivilisten sind wir hier nicht,” weg mit dem Ding.

Und am Nachmittag sitzen hundert bärtige Landwehrbrüder wie die kleinen Kinder und lassen sich die Haare klippen, ganz kurz, militärisch! Nun geht der Dienst nochmal so gut, und Dienst haben sie genug, von morgens um sechs bis mittags um zwölf, und nachmittags von zwei bis um sieben Uhr. Mit der achtstündigen Arbeitszeit ist es beim Kommiß nichts, weder für die Untergebenen noch für die Vorgesetzten.

Vorgesetzte gibt es bei einer Landwehrkompagnie genug: da sind außer den aktiven Offizieren und Unteroffizieren noch eine Menge von Landwehroffizieren und Unteroffizieren. Die Landwehroffiziere sind vielleicht die einzigen, die nicht gar zu sehr über ihre Einberufung schelten – nur wenn diese in ihre Ferien oder in ihren Urlaub fällt, sind sie außer sich. Sonst betrachten sie die Dienstzeit als eine Badereise, wenn sie auch nur ein Sandmeer zu sehen bekommen, sie beziehen sehr hohe Equipierungsgelder, bei denen zum mindesten ein Zivilanzug übrig ist, wenn nicht zwei, denn manche lassen sich nur die bei der letzten Übung schiefgelaufenen Absätze gerade machen. Außerdem bekommen sie große Tagegelder, ihr Gehalt läuft weiter fort, so daß sie sich pekuniär sehr gut stehen und trotz des immensen Durstes, den sie im Kasino entwickeln, meistens Muttern noch einen Spargroschen mit nach Haus bringen. Für einen aktiven Soldaten ist es eine unerschöpfliche Quelle heitern Genusses, zuzusehen, wenn ein Landwehroffizier seinen Zug oder gar eine Kompagnie exerziert, das Schönste aber ist, wenn ein Landwehroffizier grob wird. Das ist gar nicht so leicht, wie es aussieht. Fluchen und schelten kann jeder, aber so schelten, daß den Kerls das Herz in die langschäftigen Stiefeln sinkt und sich jeder sagt: „Herr Gott, wenn du nun nicht deine Gebeine in die Luft wirfst, schlägt es ungerade” – das ist eine Kunst. Einmal sah ich zu, wie ein Landwehroffizier seinen Zug exerzierte, die Kerls bummelten, daß das Ende davon weg war, und der arme Leutnant geriet immer mehr in Wut. „Kerls,” rief er endlich, „ihr solltet euch was schämen, wenn jetzt der heilige Antonius mit dem Exerzierreglement in der Hand auf einem Stachelschwein vorüberritte und euch hier sähe, er würde vor Schreck vom Gaul fallen.”

Nicht was er sagte, sondern das „wie” klang so komisch, daß ein brüllendes Gelächter entstand und der gute Leutnant ganz das Gegenteil erreicht hatte von dem was er wollte.

Ich diente einmal mit einem Hauptmann der Landwehr zusammen, der in seinem Zivilberuf Postdirektor war. Seine Haupttätigkeit während seiner Dienstzeit bestand darin, daß er sich mit seiner Frau, die in seinem Wohnort zurückgeblieben war, telephonisch unterhielt.

„Aber Sie vertelephonieren ja ein Vermögen?” sagte ich ihm eines Tages.

„Keinen Groschen,” entgegnete er, „ich kann meiner Frau telephonieren so viel ich will, das kostet nichts.”

„Und warum denn nicht?”(1) fragte ich.

„Das sind Amtsgespräche,” entgegnete er stolz, „die sind frei.”

Wenn der gute Postdirektor, der als Hauptmann mit wahrhaft riesigen Sporen bewaffnet war, zur Abwechslung einmal keine Amtsgespräche führte, sondern zum Dienst kam, befand er sich stets in der denkbar schlechtesten Laune, weil er stets einen maßlosen Jammer hatte. Er behauptete, nicht gut schlafen zu können, wenn er nicht abends „seinen Grog” getrunken hätte. „Sein Grog” bestand aber für gewöhnlich aus zwölf Grogs, und so war der Hauptmann des Morgens immer sehr elend.

Nun gibt es für den Soldaten nur dreierlei: er ist entweder gesund, krank oder tot.

Mein lieber Postdirektor meldete sich aber eines Tages schriftlich „unwohl”.

Der brave Hauptmann wurde belehrt, daß es den Soldaten verboten sei, sich unwohl zu fühlen, so kam er denn fluchend und scheltend zum Dienst. Er kommandierte sehr undeutlich, einmal weil er ein sehr schlechtes Kommando hatte, dann aber auch, weil er die meisten Kommandos nicht genau wußte.

Hatte die Unordnung ihren Höhepunkt erreicht, schrie er voller Wut: „Kerls, soll ich euch erst jedes Kommando ins Ohr telegraphieren?”

Das klang so gräßlich, dank seines entsetzlichen Organs, daß die ganze Landwehrkompagnie zusammenzuckte, als wenn der elektrische Strom schon durch ihre Ohren hindurchgefahren wäre.

Der Postdirektor aber pries mittags im Kasino die großen Vorzüge der Elektrizität.

Wenn der gute Landwehrhauptmann ein Kommando abgegeben hatte, so fragte er stets den neben ihm stehenden Oberleutnant(2), der die Stelle eines Souffleurs vertrat: „Nochmals?”

Und sagte der „ja”, dann donnerte der Postdirektor los: „Solche Bummelei verbitte ich mir; wenn ich vor der Front stehe, bitte ich mir mehr Anspannung aus, der Griff war ganz hundemiserabel – nochmal.”

Sagte der Ober(3) aber „nein”, dann lobte der Hauptmann: „Der Griff war gut, sehr gut, sehr hübsch, so gehört sich das aber auch.”

Da machte sich der Ober(4) eines Tages den Spaß und sagte leise zu dem Postdirektor, während dieser eine begeisterte Lobrede hielt: „Herr Hauptmann, ich habe mich geirrt, der Griff war doch sehr schlecht – vielleicht lassen der Herr Hauptmann ihn doch lieber noch einmal machen.”

Und ohne sich zu besinnen, fuhr der Postdirektor fort: „So würde ich euch gelobt haben, wenn dieser Griff gut gewesen wäre, aber er war jammervoll, einfach jammervoll – nochmal.” So wechselt während der Einberufung, wenigstens für die Offiziere, Ernst und Scherz, aber sie sind doch froh, wenn die Einberufenen eines Tages entlassen werden und zu Weib und Kind zurückfahren.

Dann herrscht für kurze Zeit Ruhe, bis wieder neue Landwehrmänner einberufen werden.

„Landwehr hat Ruh'”, aber wirkliche Ruhe hat sie erst, wenn der Herbst da ist, bis dahin heißt es überall, an allen Orten: Einberufen.


Fußnote:

(1) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „Und warum nicht” (zurück)

(2) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „Premier-Lieutenant” (zurück)

(3) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „Premier” (zurück)

(4) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „Premier” (zurück)


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© Karlheinz Everts