Der blinde Herr Major.

Eine Erinnerung aus dem amerikanischen Freiheitskrieg.
Von Graf Günther Rosenhagen.
in: „Deutscher Soldatenhort”, Band 4, 1893, S. 87-88.


Die kleine norddeutsche Stadt befand sich in großer Trauer. Hier, wo Einer den Anderen kannte, wo sich nichts ereignete, an dem nicht die ganze Bevölkerung innigsten Antheil nahm, erregte der Tod des überall beliebten Mannes, der nie anders genannt worden war als kurzweg „Herr Major”, allgemeine Theilnahme. Im kräftigsten Mannesalter war der frühere nordamerikanische Offizier gestorben.(*) Die ganze Bevölkerung folgte seinem Sarge. Mit militärischen Ehren wurde er zur letzten Ruhe bestattet. An seinem Grabe hielt der Pastor eine ergreifende Rede, betonte das viele Gute, das der Verblichene seinen Mitmenschen gethan und dankte doch Gott, daß er den armen blinden Mann nach unsagbaren Leiden zu sich genommen. Gar Manchem traten bei diesen Worten die Thränen in die Augen, Alle drängten sich heran an das Grab, ein Jeder wollte der Erste sein, die letzte Hand voll Erde auf den Sarg zu werfen, noch eine Blume oder einen Kranz ihm mit hineinzugeben auf sein letztes Lager. Dann traten die Leidtragenden den Rückweg an. Auf allen Gesichtern lag wirkliche Theilnahme, nicht wie sonst auf den Heimgängen vom Kirchhof wurde das Gespräch über gleichgültige, die Trauergedanken verscheuchende Dinge geführt; nur der Name des Verstorbenen, sein Leben, sein Unglück gingen leise von Mund zu Mund.

Und wer hatte ihn nicht im Städtchen gekannt, den blinden Herrn Major? Wenn die hohe, stattliche Gestalt am Arme seines alten, schwarzen Dieners durch die Straßen schritt, wenn er auf ein leises Wort seines Begleiters den Hut lüftete und freundlich grüßte, ahnte kein Fremder, daß der Herr blind war, höchstens hielt man ihn seiner blauen Brille wegen für kurzsichtig. Er wußte sein Leiden so geschickt zu verbergen, er ging so sicher und fest durch ihm bekannte Zimmer und Korridore, er aß so geschickt, und selbst das Geflügel zerlegte er so gewandt, daß auch ich, der ich ihn schon lange Jahre kannte, manchmal zweifelte, ob er wirklich seines Augenlichtes vollständig beraubt sei.

Der alte Herr führte ein sehr regelmäßiges Leben. Morgens um acht Uhr erhob er sich, kleidete sich allein an, trank seinen Kaffee und ließ sich von seinem Diener vorlesen. Mittags um zwölf Uhr ging er spazieren, um zwei Uhr aß er zu Mittag und jeden Abend um sechs Uhr erschien er an seinem Stammtisch. Wie oft habe ich da mit ihm zusammen gesessen, mich an seinem Anblick erfreut. Wie still lauschten wir Alle den Worten aus seinem Munde. Hat man doch stets vor einem Blinden Ehrfurcht und zu dem Mitgefühl, das ein solches Leiden dem Herzen einflößte, trat hier noch die Achtung vor seinem scharfen, durchdringenden Geist, seinen reichen Kenntnisse, die er sich durch das Studium wissenschaftlicher Werke angeeignet hatte, hinzu. An die heiteren, geselligen Stunden, die ich mit ihm zusammen verlebt, dachte ich, als ich mich von dem übrigen Gefolge trennte und allein in die Straße zu meinem Häuschen einbog. Auch an die Geschichte seines Lebens, die er uns einmal selbst, in einfachen Worten, ohne jede Bitterkeit über sein grausames Schicksal mitgetheilt hatte. Irgend ein neu hinzugekommener Stammgast fragte ihn eines Abends:

„Sagen Sie, bitte, einmal, Herr Major, wie haben Sie Ihr Augenlicht verloren? Bitte, erzählen Sie uns doch, wie es gekommen.” Noch sehe ich die hohe Gestalt bei dieser rücksichtslosen Frage schmerzlich zusammenzucken, noch sehe ich, wie er mit beiden Händen seine blaue Brille zurecht­rückte, fürchtend, daß dieselbe sich verschoben, seine Wunde sichtbar und dadurch die Frage veranlaßt sei.

So saß er eine ganze Weile in tiefes Nachdenken versunken, endlich unterbrach er das Schweigen, das auch wir Alle in peinlicher Empfindung beobachtet hatten, und sagte: „Nun gut, wenn es Sie wirklich interessirt, so will ich Ihnen mein Leben erzählen, und wenn es auch nur wäre, um weitere Fragen zu verhindern.

In der kleinen deutschen Universitätsstaft M. geboren, verlebte ich mit meinen fünf Geschwistern eine heitere, sorglose Jugend. Was es an Knabenstreichen giebt, habe ich mit meinen Brüdern durchgemacht. Wir waren der Schrecken der dortigen Philister, das Entsetzen aller alten Jungfern, denen wir mit Vorliebe einen Possen spielten. In lustiger, fröhlicher Gesellschaft, aber auch in strenger, gewissenhafter Arbeit gingen die Jahre dahin. Als ich siebzehn Jahre alt war, starb plötzlich mein Vater und hinterließ nur ein kleines, unbedeutendes Vermögen, dessen Zinsen nicht ausreichten, um uns einen Besuch der Universität, wie es mein sehnlichster Wunsch war, zu ermöglichen. Um meiner Mutter, die außer dem Verlust ihres Mannes auch noch große materielle Sorgen zu tragen hatte, die Last zu erleichtern, entschloß ich mich, wie schon so Viele vor mir, nach Amerika zu gehen und dort mein Glück zu versuchen. Ich war ja jung an Jahren, stark und kräftig, hatte eine gute Schulbildung genossen, so glaubte ich denn, daß es mir drüben nicht fehlen würde. Voller Hoffnungen und freudiger Erwartungen nahm ich Abschied von meinen Lieben und fuhr hinaus in die weite Welt.

In New-York angekommen, gab ich mich einige Tage dem Eindruck, den die Riesenstadt auf mich machte, voll und ganz hin. Welch' ein Unterschied war es für mich, aus der kleinen Stadt in Mitten Deutschlands in dieses großartige Leben und Treiben versetzt zu sein. Bald gelang es mir, in einem großen Geschäfte eine gute Stellung zu erhalten; ich verdiente viel, so viel, daß ich sogar manche Geldsendung nach der Heimath abschicken konnte. Wie schlug mir das Herz vor Freude, wie kam ich mir stolz und gewichtig vor, daß es mir vergönnt war, meine Mutter, die in ihrer grenzenlosen Liebe Alles für uns gegeben hatte, nun schon selbst unterstützen zu können! Ich arbeitete fleißig und mit Erfolg, mein Prinzipal war mit mir zufrieden und ich sah im Geiste schon mein Glück gemacht. Aber damit auch mein Körper frisch und gesund bleibe in der für mich ungewohnten kaufmännischen Thätigkeit, war ich schon in den ersten Tagen bei der New-Yorker Stadt-Miliz als Freiwilliger eingetreten. Es war mein größtes Vergnügen, Abends nach gethaner Arbeit dort zu üben, meine Glieder und meine Kräfte zu stählen. Viele heitere, glückliche Stunden habe ich dort verlebt und viele liebe Bekanntschaften angeknüpft.

So gingen zwei Jahre dahin in emsigem, rastlosen Schaffen. Aber auch den Soldatendienst hatte ich fleißig betrieben und oft schon war die Lust in mir erwacht, mich ganz dem Soldaten­stande zu weihen. Meine Mutter war gestorben. Der Kummer und die Sehnsucht nach ihrem Gatten, den sie so innig geliebt, hatte ihr Ende beschleunigt. ich stand allein, was fragte ich als zweiundzwanzig­jähriger Mensch nach Geld und Gut? Da machte der Ausbruch des Bürgerkrieges meinem Zweifel ein Ende. Schweren Herzens ließ mein Prinzipal mich gehen, und freudig stellte ich mich unter die Fahnen der Union. Nun begann für mich ein frohes, heiteres Leben. Wohl war der Dienst streng, die Anforderungen groß, aber der interessante Patrouillen- und Felddienst, die kleinen Gefechte gegen die Konföderirten übten auf mich einen großen Reiz. Die Gefahren des Krieges gingen stets an mir vorüber, oft hatte ich in jugendlichem Uebermuth mein Leben waghalsig auf's Spiel gesetzt, wo es am wildesten herging, da stürzte ich mich voll Begeisterung hinein; gar manchen meiner wackeren Kameraden sah ich fallen, mich aber verschonten die Kugeln. Oft, wenn ich des Abends nach dem Gefecht einem lieben Freunde die Augen zudrückte und lange noch an seiner Leiche saß, habe ich die Schrecken des Krieges empfunden, der mit einem Male einem blühenden Leben sein Ziel setzte, und oft kam mir der Gedanke: „Wie lange noch wird es dauern, dann ereilt auch Dich Deine Kugel, und Du kannst Dich glücklich preisen, wenn Du in Deiner letzten Stunde Jemanden bei Dir hast, der Dir den letzte Liebesdienst erweist!”

Und auch mich sollte das Geschick bald ereilen. Wegen der bei einigen Gelegenheiten bewiesenen Tapferkeit war ich zugleich mit einer Belobigung zum Offizier befördert worden und wenige Tage darauf sollte ich zum ersten, aber auch zum letzten Male Gelegenheit haben, als jüngster Offizier in dem Gefechte meine Pflicht und Schuldigkeit zu thun. Es war in der Schlacht von Charlestown. Lange schon hatte der Kampf hin und her gewogt, bald schien das Glück uns, bald den Feind begünstigen zu wollen. Da, gegen Mittag, entschloß sich unser Führer, einen letzten energischen Vorstoß gegen die Stellung des Gegners zu machen. Im lebhaften Anlauf gingen wir vor. Wenige Schritte war ich, als Einer der Ersten, nur noch von dem Feinde entfernt, — da fühlte ich plötzlich einen wahnsinnigen, heftigen Schmerz in meinen Schläfen und in meinen Augen, dann brach ich ohnmächtig zusammen. Wie lange ich so gelegen, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, wie die Aerzte mir sagten, nach vielen, vielen Tagen, lag ich im Lazareth. Um mich herum herrschte tiefste Dunkelheit, meine Stirn und meine Augen schmerzten. Ich hörte die Aerzte sprechen, ich fühlte, daß sie sich um mich herum bemühten und daß sie sich gegenseitig Glück wünschten, mich gerettet zu haben. Ich verstand von alledem nichts. Ich faßte mit der Hand nach meiner Stirn und fühlte, daß mir eine Binde vor meine Augen gelegt war. Ich wollte sie zurückschieben, aber die Aerzte verhinderten es. „Nur jetzt noch nicht, warten Sie nur noch wenige Tage, nur jetzt noch halten Sie das helle Licht von Ihren Augen fern.” Ich gehorchte und bat den Arzt, mir zu erzählen, wie ich hierher gekommen und wie lange ich schon hier sei.—

Am Abend der Schlacht hatte mein Diener, ein Schwarzer, — Sie Alle kennen ihn, wir sind seither unzertrennlich — als ich mich nicht unter der Schaar der Zurückkehrenden befand, in Verzweiflung und in Sorge um mich das Schlachtfeld abgesucht. Bis in die Nacht hinein hatte er bei dem flackernden Licht einer Laterne jeden einzelnen Todten betrachtet, lange vergebens, aber er hatte nicht nachgelassen. Endlich hatte er mich unter einer Anzahl von Leichen gefunden. Auch mich hielt er für todt, da ich kein Lebenszeichen von mir gab, und alle seine Versuche, mich zum Bewußtsein zurückzubringen, vergeblich waren. In wahnsinniger Angst war er zur Stadt zurückgelaufen, um Hülfe zu holen, aber alle Hände waren mit den Verwundeten, die man herbei­geschafft hatte, beschäftigt. Man wies ihn ab, da er Träger für einen schon Verstorbenen forderte. Er kehrte allein zurück. Er lud mich auf seine Schultern, langsam, unter der schweren Last keuchend, schlug er den Weg zum nächsten Lazareth ein, und plötzlich fühlte er, daß ich, vielleicht unter der unbequemen Lage leidend, mich bewegte. Seine Freude kannte keine Grenzen. So schnell er konnte, schritt er vorwärts und bald übergab er mich ärztlicher Pflege. „Also Ihrem treuen Schwarzen verdanken Sie das Leben,” so schloß der Arzt seinen kleinen Bericht.

Viele Tage noch lag ich halb wachend, halb schlafend auf meinem Lager. Endlich hatte das Fieber, das in mir zehrte, nachgelassen. Meine Jugend und meine starke Natur hatten den Sieg davongetragen. Vergebens bat ich täglich die Aerzte, das Tuch von meinen Augen entfernen zu dürfen, immer von Neuem hielten sie mich mit Bitten und Redensarten zurück. Da, in einem, wie ich fühlte, unbewachten Augenblick löste ich selbst die Binde, vergebens strengte ich meine Augen an, das Tageslicht zu sehen. Rings herum war tiefe Nacht! Da stieg in mir ein Gedanke auf, so gräßlich, so entsetzlich, daß ich nicht wagte, ihn zu Ende zu denken, so furchtbar, daß ich ihn selbst wieder verwarf, und doch kam ich immer wieder und wieder auf ihn zurück. Endlich faßte ich Muth, ich konnte die Qualen der Unruhe und Ungewißheit nicht länger ertragen, ich führte meine Hände nach den Augen — und fühlte, daß ich keine Augen mehr besaß! Mit einem Schrei des Wahnsinns, des Entsetzens brach ich zusammen. Ich hörte den Arzt und die Wärter herbeieilen, ich hörte die erzürnte Frage: „Wer hat es ihm verrathen? Wie konnte das vorkommen?” Dann verließ mich die Besinnung.

Wiederum lag ich Tage und Wochen im heftigsten Fieber, der Tod nahte sich mir; aber wiederum behielt meine Jugend und die Kunst der Aerzte den Sieg. Lassen Sie mich schweigen von den entsetzlichen Tagen, da ich wieder genesen war; von jenem Augenblick, wo mich, nach langer Krankheit wieder erwacht, der Gedanke durchzuckte: „Du bist blind, blind auf ewig.”

Was sollte aus mir werden? Wie sollte ich mir bei meinen dreiundzwanzig Jahren ein vielleicht langes Leben in ewiger Blindheit, in steter Finsterniß denken? Wer kann es da nicht begreiflich finden, daß ich die Waffe ergriff, um meinem trostlosen Leben ein Ende zu bereiten? Aber auch diesmal sollte ich nicht sterben. Mein treuer Diener hielt mich zurück und entriß mir die Pistole. In dem Hause eines Kameraden fand ich liebevolle Pflege und Aufnahme. Mit ihm zusammen besprach ich meine Zukunft. Ich wollte zurück nach Deutschland, zurück nach meinem Geburtsort und dort wohnen. Die Pension, die ich erhielt, schützte mich vor Noth und gestattete mir sogar ein sorgenfreies Leben. Bevor ich die Heimreise antrat, hatte ich noch die Ehre, von dem Präsidenten Lincoln empfangen zu werden. Die trostreichen Worte, herrliche Worte der Anerkennung und des Lobes, die er zu mir sprach, waren eine fast zu reiche Belohnung für das, was ich dem Staate geleistet hatte.

Wenige Tage noch und ich nahm Abschied. Meine Freunde gaben mir das Geleite auf das Schiff, allein mit meinem Diener, dem getreuen Schwarzen, trat ich die Heimreise an. —”

Lautlos hatten wir Alle den Worten des Herrn Major gelauscht. Als er seine Erzählung beendet, wagte Keiner von uns das Schweigen zu stören. Da unterbrach wieder der neugierige Fremde die Stille:

„Und hat es Ihnen nie leid gethan, daß Sie in diesem Kriege freiwillig Ihr Leben auf das Spiel gesetzt haben?”

Der Herr Major wandte sein Gesicht dem Sprecher zu, ein spöttisches Lächeln umspielte seine Züge:

„Ich muß annehmen, mein Herr, daß Sie niemals Soldat waren. Ich war es mit Leib und Seele. Und was giebt es für einen Soldaten Schöneres, als einen lustigen, fröhlichen Krieg? Donner und Knall erfrischen des Mannes Herz und es ist ein berauschendes Gefühl, mit der Waffe in der Hand anzustürmen, Schulter an Schulter mit erprobten Kameraden dem Feinde entgegenzustürzen. Das Blut fließt rascher, jeder Nerv, jede Muskel ist gespannt, der Krieger kennt keine Anstrengung, keine Erschlaffung. Man hört nur eins, das Hurrahrufen der eigenen Brüder, man kennt nur eins, den Durst nach Sieg. — Und meine Verwundung? Setzt nicht ein Jeder, ob Alt oder Jung, Hoch oder Niedrig, sein Leben freudig ein? Das Glück und das stolze Bewußtsein, von sich sagen zu können: „Ich habe meine Pflicht gethan,” entschädigt reichlich für alle ausgestandenen Leiden.”

Schon während der Erzählung des alten Herrn war der treue Schwarze an den Tisch herangetreten, um ihn zu benachrichtigen, daß es Zeit wäre, nach Hause zu gehen. Nun erhob sich der Blinde. Er machte uns eine höfliche Verbeugung und ging. Als die hohe, stattliche Gestalt am Arme seines Dieners uns verlassen hatte, saßen wir Alle noch lange im tiefen Schweigen.

Sein Geschick, das sich so schnell vollendet und seine junge Thätigkeit so gänzlich brach gelegt hatte, erfüllte uns Allen das Herz mit Wehmuth und Theilnahme. Und jetzt noch, viele Jahre nach seinem Tode, gedenke ich seiner mit Achtung und Liebe. Er verstand es, ein grausames Geschick mit Würde zu tragen. Er behielt im eigenen Unglück ein warmes Herz für die Leiden Anderer.


Fußnoten:

(*) Die pensionierten amerikanischen Offiziere avanciren mit den aktiven Offizieren weiter. (Zurück)


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