Ein Ehrenwort.

Erzählung aus dem Offiziersleben von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Nachrichten”, belletristisch-literarische Beilage, vom 29.4. und 6.5.1900 und
in: „Ein Ehrenwort”.


Das Diner, das einige Herren, die sich auf dem Rennplatz getroffen und verabredet hatten, in einem chambre separée des großen vornehmen Restaurants zusammen eingeniommen hatten, war vorüber, und bei dem Kaffee und der Zigarre beratschlagte man, wie man den Rest des Abends möglichst lustig und fidel verbringen könnte. Der eine schlug dieses, der andere jenes vor, aber als man sich endlich für den Besuch eines Lokals entschieden hatte, war es dafür noch zu früh.

„Wenn wir dort um elf Uhr ankommen,” meinte Baron von Embden, ein sehr vornehmer reicher junger Kavalier, „so ist es immer noch Zeit, jetzt ist es aber kaum neun Uhr. Wie wäre es, wenn wir uns die Zwischenzeit durch ein kleines Jeu vertrieben? Selbstverständlich steht die Beteiligung jedem frei.”

Der Vorschlag fand allseitigen Beifall, nur zwei Herren, junge Offiziere eines Garde­regiments, die nebeneinander saßen, tauschten einen schnellen Blick.

„Was meinst du, old fellow,” flüsterte der jüngere, Leutnant von Arsbach, seinem um einige Jahre älteren Kameraden von Scheller zu, „wollen wir lieber nach Haus gehen?”

Aber Scheller winkte ab: „Nein, laß uns nur bleiben, wenn wir auch selbst nicht spielen, so liegt doch ein gewisser Reiz darin, zuzusehen.”

Arsbach sah den Freund etwas verwundert an, dann sagte er:

„Ich weiß nicht, worin der Reiz und das Vergnügen bestehen soll, zuzusehen, wie die Menschen sich gegenseitig ihr Geld abnehmen, aber trotzdem soll es mir recht sein, wenn wir bleiben. Gehen wir jetzt, so ist es mehr als fraglich, ob wir die anderen heute Abend wiedertreffen.”

Unterdessen hatte der herbeigerufene Kellner abgeräumt und den Spieltisch zurechtgemacht.

Baron von Embden, der stets große Barmittel bei sich trug. erklärte sich bereit, die Bank zu halten, und die anderen Herren drängten sich an den Spieltisch, nur die beiden jungen Offiziere blieben in ihren bequemen Fauteuils sitzen und plauderten miteinander weiter.

Man konnte sich kein besseres Freundschafts-Verhältnis denken, als dasjenige, das die beiden Kameraden miteinander verband, die sich gegenseitig nie anders als bob und old fellow nannten. Schon im Korps hatten sie sich kennen gelernt und dort Freundschaft miteinander geschlossen, obgleich Scheller Selektaner, Arsbach „nur Primaner” war. Für gewöhnlich blickt der Selektaner mit einer gewissen Geringschätzung auf alle herab, die unter ihm stehen, aber Scheller und Arsbach waren und blieben im Korps Freunde. Beide waren traurig und weinten bittere Thränen, als Scheller ein Jahr vor dem Kameraden das Korps verließ, um in die Armee einzutreten — um so größer war daher die Freude, als sie sich später bei demselben Regiment wiederfanden. Die älteren Kameraden freuten sich über den innigen Verkehr der beiden, die nur für einander zu leben schienen, aber deshalb doch nicht den Verkehr mit den andern mieden. Man sah sie, zumal sie auch zusammen bei derselben Kompanie standen, nie allein, und geschah dies doch einmal, so konnte man sicher sein, daß der eine auf den andern wartete.

Im Regiment erfreuten sich beide großer Beliebtheit, aber dennoch gab es viele, denen Arsbach der sympathischere war. Schon sein Äußeres nahm für ihn ein; er war mittelgroß, schlank gewachsen, von tadelloser Haltung und untadelhaften Manieren. Sein Auftreten war trotz seiner jungen Jahre ruhig und sicher, dabei aber doch bescheiden. Man wußte, daß er seit dem Tode seiner Eltern aus einer Familienstiftung nur eine sehr geringe Zulage bezog und daß er sich sehr, sehr einschränken mußte, um bei dem teuren und vornehmen Regiment standesgemäß leben zu können — niemals aber hörte man aus seinem Munde eine Klage, nie schalt er, wenn ein offizielles Liebesmahl, das plötzlich angesetzt wurde, alle Berechnungen, die er aufgestellt hatte, um mit seinem Geld auszukommen, über den Haufen warf. Er war immer lustig und guter Dinge, er war glücklich, einem bevorzugten Stande anzugehören und brachte dafür jedes Opfer. Er war Offizier mit Leib und Seele und konnte sich bei seiner Jugend gar nicht denken, daß Menschen auch in einer anderen Stellung glücklich und zufrieden sein könnten.

Im Gegensatz zu ihm war sein Freund Scheller eigentlich nicht gerne Offizier. Wider seinen Willen hatte er auf Befehl seines strengen Vaters das Kadettenkorps aufsuchen müssen und der stramme Dienst, die große Abhängigkeit, die vielen Entbehrungen, die auch er durchmachen mußte, waren nicht ganz nach seinem Geschmack. Er fand keine rechte Befriedigung in seinem Dienst. Was ihn seinen Stand dennoch lieben ließ, war außer der schönen Kameradschaft in erster Linie der bunte Rock, den er trug, das Kleid, das er anhatte, das ihm viele Vorteile verschaffte und ihn nach außen hin geachtet und angesehen dastehen ließ.

Dazu kam, daß Scheller auch äußerlich nicht sehr zum Offizier geeignet war; er hatte keine besonders schöne Figur und seine Haltung ließ zuweilen zu wünschen übrig. Da blieben denn Tadel und Ermahnungen, ja selbst auch Strafen nicht aus und wenn er dann ganz verzweifelt war und an seinem Geschick verzagen wollte, dann war Arsbach der Freund, der ihn tröstete und so lange auf ihn einsprach, bis seine Sorgen vergingen und bis die Falten auf seiner Stirn sich glättete. Man wußte im Regiment ganz genau, wie Scheller über das „Leutnantsleben” dachte, dennoch aber war auch er als Kamerad beliebt, zumal er sich in keiner Weise etwas zu Schulden kommen ließ und seinen Dienst mit größter Gewissen­haftigkeit tat. Blieb der Erfolg, den die Vorgesetzten als Frucht und als Resultat seiner Bemühungen sehen wollten, dennoch aus, so lag das mehr an seiner Befähigung und seiner geringen militärischen Veranlagung als an seinem Fleiß.

Dienstlich konnte man ihm keinen Vorwurf machen, aber viele Kameraden glaubten, daß sein außerdienstliches Leben, trotzdem man ihn immer mit Arsbach zusammensah, nicht ganz frei von Schuld und Fehler sei. Genaues wußte niemand zu sagen, aber man glaubte, das seine finanziellen Verhältnisse nicht die besten seien, und daß er seine schlechte Lage selbst verschuldet habe.

Man hatte Arsbach danach gefragt, der aber hatte der Wahrheit gemäß behauptet, von diesen Dingen nicht das Geringste zu wissen und hatte alle Gerüchte als Verläumdungen [sic! D.Hrsgb.] bezeichnet, zumal Scheller ihm auf seine Frage zur Antwort gab, daß er sich in durchaus geregelten Verhältnissen befände. —

Während die beiden jungen Offiziere miteinander plauderten, nahm das Spiel seinen Fortgang. Alle Augenblicke erklang das „faites votre jeu, messieurs,” dem dann nach kurzer Zeit das „rien ne va plus” folgte. Eine Sekunde herrschte dann fast Totenstille, eine Sekunde, bis der Bankier die Karte abgezogen hatte, die für den einen Verlust, den anderen Gewinn bedeutet. Dann gingen die Wogen der Unterhaltung laut: der Verlierer schielt auf seine eigene Dummheit, während der Gewinner seine Freude schlecht verhehlen konnte. Alle sprachen in- und durcheinander, bis von neuem die Stimme des Bankhalters ertönte: „Faites votre jeu — rien ne va plus.”

Schon eine geraume Zeit hatte Leutnant von Scheller nur mit halbem Ohr auf die Unterhaltung des Kameraden geachtet, ohne daß dieser es bemerkt hätte; mit seinen Augen war er, soweit er dies von seinem Platze aus vermochte, dem Gang des Spiels gefolgt, und in seinen Mienen sah man den Kampf eines Menschen, in dem das Gute mit dem Bösen ringt, der da lange schwankt und zögert, ob er das tun soll, was seine Leidenschaft fordert, der da kämpft und doch ganz genau weiß, daß er unterliegen wird.

Scheller erhob sich von seinem Platz: „Verzeih' einen Augenblick,” bat er, „ich möchte mir nur bei dem Kellner eine Zigarre bestellen.”

Der Kamerad griff in die Tasche und holte sein Etui hervor, das er dem Freunde anbot. der aber lehnte dankend ab: „Sei nicht böse, ich möchte etwas besseres rauchen, ich werde mir einige Importen kommen lassen.”

Er ging fort und auch Arsbach erhob sich von seinem Platze. Für einen Augenblick trat er an das Fenster, zog das Store zurück und blickte hinab auf das Leben und Treiben der Großstadt, dann trat er an den Spieltisch, um sich die Zeit zu vertreiben.

Da hörte er, wie einer der Herren seinen Kameraden, der sich ebenfalls dem Spieltische genähert hatte, mit den Worten begrüßte: „Na, Scheller, kommen Sie endlich? Lange genug hat's heute gedauert, bis der holde Leichtsinn siegte! Sie kommen gerade zur rechten Zeit, dem Bankier geht es schlecht, er verliert eine Taille nach der anderen, setzen Sie schnell.”

Ein halbverlegenes, halbärgerliches Lächeln umspielte den Mund des jungen Offiziers, dann sagte er, halb scherzend, halb ernsthaft: „Ich möchte wohl, aber es geht nur nicht. Sie wissen, auf der Rennbahn hat mich der heiße Favorite, der nicht erster, sondern letzter wurde, hineingerissen. Sie kennen ja das schöne Lied: „Mein bares Geld ging alles drauf, im Land zu Niniveh.”

„Wenn es weiter nichts ist,” sagte lachend der andere, „so erinnere ich Sie an das Zitat aus Schillers Räubern: „Dem Mann kann geholfen werden.” Er griff in die Tasche und holte ein Packet Banknoten hervor: „Hier bitte, bedienen Sie sich, wieviel wollen Sie haben, tausend, zweitausend, bitte bestimmen Sie.” —

Einen Augenblick zögerte Scheller noch, er fühlte den Blick des Freundes auf sich ruhen, der da zu sagen schien: „Ich verstehe Dich nicht, ich glaubte Dich zu kennen, irrte ich mich, erkenn' ich Dich wirklich erst heute abend?” Er wandte den Kopf zur Seite, um den vorwurfsvollen Augen des Kameraden zu entgehen, da sah er, wie der Bankier, zu dessen Ungunsten die Karte von neuem geschlagen hatte, an die Spieler auszahlte.

Noch eine kurze Zeit, dann hieß es wieder: „Faites votre jeu, messieurs.”

„Nun, wie ist's?” fragte Schellers Nachbar, „darf ich Ihnen aushelfen? Setzen Sie auf die Sieben, die muiß jetzt schlagen — ich will hundert Mark darauf riskieren.”

Das letzte Zögern des Offiziers war überwunden, der Spielteufel hatte ihn ergriffen und dankend nahmer das Geld, das man ihm bot. Statt hundert Mark setzte er die doppelte Summe auf die Sieben und die Karte schlug zu seinen Gunsten — sechshundert Mark zahlte ihm der Bankier als Gewinn aus.

„Lassen Sie das Geld stehen,” riet ihm sein Nachbar, „wenn die Sieben erst einmal geschlagen hat, kommt sie meist gleich noch einmal, es ist riskant, aber ich an Ihrer Stelle würde es wagen.”

Scheller tat's und wieder schlug die Karte für ihn, fast zweitausend Mark wurden ihm ausgezahlt, und dankend gab er das Geld, das er sich geborgt hatte, zurück.

„Sehen Sie wohl,” sagte sein Nachbar, „wie gut ich tat, Sie zum Spiel zu verleiten. Nun aber flott darauf los, Sie haben heute abend Glück, nutzen Sie es aus.”

„Willst Du mir einen Gefallen tun?” erklang da eine Stimme, und als Scheller sich verwundert umsah, stand der Freund ihm gegenüber.

„Selbstverständlich,” gab er zur Antwort, „willst Du Geld haben? Hier — nimm so viel Du willst! Versuch Dein Glück, zu lernen brauchst Du das Spiel nicht erst, die ganze Kunst besteht darin, Dein Geld auf die richtige Karte zu setzen, und welche die richtige Karte ist, entscheidet ganz allein der Zufall. Eine Minute — ich muß eben setzen.”

Aber Arsbach hielt die Hand des Freundes, in der sich Goldstücke und Banknoten befanden, zurück. „Tu mir den Gefallen, old fellow, und spiele nicht! Überlaß das den anderen Herren, die über größere Mittel als wir verfügen, Du kennst die Karten doch gar nicht, es kann ja nicht gut werden. Denke daran, was soll werden, wenn Du verlierst? Nun, daran, daß das Spiel uns Offizieren verboten ist, brauche ich Dich wohl nicht erst zu erinnern.”

Rien ne va plus,” erklang es da, und unwillig machte Scheller sich frei, und als gleich darauf wieder die Sieben schlug, sagte er zornig: „Das kommt davon — Du bist daran schuld, daß ich nicht gesetzt habe, hätt' ich es getan, so hätte ich jetzt wieder gewonnen! Laß mich, ich brauche Geld, ich kann Dir das jetzt nicht so sagen, nachher erzähle ich Dir alles, nun aber laß mich. Wenn ich genug gewonnen habe, höre ich zur rechten Zeit auf, ich verspreche es Dir, mein Wort darauf.”

„Du mußt wissen, was Du tust,” gab Arsbach zur Antwort, „ich habe Dich gewarnt und warne Dich noch einmal.”

Aber Scheller hörte nicht mehr, er hatte sich wieder dem Spiel zugewandt und hatte nur noch für dieses Interesse.

Arsbach trat zurück, um dem andern Herrn Platz zu machen, vor allen Dingen aber, um mit sich und seinen Gedanken allein zu sein. Was er soeben gesehen und aus dem Munde des Freundes vernommen, stimmte ihn sehr traurig. So war es also doch wahr, wie einige Kameraden behaupteten, daß Scheller sich in schlechten finanziellen Verhältnissen befand. Er selbst hatte eingestanden, daß er Geld brauchte, und dies suchte er sich nun am Spieltisch zu verdienen! Wie war so etwas nur möglich! Fast schämte er sich dieses Kameraden, und er begriff dessen Tun und Handeln nicht. Er zermarterte sich den Kopf, wofür der Kamerad Geld nötig haben könnte. Nie hatte dieser ihm davon erzählt, ja, ihm gegenüber sogar geleugnet, irgend welche Sorgen zu haben, nun kam ihm die Erkenntnis, daß Scheller, sein bester Freund, ihm die Wahrheit verschwiegen, ihn belogen habe. Abscheu und Ekel erfüllten ihn, er selbst war ein so offener, ehrlicher, wahrer Charakter, daß ihm jede Lüge fremd war. Aber größer noch als die anderen Gefühle, die sich in ihm regten, war die Trauer, sich in dem Freund geirrt zu haben und das Mitleid, das er für den Kameraden empfand. Wie groß mußten dessen Sorgen sein, wenn er nicht einmal den Mut gehabt hatte, sich seinem Intimus anzuvertrauen!

„Wenn er nur jetzt nicht spielte! Wenn es bekannt wird, kann es ihm den Kragen kosten,” dachte Arsbach, „das Spiel darf nun einmal nicht sein. Ich mache mich zum Mitschuldigen, wenn ich nicht alles tue, was in meinen Kräften steht, um ihn zurückzuhalten,” und noch einmal versuchte er, den Freund zu überreden, vom Jeu abzulassen.

Aber auch dieser Versuch scheiterte.

„Gut, so gehe ich nach Hause,” entgegnete Arsbach. Aber als er schon in der Garderobe war, änderte er seinen Entschluß wieder. Eine innere Stimme rief ihm zu: „Geh' nicht fort, bleibe hier, vielleicht braucht dein Kamerad dich heute noch.” So zog er den Paletot dann wieder aus und kehrte in das Zimmer zurück. Er wollte von dem Spiel nichts mehr sehen und blätterte und las in einigen Zeitungen und Journalen, die in einer Ecke auf einem kleinen Tisch lagen.

Wohl anderthalb Stunden vergingen noch, bis die Herren sich endlich vom Spieltisch erhoben und sich anschickten, den schon besprochenen und verabredeten Lokal-Wechsel vorzunehmen.

„Nun, wie ist es Dir gegangen?” wollte Arsbach fragen, als der Kamerad auf ihn zutrat, aber er unterdrückte die Frage, als er den Freund ansah; der glich eher einem Toten, denn einem Lebenden. Sein Antlitz war aschfahl, die Augen waren beinahe starr und die Wangen schienen eingefallen zu sein.

Aus einer Kognakflasche goß Scheller sich einige kleine Gläser voll, die er kurz hintereinander austrank: „Verfluchtes Jeu,” schalt er, „na, es gleicht sich im Leben alles wieder aus, bald gewinnt der eine, bald der andere, das war immer so und wird auch immer so bleiben.”

„Hast Du viel verloren?” fragte Arsbach ängstlich. Statt der Antwort pfiff der Freund vor sich hin, dann sagte er ausweichend und mit dem Versuch zu scherzen:

„Na, danke, es geht so. Bei bescheidenen Ansprüchen genügt es vollkommen, aber das läßt sich alles erneuern, darüber wollen wir uns noch keine grauen Haare wachsen lassen. Komm, laß uns mit den anderen gehe.”

„Möchtest Du nicht lieber nach Hause?” fragte Arsbach. „Ich muß offen und ehrlich gestehen, daß mir durch Deine Mitteilungen die Lust zu einem Bummel vollständig zerstört ist, auch Du kannst unmöglich guter Laune sein. Wollen wir nicht lieber nach Hause fahren und dort in Ruhe alles besprechen? Von Deiner Freundschaft muß ich verlangen, daß Du mir einen klaren Einblick in Deine Verhältnisse gibst, kann ich Dir auch nicht helfen, so kann ich Dir vielleicht raten, vor allen Dingen muß ich die Wahrheit wissen.”

„Nur jetzt keine Moralpredigt,” bat Scheller, „mir brummt der Kopf so wie so genug! Der Embden, dieser reiche Mensch, hat ein Glück, da ist nichts zu wollen. Was er am Anfang verlor, hat er hinterher mit Zins und Zinseszins wieder gewonnen, es ist immer die alte Geschichte: die reichen Leute gewinnen und die armen Teufel verlieren. Aber nun komm, ich glaube, die anderen Herren sind schon vorausgegangen.”

Durch einen Kommissionär hatte man sich schon vorher die Billets zu einer Loge besorgen lassen und dort nahmen die Herren Platz. Aber die Vorgänge auf der Bühne langweilten sie und eine rechte, lustige Stimmung wollte nicht aufkommen, bis endlich einer der Herren den Vorschlag machte, fortzugehen und eins jener Lokale aufzusuchen, in denen man an keinen bestimmten Platz gebunden ist, sondern in denen man sich nach Belieben bald hier, bald dort hinsetzen oder herumgehen kann.

Der Vorschlag fand allseitigen Beifall und in mehreren Droschken fuhr man davon.

Arsbach saß im Wagen neben einem Herrn von Tenskirch, demselben, der Scheller das erste Geld zum Jeu geliehen hatte: „Ich mnache mir heute Abend wirklich Vorwürfe,” sagte er, „und ich habe das Bedürfnis, mich Ihnen gegenüber zu verteidigen, denn ich weiß, daß Sie der beste Freund Ihres Kameraden sind. Ich habe ihm zuerst geraten, wie er spielen soll, ich brachte ihm Glück und als die Karte nicht mehr zu seinen Gunsten schlug, habe ich ihm wieder geraten, aufzuhören. Aber er achtete nicht darauf und war taub gegen meine Bitten und gegen die Vorstellungen, die wir ihm alle machten. So leichtsinnig wie heute hat er noch nie gejeut, das Glück, das er im Anfang hatte, muß ihm die ruhige Besonnenheit genommen haben, nur so ist es möglich, daß er blindlings darauf lossetzte und schließlich sechstausend Mark auf Ehrenwort verlor.”

„Sechstausend Mark.” Arsbach drohte das Herz still zu stehen, als er dies hörte. Wie wollte der Freund, der nur eine geringe Zulage hatte, dies bezahlen, woher wollte er das Geld nehmen? Sechstausend Mark, das war eine Summe, die Arsbach noch nie besessen hatte und wahrscheinlich auch nie besitzen würde. Auch der Freund besaß sie nicht, würde sie auch kaum auftreiben können. Trotzdem wollte er, um des Rockes willen, den er trug, nicht, daß in die Zahlungsfähigkeit seines Kameraden auch der leiseste Zweifel gesetzt würde und so sagte er denn: „Wenn Scheller auch nicht gerade reich ist, so ist er doch wohlhabend genug, um seine Spielschuld ganz zu bezahlen, es ist ja ganz selbstverständlich, daß er sein Ehrenwort einlöst.”

„Sie haben mich falsch verstanden,” erwiderte Herr von Tenskirch. „Daß Ihr Herr Kamerad bezahlt, ist selbstverständlich, wie wir ja auch natürlich mit Freuden bereit sind, ihm Kredit zu gewähren, solange er es wünscht. Meine Worte sollen keinen Zweifel in die Zahlungsfähigkeit Ihres Freundes ausdrücken, sondern nur mein Bedauern darüber, daß Ihr Kamerad so leichtsinnig spielte und so viel verlor.”

Nach kurzer Fahrt, während der die Gedanken wild auf Arsbach einstürmten, hielt der Wagen vor dem Theater, in dem eine Zigeunerkapelle ihre lustigen Weisen ertönen ließ. Eine große Menschenmenge wogte in dem Saal auf und ab und trotzdem die Freunde sich Mühe gaben, zusammen zu bleiben, wurden sie doch jeden Augenblick getrennt. Endlich gelang es ihnen, einen leeren Tisch aufzutreiben. Eilfertige Kellner, die von den vornehmen Herren ein reiches Trinkgeld erhofften, brachten Stühle herbei, und beeilten sich, den bestellten Champagner zu holen.

Es war viel nach Mitternacht, als man endlich zum Aufbruch rüstete, um nach Haus zu gehen; namentlich Scheller sehnte sich, wie er sagte, nach seinem Bett, da er schon nach wenigen Stunden wieder Dienst hatte.

Man rief den Kellner herbei, um zu bezahlen, jeder griff nach seinem Portemonnaie, um seinen Teil an der Zeche zu begleichen, aber Baron von Embden wehrte ab: „Lassen Sie nur sein, meine Herren, und machen Sie mir die Freude, diese Kleinigkeit hier regeln zu dürfen. Ich habe vorhin gewonnen, da ist es nicht mehr als recht und billig, daß ich jetzt der leidende Teil bin.”

„Wie Sie wollen,” rief man von allen Seiten, nur Leutnant von Scheller widersprach. „Das können wir nicht annehmen, Herr Baron, wenn Sie jetzt bezahlen, sieht das wie Revanche aus und die sind Sie uns in anderer Weise schuldig. Sie dürfen unter keinen Umständen bezahlen, ich dulde es nicht, ich möchte vielmehr den Vorschlag machen, daß wir zusammen den Herrn Baron einladen.”

„Gut, auch damit sind wir einverstanden,” stimmten die anderen Herren ihm bei, und auch der Baron von Embden sagte schließlich:

„Na, wenn es denn absolut sein muß, sträube ich mich nicht länger,” und zu Herrn von Scheller gewandt, setzte er hinzu: „Daß ich Ihnen natürlich jeder Zeit Revanche gebe, brauche ich wohl nicht zu betonen. Das versteht sich ja von selbst.”

Man wandte sich dem Ausgang zu, aber fast schon in der Tür, die auf die Straße führte, blieb Herr von Embden plötzlich wie vom Schlage gerührt stehen.

„Was haben Sie denn, Baron, kommen Sie,” rief Herr von Tenskirch, „sonst finden wir keine Droschke mehr und müssen noch eine Viertelstunde zu Fuß laufen. Was fehlt Ihnen denn nur?”

„Ich möchte es nicht zu laut sagen,” erwiderte der Baron, „darf ich die Herren bitten, einen Augenblick mit mir zu kommen? Vielleicht treten wir hier einen Moment in das Kaffeezimmer, für ein Trinkgeld wird man uns schon hineinlassen.”

Neugierig drängten die Herren herbei und folgten dem Baron.

„Aber so sprechen Sie doch,” bat Herr von Tenskirch, „was gibt es denn?”

„Meine Herren,” sagte der Baron von Embden, während eine fahle Blässe seine Züge bedeckte, mit etwas zitternder, aber doch energischer Stimme: „Meine Herren, ich habe Ihnen mitzuteilen, daß mir aus meinem Paletot meine Brieftasche mit mehr als zehntausend Mark verschwunden ist. Ein Verlust ist ausgeschlossen, ich hatte den Paletot auf demselben Stuhl liegen, auf dem auch Ihre Garderobe lag. Die innere Brusttasche, in der sich mein Portefeuille befand, war zugeknöpft, ein Loch ist in dem Futter nicht vorhanden. Ich betone es nochmals: ein Verlust ist ausgeschlossen, es gibt nur eins, das Geld ist mir gestohlen.”

Eine unbeschreibliche Aufregung folgte diesen Worten: „Aber Herr Baron,” rief man, „Sie müssen sich irren! Wer sollte Ihnen das Geld wohl genommen haben? Mit Ausnahme der Kellner ist kein Mensch an unserem Tisch gewesen und woher sollen die es wissen, was wir Alle vorhin gesehen haben, daß Sie Ihr Geld in die innere Brusttasche Ihres Paletots steckten? Es ist ganz ausgeschlossen, daß jemand Ihnen das Geld genommen hat, wer sollte das wohl gewesen sein?”

„Niemand anders als einer von Ihnen, meine Herren,” gab der Baron mit fester Stimme zur Antwort, „es kann kein Anderer gewesen sein und deshalb bitte ich Sie um freundliche Rückgabe — sollte es ein Scherz gewesen sein, so war es ein sehr schlechter.”

Totenstille folgte diesen Worten, schweigend sahen die Herren sich gegenseitig an, die Beschuldigung war eine so unerhörte, daß alle vergebens nach Worten suchten, um ihrer Entrüstung Ausdruck zu geben. Wie kam der Baron, den alle als vollendeten Gentleman kannten, dazu, eine so schwere Anklage zu erheben. Er kannte die Herren, die um ihn herumstanden, Monate und Jahre, wie war es nur möglich, daß er einen seiner Freunde eines Diebstahls für fähig hielt?

Noch immer sahen sich die Herren starr an und plötzlich mit einem Mal, wie auf ein gegebenes leises Zeichen, richteten alle ihre Blicke auf Herrn von Scheller, der stand da, bleich und zitternd, mit seinen Zähnen an den Lippen nagend, und sich mit der Rechten auf einen Tisch stützend.

Keiner sprach ein Wort, aber mit einem Mal wußten sie es Alle: „Wenn es wirklich einer getan hat, so kann nur Scheller es gewesen sein.”

Es herrschte eine unheimliche Stille, niemand wagte sich zu rühren, der Schrecken lähmte Alle. Leutnant von Scheller war ein Dieb, er hatte gestohlen, um mit fremdem Geld seine Spielschulden bezahlen zu können!

Da trat Arsbach auf den Freund zu, auch er war totenblaß, aber seine Stimme klang ruhig und bestimmt, als er jetzt ohne weiteren Uebergang sagte: „Scheller, ich bitte Dich, treib den Scherz nicht zu weit, gib das Geld nur wieder heraus.”

Für einen Augenblick zögerte der Kamerad noch, aber er mochte einsehen, daß ein Leugnen für ihn erfolglos sein würde — schweigend griff er in die Tasche und holte das Portefeuille heraus: „Es war nur ein Scherz,” sagte er mit bebender Stimme, während eine brennende Röte seine Wangen färbte.

Niemand antwortete, schwiegend nahm der Baron sein Geld wieder in Empfang, dann sagte er: „Meine Herren, wir sind Ehrenmänner — ich bitte Sie alle, mir Ihr Wort zu geben, daß niemals eine Silbe von dem, was wir soeben erlebten, über unsere Lippen kommen soll. Sollte einer der Herren sein Wort nicht halten, so würde ich mich gezwungen sehen, öffentlich zu erklären, daß mir niemals auch nur die geringste Summe abhanden gekommen ist.”

„Ich danke Ihnen, Herr Baron,” wollte Leutnant von Scheller sagen, aber er konnte nicht sprechen, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er brachte nur unartikulierte Töne hervor. Niemand achtete auf ihn, niemand grüßte ihn, als die Herren auseinander gingen.

Nur einer blieb bei ihm: Arsbach.

„Komme, es wird auch für uns Zeit,” sagte er, als sie allein waren.

„Komm, Scheller.”

Es war das erste Mal, daß er seinen Kameraden nicht mit seinem Beinamen „old fellow” anredete, die Worte wollten ihm nicht über die Lippen.

Er trat auf die Straße und winkte einen Wagen herbei, Scheller nahm neben ihm Platz und der Wagen rollte von dannen.

An ihnen vorüber flutete das Nachtleben der Großstadt, wie oft hatten sie sonst, wenn sie zu später Stunde nach Hause kamen, ihre Bemerkungen darüber ausgetauscht. Heute saßen sie schweigend nebeneinander, jeder hielt den Blick geradeaus gerichtet, keiner wagte den andern anzusehen.

Zuweilen durchzuckte Arsbach das Gefühl, als sei der Platz an seiner Seite leer, obgleich er den Kameraden neben sich wußte, es kam ihm vor, als sei sein Begleiter mit einem Mal losgelöst von der Welt, in der er bisher gelebt hatte, von der Gemeinschaft, in der er sich bis zu dieser Stunde befunden hatte, als sei er kein Lebender, sondern ein Gestorbener, der neben ihm saß.

Es war eine lange Fahrt, endlich, endlich hielt der Wagen vor der gemeinsamen Wohnung der beiden Freunde.

Arsbach griff in die Tasche und drückte auf gut Glück dem Kutscher en Geldstück in die Hand und wehrte ab, als dieser herausgeben wollte.

Erfreut steckte der Rosselenker das hohe Trinkgeld ein:

„Na, dann dank' ich auch vielmals, Herr Baron, angenehme Nachtruhe.”

Arsbach zuckte zusammen, ihm klangen die Worte fast wie Hohn, was würden die nächsten Stunden bringen?

Schweigend schritten die Kameraden zusammen die Treppen in die Höhe und befanden sich bald darauf in Scheller's Wohnzimmer, in dem Arsbach die Lampe entzündete. Jeder von ihnen hatte seine beiden Zimmer für sich.

Während Arsbach an das Fenster trat, um die Rouleaux herunterzulassen, sank Scheller auf das Sofa nieder und starrte stumm vor sich hin und das, worüber er nachsann und grübelte, traf Arsbach, als er jetzt fragte: „Was nun?”

Es war das erste Wort, das Arsbach an den Freund richtete und fast mechanisch wiederholte er noch einmal seine Frage: „Was nun?” Der Kamerad fuhr zusammen und tonlos gab er zur Antwort: „Nun ist es aus.”

Arsbach biß die Zähne aufeinander, um nicht laut aufzuschreien, ein grenzenloser Schmerz erfüllte ihn, es war sein liebster, sein einziger Freund, der so zu ihm sprach.

„Wie konntest Du das aber auch nur tun?” fragte er nach einer langen Pause mit zitternder Stimme, „wie konntest Du Dich nur so weit vergessen?”

Der Kamerad schwieg eine ganze Weile, dann sagte er mit trauriger Stimme: „Ja, bob, wie konnte ich nur? Das frage ich mich jetzt auch und finde keine Antwort. Die Versuchung war zu groß, ich hatte nicht die Kraft zu widerstehen, ich hab' früher nicht geglaubt, wenn ich las, daß ein Spieler, um sich zu retten, zu jedem Mittel greift, nun hab ich's an mir selbst erfahren. Ich wußte, wo Embden sein Geld hatte, ich nahm es, als ich meinen Paletot auf den seinen legte, niemand hatte es bemerkt; um eine Entdeckung zu vermeiden, verhinderte ich ihn auch, den Wein zu bezahlen — doch das ist ja alles Nebensache. Ich brauchte Geld, viel Geld, denn, bob, ich will es Dir heute abend nur gestehen, ich spiele seit langer Zeit. Oft, wenn ich Dir gegenüber ein Rendezvous oder eine Verabredung vorschützte, habe ich im Klub oder sonst irgendwo gespielt, zuweilen mit Glück, meist mit Unglück. Mit kleinen Summen fing es an, mit großen hörte ich auf. Ich mußte mir Geld borgen, ich sitze beim Gurgler drinnen, daß ich mich nicht rühren kann. Als das Spiel heute Abend begann, als das Glück mir zuerst günstiger war, glaubte ich, soviel gewinnen zu können wie ich brauchte, um alle Verpflichtungen einzulösen. Das Ende weißt Du vielleicht, sechstausend Mark, zahlbar auf Ehrenwort innerhalb acht Tagen. Woher soll ich das Geld nehmen? Während des Spiels hofft man immer, daß man doch noch einmal wieder gewinnt, in der Erregung, die unsere Nerven, unser ganzes Sinnen und Denken ergriffen hat, täuscht man sich selbst über die Lage, in der man sich befindet; man ist davon überzeugt, daß es ein Leichtes sein wird, sich zu arrangieren. Die Ernüchterung, das Erkennen des wahren Sachverhaltes, die Einsicht, daß unsere Träume, alles werde schon wieder gut werden, nur Schäume sind, die Reue kommt zu spät. Auch bei mir. Nun ist es aus.”

Scheller schwieg und starrte von neuem grübelnd und nachdenkend vor sich hin.

Ohne ihn mit einem Wort zu unterbrechen, hatte Arsbach ihm zugehört; je länger der Kamerad sprach, desto trauriger wurde er, er sah, er hatte sich vollständig in dem Freund getäuscht und dennoch hatte er Mitleid mit ihm.

Eine Stunde verrann nach der anderen, schweigend saßen sie sich gegenüber, keiner von ihnen sprach; den einen drückte das schuldbeladene Gewissen, den anderen die Furcht, durch ein unbeabsichtigtes Wort vielleicht das Unvermeidliche zu berühren.

Sie achteten nicht auf die Stunde, sie sahen nicht, wie das Öl der Lampe verbrannte, wie das Licht dunkler wurde und sich endlich mit dem Schein des anbrechenden Morgens vermischte.

Arsbach sah nach der Uhr — es war schon sechs. Er erhob sich von seinem Stuhl, um sich in seine Zimmer zu begeben: „Die Burschen werden gleich kommen, um uns zu wecken,” sagte er mit bebender Stimme, „ich glaube, es wird Zeit, daß ich gehe.”

Auch Scheller erhob sich, langsam, zögernd und schwer richtete er sich in die Höhe.

„Du hast recht,” murmelte er, „ich glaube auch, es wird Zeit.” Ohne den Freund anzusehen, den Blick zu Boden gesenkt, ging er an dem Kameraden vorüber nach seinem Schlafzimmer, aber schon in der Tür machte er noch einmal Halt und fragte mit leiser, kaum verständlicher Stimme: „Nicht wahr, Bob, auch Du hältst Dein Wort? Du schweigst gegen jedermann! Das versprichst Du mir?”

„Mein Wort darauf,” gab der zur Antwort.

„Ich danke Dir, Bob.”

Die Tür schloß sich hinter ihm.

Arsbach lehnte sich gegen die Wand, um sich zu stützen, er hielt sich die Ohren zu, um nichts zu hören von dem, was nebenan vorging; er lauschte in tödlicher Angst und mit atemloser Spannung. Er wollte davoneilen, sich hinüberflüchten in seine Wohnung, aber der Schrecken lähmte ihn, nahm seine Kräfte gefangen und machte ihn unfähig, sich zu rühren, sich zu bewegen.

Wie eine Ewigkeit deuchten ihm die wenigen Sekunden — der Angstschweiß trat auf seine Stirn und das Blut raste durch seine Schläfen.

Da ertönte aus dem Nebenzimmer ein Schuß und weinend kniete Arsbach gleich darauf neben der Leiche seines einstigen Freundes, der nach der Tat, die er begangen, nur die Wahl gehabt zwischen einem ehrenlosen Leben und einem ehrenvollen, seine Schuld sühnenden Tode.

*       *      *

Es war einige Stunden später. In den Räumen des Kasinos hatte der Oberst und Regiments­kommandeur seine Offiziere um sich versammelt, um ihnen den Tod ihres Kameraden mitzuteilen.

„Meine Herren,” sagte der Oberst zum Schluß, „gleich Ihnen stehe auch ich vor einem Rätsel, das ich nicht zu lösen und nicht zu deuten vermag. Wir alle wissen nicht, was den Kameraden in den Tod getrieben hat, nur einer von uns weiß es, Herr Leutnant von Arsbach, und der ist zum Schweigen verpflichtet. Nicht wahr, so sagten Sie mir doch?”

„Zu Befehl, Herr Oberst,” erwiderte Arsbach. „Die letzten Worte, die Scheller zu mir sprach, waren: ,Du schweigst gegen jedermann! Das versprichst Du mir?' Ich habe es ihm auch versprochen.”

Der Oberst schwieg einen Augenblick, dann sagte er: „Es wissen noch andere außer Ihnen, was Leutnant von Scheller zu diesem unglücklichen Schritt veranlaßt hat?”

„Allerdings, Herr Oberst,” gab Arsbach zur Antwort. „Aber die Mitwisser des Geheimnisses sind Kavaliere, Herren, an deren Ehre kein Makel haftet. Wir haben uns gegenseitig geschworen, zu schweigen, es wird nicht das Geringste in die Öffentlichkeit dringen.”

Wieder schwieg der Kommandeur eine kleine Weile, dann fragte er: „Gehe ich fehl in der Annahme, daß es sich um eine Spielaffäre handelt?”

„Ich bedaure, die Antwort schuldig bleiben zu müssen,” erwiderte Arsbach bestimmt, „mein Wort bindet mich, Herr Oberst.”

„So will ich auch nicht weiter in Sie dringen,” versetzte der Kommandeur. „Ich ehre Ihr Schweigen, und die Tatsache, daß Sie das dem Verstorbenen gegebene Versprechen halten. Eine zweite Frage ist die, ob Sie dies Versprechen geben durften; Sie wissen, daß Sie als Offizier verpflichtet sind, dem Ehrenrat auf seine Fragen hin Auskunft zu erteilen. Über den Toten können und wollen wir nicht mehr zu Gericht sitzen, er hat seine Schuld gesühnt, soweit es in seinen Kräften stand. Aber es wäre immerhin möglich, daß der Ehrenrat sich dennoch mit der traurigen Angelegenheit befassen müßte: es können Gerüchte auftreten, die eine öffentliche Widerlegung seitens des Offizierkorps erfordern, es können Gläubiger auftreten und Forderungen geltend machen, die vielleicht bezahlt werden müssen, um das Ansehen und die Ehre des Offizierkorps zu retten, denn, meine Herren, den Schritt vom Wege, den einer von uns macht, büßen wir Alle. Lassen wir uns den Tod eines Kameraden von neuem zur Warnung dienen, nichts zu tun, was auch nur den Schein der Unehrenhaftigkeit erwecken kann; denken wir alle Zeit daran, daß das höchste und heiligste Gut, das wir besitzen, unsere Ehre ist, die rein und fleckenlos zu erhalten, wir uns jeden Tag von neuem bemühen müssen.”

Die Versammlung ging auseinander, aber in dem Frühstückszimmer vereinigten sich die meisten Herren doch wieder, um über den Tod des Kameraden zu sprechen. Man erging sich in Vermutungen und stellte Behauptungen auf, denen niemand beizustimmen, aber auch niemand zu widersprechen vermochte. Auch das Benehmen von Arsbach, der gleich nach Beendigung der Offiziers­versammlung nach Haus gegangen war, wurde kritisiert und die Ansichten über sein Verhalten gingen weit auseinander; ebenso wie ihn die einen lobten, tadelten ihn die anderen. Daß er das dem Freunde gegebene Versprechen zu schweigen hielt, fand man selbstverständlich, aber auch die Kameraden erörterten, ob er das Versprechen hätte geben dürfen, ob die Rücksicht auf das Offizierkorps, dem er angehörte, auf die Gesamtheit, nicht wichtiger sei als die Schonung des Freundes, der durch das, was er getan, doch für seine Mitmenschen verloren war. Eine Tat, die eine so schwere Sühne forderte, machte ein Weiterleben für ihn zur Unmöglichkeit.

Aber dennoch — niemand wußte, wer die Frage zuerst aufgeworfen hatte, aber mit einem Mal wurde sie besprochen: Hätte Scheller denn wirklich sterben müssen, hätte es für ihn durchaus keinen anderen Ausweg gegeben?

Auch darauf konnte nur Arsbach Auskunft geben und der schwieg. Er hatte zugegeben, bei dem Tod des Freundes zugegen gewesen zu sein — hatte er alles getan, was in seinen Kräften stand, um den Kameraden von der schrecklichen Tat zurückzuhalten?

„Gewiß,” sagten die einen, „Arsbach liebte den Verstorbenen fast wie einen Bruder, wie hätte er da auch das letzte Mittel, seinen old fellow, wie er ihn nannte, zu retten, unversucht gelassen?”

„Selbstverständlich,” pflichteten die anderen bei, „er handelte nach bester Überzeugung, daran darf, daran kann niemand zweifeln. Aber Arsbach ist noch jung. Vielleicht hat er dem Vergehen des Verstorbenen gegenüber die klare Überlegung, die ruhige Besonnenheit verloren, er sah vielleicht zu schwarz, ein anderer, ein älterer hätte vielleicht doch noch einen anderen Ausweg gefunden, hätte vielleicht doch noch Rat und Hilfe gewußt.”

„Wie könnt Ihr nur so etwas behaupten?” meinten Arsbach's Freunde, „überlegt Euch, was Ihr sagt und beschuldigt niemanden, der durch sein Ehrenwort gebunden ist und sich nicht verteidigen darf und kann.”

„Von einer Beschuldigung kann gar nicht die Rede sein,” entgegneten die anderen.

„Doch,” riefen die ersteren, „wenn Ihr sagt, daß Arsbach nicht alles tat, was in seinen Kräften stand, um Scheller's Tod zu verhindern, so behauptet Ihr damit indirekt, daß er durch einen schlechten oder falschen Rat den Freund vielleicht bewogen hat, die Waffe gegen sich selbst zu richten.”

„Dagegen protestieren wir auf das Energischste,” erwiderten die anderen, „daran denkt neimand von uns.”

Der Eintritt des Regimentskommandeurs, der einen seiner Offiziere zu sprechen wünschte, machte dem Gespräch ein Ende und wenig später erhoben sich auch die anderen Herren, um entweder in den Dienst oder nach Hause zu gehen.

Arsbach ahnte nichts von dem Gespräch, das er heraufbeschworen hatte, er saß neben der Leiche des Freundes, die um jedes Aufsehen zu vermeiden, erst am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, in das Lazarett überführt werden sollte, und hielt die Totenwache. Selbst die Worte des Kommandeurs hatten ihm nicht die Überzeugung verschafft, daß er vielleicht unüberlegt sein Wort gegeben hatte und von neuem gelobte er dem Toten, zu schweigen.

Im Wohnzimmer nebenan waltete der Ehrenrat seiner traurigen Pflicht: er nahm über den Unfall ein Protokoll auf und suchte in dem Nachlaß des Verstorbenen nach irgend einem Anhalt, der das Dunkel des Rätsels hätte lösen können. Aber es fand sich nicht das geringste.

Drei Tage später bestattete man den Toten. Auf eine telegraphische Anfrage hin hatte das General-Kommando seine Erlaubnis erteilt, daß der Selbstmörder mit militärischen Ehren begraben werden durfte, da man annahm, daß der Verstorbene seine Tat nicht bei klarem Bewußtsein, sondern unter dem seine Gedanken verwirrenden Einfluß seiner Schuld begangen habe.

Arsbach kommandierte die Trauerparade, sein Wunsch, dem Freunde die letzte Ehre erweisen zu dürfen, war erfüllt worden. Unter dem dumpfen Klang der Trommeln, unter den Klängen eines Trauermarsches marschierte er mit seinem Zuge dem Leichenwagen voran. Auf dem Kirchhofe angekommen, nahm er mit seinen Leuten seitwärts Aufstellung, um später die Salven abgeben zu können.

Der Prediger sprach ergreifend, fast kein Auge blieb tränenleer und als nun der Segen des Herrn erfolgte, mußte Arsbach gewaltsam seine Erregung niederkämpfen, um die Kommandos abzugeben.

Dem Soldaten ziemt keine lange Trauer — mit lustiger, fröhlicher Musik marschierte die Mannschaft unter der Führung ihres Offiziers zur Kaserne zurück, und Arsbach beeilte sich mit dem Umkleiden, um noch rechtzeitig zu Tisch in das Kasino zu kommen. Als er erschien, fand er die Kameraden noch im Lesezimmer versammelt, wo sie sich aufzuhalten pflegten, bis die Ordonnanz meldete, daß serviert sei. Die Tür war geschlossen, aber er hörte das laute Sprechen und folgte dem Klang der Stimmen. Einmal war ihm, während er durch das Entreezimmer schritt, als habe er seinen Namen nennen hören.

Mit der Sekunde, in der Arsbach mit einem lauten „Guten Abend meine Herren” in das Zimmer trat, hörte jede Konversation auf und es herrschte eine fast unheimliche Stille. Man erwiderte seinen Gruß durch eine stumme Verbeugung und stellte sich dann in einzelnen Gruppen zusammen, um leise mit einander zu flüstern.

Verwundert sah Arsbach sich um, er begriff dieses seltsame und fast beleidigende Benehmen der Kameraden nicht und er wollte gerade höflich, aber dennoch energisch um Aufklärung bitten, als die Flügeltüren, die nach dem Eßsaal führten, geöffnet wurden.

Es kam Arsbach so vor, als drängten sich die Kameraden förmlich an ihm vorbei, als versuchten sie, aus seiner Nähe zu kommen und damit einer Aussprache zu entgehen, und als er sich nun anschickte, ihnen in das Speisezimmer zu folgen, hörte er seinen Namen rufen.

Er wandte sich um. Vor ihm stand der Major von Hellgott, der als Junggeselle an den Mahlzeiten der Leutnants teilzunehmen pflegte.

„Ich darf Sie einen Augenblick sprechen,” bat er, „wollen Sie mich in das Billardzimmer begleiten. Dort sind wir ganz ungestört.”

Er ging voran, verwundert folgte Arsbach und immer fragte er sich: „Was haben die Kameraden denn nur? Was ist geschehen?”

„Lassen Sie mich ganz offen zu Ihnen sprechen,” begann der Major, „und fassen Sie meine Worte nicht dienstlich auf, sondern nehmen Sie sie hin als den Rat eines älteren Kameraden, wenn ich Sie bitte, heute Mittag nicht mit im Kasino zu essen. Es herrscht eine gewisse Mißstimmung und Gereiztheit gegen Sie, die heute leicht zu einem neuen Konflikt führen könnte, den ich, als Ältester hier, unter allen Umständen vermeiden will und muß. Es herrscht unter den Kameraden, wenn auch nicht gerade bei allen, so doch bei vielen der Glaube, daß Sie, lieber Arsbach, sich bei dem Tode unseres Schellers vielleicht doch nicht ganz so benommen haben, wie es vielleicht ein Älterer getan haben würde, man meint, daß Sie dem Verstorbenen weder Zeit noch Gelegenheit hätten lassen dürfen, die Waffe zu ergreifen; man glaubt, daß sich die unglückliche Tat, die natürlich, ganz abgesehen von der Trauer, das ganze Offizierkorps berührt, vielleicht doch hätte vermeiden lassen. Ich betone das Wort „vielleicht”, denn niemand kann und wird Ihnen einen direkten Vorwurf machen, da die Veranlassung der Tat in Dunkel gehüllt ist. Vor einigen Tagen ist dieses Thema in Ihrer Abwesenheit schon erörtert worden, heute ist es durch die Leichenfeier und durch die Worte des Predigers von neuem aufgerührt worden. Lassen Sie den Herren ein paar Tage Zeit, sie werden dann ruhiger und vielleicht auch anders denken und urteilen. Zeigen Sie sich in den nächsten Tagen nicht mehr, als unbedingt nötig ist, das ist der Rat, den ich Ihnen gebe.”

Mit freundlichem Händedruck verabschiedete sich der Major und Arsbach blieb in einer völlig verzweifelten Stimmung zurück; er faßte sich mit den Händen an die Stirn, er wußte nicht, ob er wache oder träume, ob er den Stabsoffizier richtig verstanden habe. Es war ja gar nicht faßlich, es war ja undenkbar, daß man ihm, wenn auch nur indirekt, den Vorwurf machte, nicht völlig korrekt gehandelt zu haben, daß man ihm die Schuld gab an dem Tode seines Freundes. Er rief sich noch einmal alle Einzelheiten des unglückseligen Abends ins Gedächtnis zurück. Zu wiederholten Malen hatte er versucht, den Kameraden vom Spiel abzuhalten. Er hatte ihn gebeten, nicht zu jeuen, und ihn an das für Offiziere bestehende Verbot erinnert. Als dann das Schreckliche geschehen, als Scheller zum Dieb geworden war, hatte er versprochen, dies nie zu verraten, dann hatte er den Freund nach Haus begleitet, und dieser hatte den Entschluß, zu sterben, allein gefaßt. Nicht mit einer Silbe hatte er gesagt: „Du mußt es tun, Dir bleibt kein anderer Ausweg.” Hätte er den Kameraden zurückhalten sollen? Offizier konnte der Freund nicht bleiben, das war völlig ausgeschlossen und hätte Scheller nicht aus eigener Initiative den Abschied eingereicht, so hätte er, Arsbach, ihn dazu zwingen müssen. Und was dann? Wem war damit geholfen? Die Schuld wurde damit nicht getilgt, er war und blieb ein Dieb, seine Ehre war befleckt für alle Zeiten, sich zu rehabilitieren war unmöglich. Ungeschehen konnte er die Tat nicht machen. Der Ehrenkodex verlangte seinen Tod. Als die Herren sich das Wort gaben, zu schweigen, setzten sie es als selbstverständlich voraus, daß Scheller sterben müßte, wären sie hiervon nicht überzeugt gewesen, hätten sie keine Verschwiegenheit gelobt. Der Lebende konnte keine Schonung und Rücksicht verlangen, wohl aber der Tote. Das alles wußte Scheller ganz genau, deshalb starb er.

Arsbach begriff es immer noch nicht, beschuldigte man ihn wirklich oder wollte man ihn nur veranlassen, sich zu verteidigen und damit das Geheimnis preizugeben? Nie und nimmer durfte er das dem Toten gegebene Wort brechen, tat er es, so war der Freund umsonst gestorben, dann war die Schuld, die er mit in das Grab zu nehmen glaubte, der öffentlichen Beurteilung ausgesetzt und noch nach seinem Tode würde man ihn verurteilen und verdonnern.

Nie durfte das geschehen. Arsbach mußte das Versprechen, das er gegeben hatte, halten, aber er mußte sich nun auch befreien von dem Vorwurf, der auf ihm lastete.

Hierzu gab es nur ein Mittel, das dem Offizier die allerhöchsten Bestimmungen über die Ehrengerichte für den Fall vorschreibt, daß man ihm den Vorwurf macht, Schaden an seiner Ehre gelitten zu haben; er mußte die ehrengerichtliche Untersuchung gegen sich selbst beantragen.

Und kaum war er zu diesem allein richtigen Entschluß gekommen, als er die Tat folgen ließ. Er begab sich zu seinem Kommandeur und hatte das Glück, diesen zu Hause anzutreffen.

Aufmerksam lauschte der Oberst den Worten des jungen Offiziers und ging, nachdem dieser geendet, ein paar Mal in seinem Zimmer auf und ab, gleichsam, als sänne er über die Antwort nach. Dann sagte er endlich, auf seiner Wanderung inne haltend: „Erinnern Sie sich des Vorwurfes, den ich Ihnen vor einigen Tagen machte, daß Sie Ihr Ehrenwort zu schweigen, unüberlegt gegeben hätten? Ich führte einige Fälle an, in denen Sie in die Lage kommen könnten, dem Ehrenrat Auskunft geben zu müssen und in denen Ihnen dann die Zunge gebunden sei. Ich will offen und ehrlich sein, als ich damals so sprach, dachte ich an den Fall, der Sie heute zu mir führt, denn ich glaube zu wissen, daß der Vorwurf, den die Kameraden jetzt erheben, Ihnen nicht erspart bleiben würde. Schneller, als ich dachte, hat sich meine Befürchtung erfüllt. Was nun? Sie beantragen gegen sich selbst ehrengerichtliche Untersuchung und sind dann überzeugt, daß der Ehrenrat und später das Ehrengericht Ihr Benehmen und Ihr Verhalten in jeder Weise korrekt finden werden. Wie denken Sie sich das aber? Ihre Aussagen, die Sie durch irgendwelche Beweismittel zu bekräftigen hätten, müßten und würden Sie, woran ich selbst nicht eine Sekunde zweifle, entlasten, aber Sie dürfen ja nichts aussagen. Sie sind durch Ihr Wort gebunden, über den unglücklichen Abend zu schweigen, wie soll der Ehrenrat Ihnen da helfen? Urteilen und ein Urteil fällen kann nur der, der den Sachverhalt kennt, in diesem Falle Sie ganz allein. Spricht Ihr eigenes Gewissen Sie von jeder Schuld frei, brauchen Sie sich selbst keine Vorwürfe zu machen, so müssen Sie sich damit begnügen. Eine öffentliche, ehrengerichtliche Erklärung, daß auch wir anderen Ihr Verhalten billigen, kann ich Ihnen aus den aufgeführten Gründen nicht verschaffen.”

Arsbach war völlig niedergeschmettert, er mußte dem Kommandeur mit dem, was dieser sagte, Recht geben und er sah die einzige und letzte Hoffnung, sich zu rechtfertigen, schwinden. Ein Zittern und Beben durchlief seinen jugendlichen Körper, nur schwer hielt er die Tränen zurück und schwer nur kamen die Worte heraus, als er jetzt fragte: „Und können der Herr Oberst mir nicht einen Rat geben, was ich tun kann, was ich tun muß, um auch nur den leisesten Verdacht von mir abzuwälzen?”

Den Kommandeur erfaßte aufrichtiges Mitleid mit dem jungen Offizier, der, für seine Ehre kämpfend, ihm völlig verzagt und mutlos gegenüberstand.

„Ich sagte es schon,” erwiderte er nach einer kleinen Pause, „ich wußte, daß Sie kommen würden, und ich habe es mir hin und her überlegt, was ich Ihnen raten, wie ich Ihnen helfen soll. Die Sache ist sehr ernst; ich weiß nur einen Ausweg. Ich werde zu morgen eine Offiziers­versammlung berufen und in dieser werden Sie erklären, daß die Vorwürfe, die man Ihnen macht, ungerechtfertigt sind und ferner werden Sie erklären, daß nach Ihrer gewissenhaften Überzeugung, die Sie mit der Waffe in der Hand zu vertreten jeder Zeit bereit wären, jeder an Ihrer Stelle ebenso gehandelt hätte, weil er nicht anders hätte handeln können, wenn er Anspruch darauf machte, ein Ehrenmann zu sein. Sie sehen, ich stelle mich ganz auf Ihre Seite, denn ich achte und schätze Sie als Mensch wie als Offizier gleich hoch. Nun aber kommt die schwere Frage. Wie wird das Offizierkorps Ihre Rechtfertigung aufnehmen? Offiziell wird man, davon bin ich überzeugt, Ihnen glauben, schon um einem Duell aus dem Wege zu gehen, das ja unvermeidlich wäre, wenn jemand den leisesten Zweifel in Ihre Worte setzen sollte. Sie müßten den Betrffenden fordern. Was aber dann, wenn dieser sagt: ,Ich erkenne meinen Gegner nicht als satisfaktionsfähig an, so lange er sich nicht durch tatsächliche Beweise von dem Vorwurf, der auf ihm lastet, befreit hat.' Was dann? Dann sind wir wieder genau so weit, wie wir heute sind. Es ist eine heillose Geschichte, die Sie sich da, in dem besten Glauben richtig zu handeln, eingebrockt haben und darum weiß ich nur eins: Lassen Sie sich in ein anderes Regiment versetzen, ich kann und werde Ihnen eine glänzende Conduite schreiben und mich persönlich bei Ihrem neuen Kommandeur für Sie verwenden. Ich werde die Herren meines Regiments zu tiefstem Stillschwiegen verpflichten, niemand in der neuen Garnison wird erfahren, warum Sie versetzt sind, dafür stehe ich ein. Glauben Sie mir, folgen Sie meinem Rat, den ich Ihnen nur schweren Herzens gebe, denn ich verliere Sie sehr, sehr ungern. Tun Sie, was ich Ihnen sage, es ist das beste.”

Aber Arsbach schüttelte nur den Kopf, dann sagte er fest und bestimmt. „Nein, Herr Oberst, das tue ich nicht. Wenn man mir hier nicht glaubt, wenn man mich nicht für würdig hält, fernerhin meinem alten Regiment anzugehören, dann will ich auch zu keinem anderen Truppenteil gehen. Offen und frei will ich jedem ins Auge sehen können, vor den neuen Kameraden will ich kein Geheimnis haben, dessen, was ich tue, brauche ich mich nicht zu schämen, ich habe nichts zu verheimlichen. Kann ich nicht hier bleiben, so bitte ich , mich zum Abschied eingeben zu wollen, dann will ich überhaupt nicht länger Offizier bleiben. Was später aus mir werden soll, weiß ich noch nicht, weiß ich doch jetzt kaum, ob ich es überlebe, daß ich den Rock, den ich mit Ehren zu tragen mich redlich bemühte, ausziehe — ausziehen muß, weil man mir nicht glaubt, weil man an meinem Wort, an meiner Ehre zu zweifeln wagt!”

„Aber Arsbach, wie können Sie nur so sprechen,” versuchte der Kommandeur den völlig Fassungslosen zu trösten. Aber Arsbach war nicht zu beruhigen, und er hatte sich auch noch nicht gefaßt, als er sich nach einer Stunde von dem Kommandeur verabschiedete, um zu Haus in aller Ruhe zu überlegen, was er zu tun habe.

[Anmerkung des Herausgebers:]
Der nun folgende abschließende Absatz unterscheidet sich in der Fassung der „Hamburger Nachrichten” ganz wesentlich von der Buchfassung.

[„Hamburger Nachrichten”:]
Am nächsten Morgen durcheilte die Schreckenskunde das Officiercorps, das Arsbach sich getödtet habe. Auf dem Tisch, der neben seinem Bett stand, fand man einen Zettel, der die Worte trug: „Ich würde, wenn ich weiter lebte, das dem Freunde gegebene Versprechen brechen, um mich zu rechtfertigen. Ich sterbe, um das Wort, das ich gab, zu halten und einzulösen.”

[Buchfassung:]
Am nächsten Morgen reichte Arsbach seinen Abschied ein, und niemand war imstande, seinen Entschluß rückgängig zu machen. Er begründete sein Gesuch mit den Worten: „Ich würde, wenn ich länger Offizier bliebe, eines Tages das dem Freunde gegebene Versprechen brechen müssen, um mich zu rechtfertigen. Ich gehe, um das Wort, das ich gab, zu halten und einzulösen.”


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