Der Ehrentrunk.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Die Fürstengondel”


Seine Durchlaucht der regierende Fürst war über Nacht ganz plötzlich erkrankt. Ganz plötzlich. Gestern abend hatte er sich noch das von seinem Leibkoch lecker zubereitete Mahl ausgezeichnet schmecken lassen und ganz besonders eine Gänseleber­pastete mit einer Auszeichnung behandelt, um die mancher Untertan sie hätte beneiden können. Kurz und gut: gestern abend war Seine Durchlaucht noch ein gesunder und fröhlicher Mensch, der, da er sehr reich war, für kein Geld mit einem anderen getauscht hätte, aber nun, am frühen Morgen, ging es Seiner Durchlaucht miserabel — so miserabel, wie es nach seiner gewissenhaftesten Überzeugung noch niemals einem seiner Untertanen gegangen war.

Und dabei war er doch der regierende Fürst, dem es schon deshalb viel besser gehen mußte, damit seine getreuen und ungetreuen Untertanen sich ein Beispiel an ihm nähmen und es sich auch gut gehen ließen — natürlich nicht so gut wie ihm selbst, denn er war der Fürst, aber doch immerhin so gut, wie es die von einer weisen Natur zwischen einem Herrscher und seinen Landeskindern errichtete Schranke erlaubte.

Seine Durchlaucht war erkrankt, ihm mußte irgend etwas in die Glieder, oder besser gesagt, in den Magen hineingefahren sein, denn er hatte die ganze Nacht schlummerlos zugebracht und war beständig zwischen seinen Privat­schlaf­gemächern und seinem Allerhöchsten privaten W.C.-Kabinet hin und her gewandelt. Manchmal hatte er sogar laufen müssen, um noch zur rechten Zeit zu kommen, und das Laufen und so manches andere hatte Seine Durchlaucht so geschwächt, daß er nun blaß und elend in den Kissen lag; vor ihm stand eine große Flasche mit Opiumtropfen, vor der Flasche mit Opiumtropfen stand der Kammerdiener mit einem großen Teller Haferschleimsuppe, und vor der Haferschleimsuppe stand der Leibarzt und schüttelte sein weises Haupt. Das tat er schon seit vielen Stunden, denn er war an das Bett des toten Patienten geholt worden, als es in dessen totem Magen zum erstenmal knurrte.

Der Kranke richtete sich in seinen Kissen etwas auf und sah seinen Geheimen Leibmedizinalrat von neuem fragend an. „Und Sie glauben wirklich nicht, mein lieber Geheimrat, daß jemals einer meiner Untertanen eine solche Magen­indisposition gehabt hat, wie ich sie jetzt habe?”

Der Geheimrat widersprach auf das energischste: „Das ist völlig ausgeschlossen, Durchlaucht, absolut ausgeschlossen. Eine derartige Magen­verstimmung kommt nur in den allerhöchsten Kreisen vor, nur bei regierenden Fürsten.”

Durchlaucht lehnte sich wieder in seine Kissen zurück. Schön war es ja ganz gewiß nicht, daß es ihm so schlecht ging, aber es war doch wenigstens ein Trost, daß sein Leiden wesentlich anders geartet war, als der gewöhnliche Durchfall irgendeines Bauernlümmels.

Seine Durchlaucht dachte einen Augenblick nach, und zwar nur deshalb einen Augenblick, weil diese kurze Spanne Zeit für seinen scharfen Verstand genügte, um die schwierigsten Probleme zu lösen, dann sagte er: „Und sie halten es also wirklich für ganz ausgeschlossen, daß ich heut morgen selbst auf Reisen gehe, um der Feier des fünfhundert­jährigen Bestehens meiner zweiten Haupt- und Residenzstadt beizuwohnen? Und Sie sind nach wie vor der Ansicht, daß ich es meinem geliebten Volke und mir selbst schuldig bin, mich zu schonen und meinen Sohn Ferdinand mit meiner Vertretung zu beauftragen?”

„Gewiß, Hoheit,” stimmte der Leibarzt ihm bei. „Durchlaucht haben ja auch bereits geruht, im Laufe der Nacht das Nötige zu veranlassen, Seiner Hoheit dem Prinzen Ferdinand die Instruktionen zu schicken und an die Residenzstadt die erforderlichen Depeschen senden zu lassen. Euer Durchlaucht müssen jetzt nicht nur Ihren Körper, sondern auch Ihren Geist schonen, Durchlaucht dürfen jetzt überhaupt nicht denken, sondern ganz still liegen und zu schlafen versuchen. Natürlich wird es der Stadt ungemein leid tun, Euer Durchlaucht nicht selbst auf dem Fest begrüßen zu können, aber Seine Hoheit Prinz Ferdinand ist ja zugegen und das ist ja Beweis genug —”

Vielleicht hätte der Leibarzt noch weiter geredet, wenn Seine Durchlaucht nicht plötzlich in diesem Augenblick blitzschnell zwei nackte Beine in die Luft gesteckt und mit einem Sprung aus dem Bett gefahren wäre. Gleich darauf war er aus dem Zimmer verschwunden, und als er nach einer Viertelstunde zurückkam, fiel er völlig erschöpft in seine Kissen zurück. „Sie haben recht, Geheimrat, es geht nicht, Prinz Ferdinand muß für mich reisen.”

Prinz Ferdinand erhielt die Nachricht, daß er für seinen erkrankten Vater an den Festlichkeiten in der etwa drei Stunden entfernt liegenden Stadt teilnehmen sollte, als er gerade von einem Liebesmahl bei seinem Husarenregiment, dessen Uniform er trug und bei dem er auch hin und wieder einmal Dienst tat, wenn er sonst nichts vorhatte, zurückkam. Er befand sich in der fröhlichsten Stimmung, die Geister des Champagners trieben in seinem Kopf ihr Spiel und da in seinem von Wissenschaften nicht überfüllten Schädel viel Platz war, spukten sie dort ganz gewaltig. Er hörte die Nachricht, die man ihm brachte, an, ohne ein Wort davon zu verstehen, und als er darauf aufmerksam gemacht wurde, daß der Extrazug präzise neun Uhr abfahren müsse, stimmte er dem bei: „Selbstverständlich. Machen wir. Unsereins macht überhaupt alles, das soll erst mal einer unsereins nachmachen. Aber mich kriegen morgen früh keine zehn Pferde aus dem Bett heraus. Soviel weiß ich. Gute Nacht, Emma.”

Hoheit ging schlafen, oder besser gesagt, er wurde schlafen gelegt, aber als er dann die Augen wieder aufschlug, lag er nicht mehr in seinem Bett, sondern in voller Uniform auf der Chaiselongue eines Salonwagens und fuhr der Feststadt entgegen.

„Ach nee?”

Das war alles, was Hoheit im ersten Augenblick zu denken und zu sagen vermochte, dann rief er seinen Kammerdiener herbei und ließ sich von dem die Augen reiben. Und als der genug gerieben hatte, sah Hoheit sich ganz verwundert um: er hatte keine Ahnung, wie er in die Uniform und in das Coupé hineingekommen war und noch weniger wußte er, wohin die Reise ging und warum er überhaupt reiste.

Sein persönlicher Adjutant suchte ihm das klarzumachen und der setzte ihm auch das Festprogramm auseinander: Feierliche Begrüßung bei der Ankunft, Abschreiten der Ehrenkompagnie, Vorbeimarsch der Truppe unter feierlichem Läuten der Glocken, Fahrt nach dem Rathaus, dort Ansprache des Bürgermeisters, auf die der Prinz mit einer Rede auf und mit einem Hoch auf die Stadt antworten müsse, während er zugleich den ihm angebotenen Ehrentrunk huldvollst entgegennähme.

Hoheit hatte kaum hingehört, erst das Wort „Ehrentrunk” erweckte sein Interesse. „Wissen Sie, mein lieber Bonsdorf, Ehrentrunk ist gut, ganz besonders, wenn er gut ist — famoser Witz, was? Na, überhaupt unsereins, das soll ein anderer unsereins erst mal nachmachen. Aber was ich sagen wollte: Ehrentrunk — dabei fällt mir ein, ich habe einen mordsmäßigen Durst, das kommt von dem verdammten Kneipen gestern. Wenn ich 'nen Ozean hier hätte, ich tränke ihn leer, ohne einmal abzusetzen, wahrhaftig, so 'n Durst hab' ich. Bis zum Ehrentrunk ist ja aber noch lange hin, ich werde bis dahin ein Dutzend Flaschen Selterwasser zu mir nehmen — ist ein gräßliches Getränk, besonders diese kohlensaure Atmosphäre steigt mir jedesmal in meine Nase, aber es ist doch immerhin besser als gar nichts. Schließlich kann man ja auch mehr oder weniger Whisky hineingießen, und wenn alle Stricke reißen, kann man ja schließlich auch nur Whisky trinken, aber trinken muß ich was, ich kann Ihnen sagen, ich habe in meinem Mund ein Gefühl und einen Geschmack, einfach zum — na, Sie wissen ja schon; von so was soll man lieber nicht reden, sonst geht es gleich los.”

Der Adjutant sah es seinem Prinzen an, dem ging es wirklich drei Prozent unter jedem Schweinehund, dessen Lebensgeister mußten aufgefrischt werden, wenn er bei seiner Ankunft nicht einen mehr als kläglichen Eindruck machen sollte.

So wurde Hoheit denn unter Alkohol gesetzt, bis seine Lebensgeister wieder erwachten, und als der Extrazug endlich in der Stadt ankam, sah der Adjutant mit Schrecken, daß es Hoheit beinahe wieder zu gut ging! Er hatte sich ein ganz klein wenig die Nase begossen.

Aber trotz alledem benahm Hoheit sich so tadellos, daß kein Dritter etwas merkte, er hielt sogar auf dem Bahnhof eine sehr verständige Rede, in der er auseinandersetzte, wie leid es seinem hohen Vater täte, nicht selbst kommen zu können, wie er selbst ja wisse, daß er bei seiner Jugend nur ein ungenügender Stellvertreter sein könne, wie er aber dennoch hoffe, daß seine Anwesenheit doch dazu beitragen möge, die Festesstimmung ein klein wenig zu erhöhen.

Hoheit benahm sich wirklich sehr korrekt, sein bescheidenes und sympathisches Wesen gefiel allgemein, die Leute schrien Hurra, die Glocken läuteten, alte Weiber weinten vor Rührung, und die jungen Mädchen wünschten sich den Prinzen zum Mann. Alles war in schönster Ordnung — nur eins nicht. Der Prinz merkte, wie ihm unter dem Einfluß der heiß brennenden Sonne die Kehle wieder austrocknete, die Champagnergeister von gestern und die Whiskygläser von heut morgen wurden in ihm wieder lebendig, er mußte den Alkohol mit neuem Alkohol niederkämpfen, sonst gab es ein Unglück.

Aber woher sollte er jetzt etwas zu trinken bekommen?

Da fiel ihm der Ehrentrunk ein — der kam ja bald an die Reihe.

Und eine Viertelstunde später war man im Rathaus.

Die ganze Stadtvertretung war dort versammelt, und der Bürgermeister hielt dort eine Rede, die gar kein Ende nahm: er warf einen kurzen geschichtlichen Rückblick auf die Entwicklung der Stadt von ihrer Gründung bis zu dieser Stunde. Aber selbst wenn man sich kurz faßt, dauert es sehr lange, bis man über fünfhundert Jahre einen Rückblick geworfen hat.

Seine Hoheit hörte schon lange nicht mehr zu — sein ganzes Interesse wandte sich einem kleinen Tisch zu. Der war mit einem schönen alten Teppich bedeckt, und auf dem Teppich stand ein großer goldener Pokal und in dem Pokal war der Ehrentrunk.

Wenn er den doch erst hätte! Und was wohl in dem Pokal sein mochte? Champagner, Mosel oder ein schöner Rheinwein? Hoffentlich bei der Hitze kein Burgunder und kein alter Rotwein.

Hoheit richtete sich immer höher und höher auf, um von seinem Platz aus in den Pokal hineinsehen zu können, aber es gelang ihm nicht. Gar zu gern hätte er den Trunk jetzt schon gehabt, nicht allein, um seine Neugierde zu befriedigen, sondernweil ein rasender Durst ihn quälte, ein Durst, wie man ihn nur nach einer lustig verkneipten Nacht verspürt.

Und die Rede des Bürgermeisters war noch weit von dem Ende entfernt — zweihundert Jahre waren erst besprochen, dreihundert Jahre fehlten noch.

Dreihundert Jahre mußte er noch auf den Ehrentrunk warten.

Hoheit fühlte, das konnte er nicht, das ging über seine Kraft — ihm wurde mehr als elend, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, er hielt sich nur noch mit Mühe aufrecht, schwer stützte er sich mit der Hand auf die Stuhllehne — wenn nur wenigstens der Ehrentrunk da nicht vor ihm gestanden hätte, das machte ihn ganz krank, er war dem Umfallen nahe, aber mit eiserner Energie hielt er sich aufrecht, bis endlich, endlich der Augenblick kam, in dem der Bürgermeister ihm den Wein kredenzte und ihn ehrfurchtsvoll bat, den Trunk entgegenzunehmen.

Und Hoheit nahm ihn entgegen.

Er mußte sich beherrschen, um den Pokal nicht allzu gierig an seine Lippen zu setzen, er brachte es sogar noch fertig, mit lauter Stimme zu sagen: „Ich trinke auf das Wohl dieser schönen Stadt, sie möge wachsen, blühen und gedeihen, sich selbst und dem ganzen Lande zum Nutzen.”

Ein donnerndes Hurra folgte seinen Worten, aber er hörte es kaum, er trank.

Er trank mit dem Durst eines Menschen, der dem Verschmachten nahe ist, er trank, als wäre noch nie ein Tropfen über seine Lippen gekommen und als müsse er nun alles Versäumte nachholen.

Er trank von dem goldenen Rheinwein, der in dem Pokal wogte, er trank und trank, bis er plötzlich den Becher absetzte — er war leer, Hoheit aber war voll. Mit müden Augen sah er sich im Kreise um, und mit schwerer Stimme sagte er „Na, überhaupt unsereins. Das soll erst mal einer unsereins nachmachen, was?”

Wieder riefen alle Hurra und freuten sich über den Durst, den der junge Prinz entwickelt hatte, und da die Hoheit nicht wußte, weshalb man Hurra rief, rief er selbst mit lauter Stimme: „Hurra, Hurra, Hurra!”

Und als er dreimal Hurra gerufen hatte, setzte er sich auf einen Stuhl, und mit einem glücklichen Lächeln schlief er ein.

Als er endlich erwachte, lag er in seiner Wohnung in seinem Bette, und das erste, was er dachte und sagte, war: „Ach nee?” Dann ließ er sich von seinem Kammerdiener die Augen reiben, und als er erfahren hatte, wie er nach Hause gekommen war, sagte er voller Stolz: „Na, überhaupt unsereins. Das soll erst mal einer unsereins nachmachen, was?”

Das war wie immer auch jetzt seine gewissenhafteste Überzeugung, und er begriff es nicht, wie sein erlauchter Vater sich derartig über ihn ärgern konnte, daß der Ärger sich so auf seinen Magen schlug, daß er von neuem zur Opiumflasche greifen mußte.

Als er von der neuen Erkrankung seines hohen Vaters hörte, hatte er dafür nur die Worte: „Ach nee?”

Und auf diese Frage gibt es keine Antwort. Nirgends. Die Worte „Ach nee” sind unlösbar und unbegreiflich wie die großen Welträtsel, die selbst der Weiseste der Weisen nicht zu erforschen und zu durchdringen vermag.


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