Die Compagniebrille.

Skizze von Frhrn v. Schlicht
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 26.Okt. 1902,
in: „Der Lügenmajor”,
in: „Der schwerfällige Major”,
in: „Aus Heer und Marine” und
in: „Welthumor”.


Der Musketier Müller der dritten Compagnie war in Folge seiner selten schönen Handschrift als Schreiber zum General­commando commandirt worden. Das war eine große Ehre, eine hohe Auszeichnung nicht nur für den Musketier Müller, sondern für das Regiment im Allgemeinen und für die Compagnie im ganz Besonderen. Vor allen Dingen aber war es für die Compagnie eine große Freude, den Müller los zu werden, denn Müller war Das, was man „einen krummen Hund” nennt: Er war von untadelhafter Führung, nie bestraft, aber immer krumm, er ruinirte die Front, bei dem Parademarsch hatte er nie Tritt, und bei den Besichtigungen fiel er entweder auf oder er fiel um. Sein größter Fehler aber bestand darin, daß er ein Schlumpschütze mit Eichenlaub zum Halse heraus war — er schoß wie die gesengten Säue, und bei dem letzten Prüfungsschießen hatte er allen Ermahnungen und Bitten seiner Vorgesetzten zum Trotz mit fünf Schuß auch nicht einen einzigen Ring erzielt — er hatte so fürchterlich vorbeigeknallt, daß die Geschosse nach dem Ausspruch seines Feldwebels Lademann auch heute noch ziel- und planlos durch das Weltall fliegen in der stillen Hoffnung, vielleicht doch noch einmal der Scheibe zu begegnen, die sie hatten treffen sollen.

Der Hauptmann war froh und glücklich, den Müller loszuwerden — schon am übernächsten Tag sollte der seine Reise antreten, und so besprach der Häuptling denn jetzt das hierzu Erforderliche mit seinem Feldwebel. Lademann hörte aufmerksam zu, machte sich seine Notizen und sagte dann schließlich: „Bevor wir den Müller auf Commando schicken, muß er zuerst fertig geschossen haben, er ist noch sehr weit zurück, er hat noch fünf Bedingungen zu erfüllen.”

Der Hauptmann stöhnte laut auf, ihm thaten die schönen Patronen leid, die da wieder unnöthig verpulvert würden, aber es half nichts. Er ließ sich den Müller rufen und kündigte ihm an, daß er heute Nachmittag nicht nur schießen, sondern unter allen Umständen sich herausschießen müsse.

Müller nahm diese Schreckensnachrichten verhältnißmäßig gefaßt entgegen, und nicht ohne Grund: er war kurzsichtig, er schoß auf abgekürzten Entfernungen mit einer Brille, diese Brille aber war caput, und ohne Brille konnte er nicht schießen.

„Was fällt Ihnen ein, Ihre Brille caput zu machen — drei Tage Arrest,” schalt der Vorgesetzte, aber die Strafe konnte nicht aufrecht erhalten werden, denn Müller mußte reisen, und sein Hauptmann wollte ihn je eher, je lieber los sein.

„Feldwebel, was machen wir nur?” erkundigte sich der Vorgesetzte, „ehe wir bei dem Lazareth eine neue Brille beantragen, ehe diese ausgeliefert wird, und an die Compagnie gelangt, vergehen wenigstens vierzehn Tage.”

Doch der Fedlwebel wußte Rath: „Ich habe auf dem Bureau eine Brille liegen, die im vorigen Jahr ein Einjähriger dort vergessen hat — ich habe sie aufbewahrt, weil ich dachte, sie könnte der Compagnie noch einmal gute Dienste leisten — Müller kann ja mit der Brille schießen.”

Das leuchtete dem Hauptmann ein, so wurde denn für den Nachmittag der Dienst bestimmt. Um zwei Uhr sollte der erste Schuß fallen, und demgemäß marschirten um halb Eins die Scheibenarbeiter ab, um ein Uhr führte ein Unterofficier den Musketier Müller nach dem Scheibenstand heraus, und fünf Minuten vor Zwei erschien der Herr Feldwebel dort, der selbst die Aufsicht führte.

„Ich bitte mir aus, Müller, daß Sie heute etwas treffen,” ermahnte der Fedlwebel den Schützen, „ich verstehe in der Hinsicht keinen Spaß; also zielen Sie ordentlich und drücken Sie ruhig ab. So und nun setzen Sie sich die Brille auf.”

Müller that wie er sollte, dann aber wurde ihm schwarz vor den Augen.

„Herr Feldwebel, ich kann nichts sehen, es flimmert Alles, die Gläser sind mir viel zu scharf.”

„Reden Sie keinen Kohl und vor allen Dingen, Müller, reden Sie überhaupt nicht, wenn Sie nicht gefragt sind. Das sage ich Ihnen, und wenn Sie nicht an meine Worte denken, dann wird Ihres Bleibens bei dem General­commando nicht lange sein, denn Sie sind dort als Schreiber, nicht aber als Schwatzer commandirt. Und was die Brille anbelangt, die paßt, die hat noch allen Augen gepaßt. Glauben Sie etwa, daß Sie der Erste sind, dem ich die Compagniebrille auf die Nase setze? Es haben schon ganz andere Leute damit geschossen, und nun bitte los. Haben Sie die Güte, Herr Müller, und schießen Sie.”

Herr Müller hatte die Güte und schoß.

„Nanu,” sagte der Feldwebel, „die Leute ziehen die Scheibe ja gar nicht herein, die faulen Brüder schlafen natürlich wieder, wir wollen ihnen jetzt ein Zeichen geben, daß ein Schuß gefallen ist, nachher werde ich ihnen grob.”

Das Zeichen mit der Flagge wurde gegeben, dann kam die Antwort: Der Schuß war gar nicht heruntergekommen, er war unterwegs in die Erde gegangen.

„Schießt der Mann mit der Compagniebrille wahrhaftig auf fünfzig Schritt in den Dreck,” schalt der Feldwebel. „Bekanntlich unterscheidet sich der Mensch von einem Thier dadurch, daß er sich bei Allem, was er thut, etwas denkt. Bitte, erzählen Sie mir mal unter dem Siegel der Verschwiegenheit, was Sie sich bei der Schießerei eigentlich gedacht haben.”

Es herrschte eine tiefe, erwartungsvolle Stille, aber Müller antwortete nicht.

„Sie scheinen mir nicht nur körperlich, sondern auch geistig defect zu sein,” fuhr der Feldwebel fort, „andererseits sehe ich es aber ein, daß Sie nicht sagen können, was Sie sich gedacht haben, wenn Sie es selbst nicht wissen. Schießen Sie weiter, um sieben Uhr fängt es an dunkel zu werden, wir haben nicht mehr ganz fünf Stunden Zeit, und so lange werden Sie wohl gebrauchen, bis Sie sich herausgeschossen haben. Sie sollen fünf Bedingungen erfüllen, ein guter Schütze braucht dazu fünfundzwanzig Patronen.” Er wandte sich an den Schießunterofficier: „Wieviel Patronen haben wir hier?”

„Zweihundert, Herr Feldwebel.”

„Na, Das wird hoffentlich langen. Müller, haben Sie überhaupt schon jemals darüber nachgedacht, daß jeder Schuß, den Sie vorbeisenden, den Steuerzahlern ungefähr fünfzehn Pfennige kostet? Da wird im Reichstag immer gejammert und geflucht, daß das Militär so viel Geld kostet! Wer ist denn Schuld? Sie ganz alleine, Müller, merken Sie sich Das und nun weiter!”

Der zweite Schuß wurde in die Welt geschickt, und das Geschoß schlug dicht neben dem rechten Scheibenstand in den Sand ein.

„Das war schon etwas besser,” lobte der Feldwebel, „stellen Sie sich zwei Schritte mehr nach links und halten Sie geradeaus. Wenn Sie dieses Mal mehr Glück als Verstand haben, treffen Sie etwas, dann müssen Sie sogar Etwas treffen.”

Aber diese Logik erwies sich als falsch — der Schuß ging wieder vorbei.

Und nach einer weiteren halben Stunde hatte Müller mit achtundzwanzig Schuß die Scheibe noch nicht beschädigt.

„So geht Das nicht,” schalt der Feldwebel, „Sie müssen übermorgen zum Generalcommando abreisen, und ich habe mich heute Abend um acht Uhr zum Scat verabredet, bis dahin müssen wir fertig sein. Gehen Sie so nahe an die Scheibe heran, bis Sie Etwas sehen können — ich will ein Auge zudrücken und garnicht wissen, wie nahe Sie an das Scheunenthor heranlaufen.”

Müller setzte sich in Bewegung und machte endlich Halt.

„Ich glaube, wenn Sie den Arm ausstrecken, können Sie die Patrone mit der Hand in die Scheibe hineinstecken,” meinte der Feldwebel, „Das ist ja aber leider nicht erlaubt. Versuchen Sie also, das Geschoß mittels des Gewehres in die Scheibe zu befördern.”

Und der Versuch gelang glänzend — vorbei. Die Geschosse schlugen rechts und links, oben, unten, vor der Scheibe in den Sand.

Der Feldwebel wurde wüthend, seine Geduld ging zum Teufel.

„Wissen Sie, was Sie sind, Müller? Ein ganz infamer Lümmel, der es nicht werth ist, daß ein Mensch seinetwegen das Pulver und ein Gewehr erfunden hat. Ein Kümmeltürke sind Sie, verstanden?”

Und ingrimmig nahm er dem Türken den Helm vom Kopf und stülpte ihm das Ding dann wieder derartig auf den Schädel, daß Herrn Müller die Augen übergingen und daß ihm die Brille von der Nase fiel. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, bekam er noch einen kleinen Rippenstoß — er flog etwas nach vorn und trat die Compagniebrille in tausend Scherben.

„So ist's recht,” schalt der Feldwebel, „nicht nur daß der Mensch keine Ahnung vom Schießen hat, nun ruinirt der Lümmel auch noch königliche Utensilien, denn die Compagniebrille ist königliches Eigenthum und daß sie nicht K. U. gestempelt ist, liegt daran, daß das Glas den Stempel ebenso wenig aushält wie einen Tritt Ihrer Riesenfüße. Drei Tage wären Ihnen sicher, wenn das General­commando Sie nicht erwartete, und auf die hohe Behörde müssen wir ja leider Rücksicht nehmen. Wie sie jetzt ohne die Brille überhaupt schießen wollen, ist mir ein Räthsel, aber Sie müssen nicht nur schießen, Sie müssen sich sogar herausschießen.”

Und Müller schoß sich heraus.

Als der Herr Hauptmann diese Wundermär hörte, fragte er den Feldwebel: „Wie hat der Müller Das nur angefangen?”

Die Mutter der Compagnie zuckte mit den Achseln: „Ich will den Müller natürlich nicht verdächtigen, Herr Hauptmann, aber wenn Einer auf fünfzig Meter mit der Brille nichts sehen kann und auf diese Entfernung plötzlich ohne Brille glänzend sieht, dann geht Das nicht mit rechten Dingen zu, und deshalb meine ich, ohne den Müller verdächtigen zu wollen, daß er ein Simulant war und sich nur kurzsichtig stellte, damit er aus der Front herauskäme.”

Der Hauptmann versank in tiefes Nachdenken und faßte dann Alles, was er auf dem Herzen hatte, zusammen in die Worte: „So'n Lümmel!”

Denn auf den Gedanken, daß ein Kurzsichtiger auf nahe Entfernungen ohne Glas besser sieht als mit einer Brille, die für Weitsichtige construirt ist, kam der Vorgesetzte garnicht — dank der Weisheit, die in ihm wohnte.


zurück zur

Schlicht-Seite