Meine letzte Badereise.

Humoreske von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Deutsche Lesehalle”,
Sonntags-Beilage zum Berliner Tageblatt,
Jahrgg. 1898, Nr. 33, Seite 257-260, 14.Aug 1898
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 11.9.1898,
in: „Algemeen Handelsblad” vom 3.9.1899 unter dem Titel „Mijn laatste reis naar een badplaats”und
in: „Meine kleine Frau und ich”


„Und welches Bad wollen Sie in diesem Jahr aufsuchen?” fragte mich mein Freund, der, seine Cigarre rauchend, es sich in meinem bequemsten Lehnstuhl bequem gemacht hatte.

Ich muß bei dieser Frage ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn verwundert sah mich mein amicissimus an:

„Was haben Sie nur? Ich wollte mit meiner Frage nicht indiskret sein; ich hatte mir ausgedacht, daß es herrlich wäre, wenn wir, sei es durch Zufall oder Absicht, denselben Badeort aufsuchten.”

„Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit, die aus Ihren Worten spricht,” gab ich zur Antwort. „Wäre ich Kaufmann, so würde ich sagen: Ich bedaure auf das Lebhafteste, von Ihrer Offerte keinen Gebrauch machen zu können — als Nicht-Kaufmann aber sage ich: Ich habe einmal in meinem Leben eine Badereise gemacht — einmal und nicht wieder.”

„Nanu?”

„Jawohl, nanu!” gab ich zurück, „und ich will Ihnen auch erklären, warum ich nicht mehr in die Sommerfrische gehe.

Es sind einige Jahre her, ich wohnte damals noch in Berlin, und meine Thätigkeit nahm mich so in Anspruch, daß ich Jahre lang an keine Erholung denken konnte. Eine Fahrt auf dem Omnibusverdeck oder in dem überfüllten Kupee der Stadtbahn waren die einzigen Gelegenheiten, die sich mir boten, einmal andere Luft als die in meinem Büreau zu athmen. Es ist eine alte Geschichte: kein Mensch neckt ungestraft ein frei herumlaufendes Krokodil, und zu viel Arbeit ist ebenso schädlich wie zu wenig Alkohol. Eines schönen Morgens erwachte ich und war kaput — kaputer, als es ein werthvolles Porzellan-Service sein kann, das von sämmtlichen Dienstmädchen der Welt gleichzeitig fallen gelassen wird. Meine Frau schickte in ihrer Angst zum Arzt. Der kam, stellte seine Diagnose auf vollständige Ueberanstrengung und völlige Gereiztheit der Nerven, verordnete mir absolute Ruhe und befahl mir, in ein Bad zu reisen.

„In welches Bad?” fragte ich.

„Wohin Sie wollen,” gab er zur Antwort.

Acht Tage lang konnten meine Frau und ich uns nicht darüber einig werden, in welches Bad ich wollte — endlich hatten wir eins gefunden, und begleitet von den Segenswünschen meiner Familie und auf das Ernsthafteste ermahnt, jeden Tag zu schreiben, wie es mir ginge, fuhr ich von dannen.

Nach kurzer Eisenbahnfahrt hatte ich das Ostseebad, dessen Name ich aus leicht erklärlichen Gründen nicht nenne, erreicht. Selbst Columbus kann, als er Amerikas Küste betrat, mit keinen größeren Ehren empfangen worden sein als ich bei meiner Ankunft; ich war der erste Badegast. Sämmtliche Hotels und Privatwohnungen wurden mir, natürlich gegen horrende Bezahlung, in liebenswürdigster Weise zur Verfügung gestellt, nie ward ein Gast mit so viel Aufmerksamkeit behandelt. Ich war die beliebteste Persönlichkeit am Ort, und an meinen Rockschößen hingen nicht die kleinen Kinder, wohl aber die Kellner. Jeder wollte mich mit Beschlag belegen, jeder wollte mich bedienen, jeder wollte von mir ein Trinkgeld haben.

Wer die Wahl hat, hat die Qual. — Nach einigem Zögern miethete ich mir in dem großen, unmittelbar am Strand gelegenen Hotel zwei sehr schöne Zimmer mit der Aussicht auf das Meer, und der Wirth schwur mir bei seinen Bartkoteletten, daß meine Wahl von seltener geistiger Begabung zeuge. Der Mann warf mit Schmeicheleien um sich wie das Gespenst von Rixdorf mit den Schinkenknochen — je fetter, desto besser.

Ich packte meine Koffer aus und machte es mir in meinen beiden Zimmern bequem — vier Wochen wollte ich in ihnen zubringen, da richtet man sich seine Wohnung ja gern so ein, daß man die eigene Häuslichkeit nicht allzu sehr entbehrt.

Dann ging ich hinunter, um in dem schönen Garten mein Abendessen einzunehmen. Es war ein herrlicher Abend — goldig schien die untergehende Sonne auf das Meer, und leise plätschernd schlugen die Wellen an den breiten, schönen Strand. Hier war es gut sein; hier war Ruhe und Friede, hier würde ich mich schon erholen. Ich ließ meine Blicke auf dem Meer ruhen und betrachtete die Fischerboote, die, ihre Netze hinter sich herziehend, immer weiter in der Ferne verschwanden. Es war ein idyllisches Bild, dessen Beleuchtung durch eine plötzlich auftretende und ebenso schnell wieder verschwindende Dunkelheit auf einmal getrübt wurde.

„Nanu?” fragte ich verwundert den neben mir stehenden Wirth, „was war denn das? Das sah ja beinahe aus, als wenn ein Schwarm von Vögeln durch die Luft geflogen wäre?”

„Nur eine dunkle Wolke, Herr Baron, nur eine dunkle Wolke, Herr Baron, weiter nichts! Aber vielleicht raucht der Herr Baron jetzt eine Cigarette oder eine Cigarre; wenn ich mir erlauben dürfte, eine zu offeriren?” Und ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte ich eine Cigarre zwischen den Lippen.

Da fühlte ich plötzlich ein leichtes Kitzeln und Jucken auf der Hand und im Gesicht.

„Sagen Sie mal, Herr Wirth, Sie haben hier doch keine Fliegen oder gar Mücken?”

„Aber, Herr Baron, wie können Sie nur so etwas glauben! Nein, so etwas kennen wir hier Gott sei Dank nicht. Es ist eine große Seltenheit, wenn sich hier einmal eine Fliege her verirrt, und Mücken kennen wir überhaupt nicht, die können hier überhaupt gar nicht leben. Ich habe mir einmal sagen lassen, sie vertragen das Klima hier nicht, die Seeluft wäre ihnen zu scharf; aber wenn der Herr Baron die Gnade haben wollten, einmal ordentlich an der Cigarre zu ziehen — ich glaube, sie wird sonst ausgehen.”

Ich zündete mir den Tabak von Neuem an und erhob mich dann, um noch einen Spaziergang am Strand zu machen. Gegen elf Uhr kehrte ich in das Hotel zurück und ging dann zu Bett, nachdem ich dem Kellner befohlen hatte, mir präzise um fünf Uhr den Kaffee auf mein Zimmer zu bringen.

Ich gehöre zu jenen Menschen, die nie träumen, aber ich weiß nicht, wie es kam, die ganze Nacht hindurch träumte ich von Mücken, im Traum fühlte ich ein beständiges Kribbeln und Krabbeln, und ich glaubte sogar einmal, einen ganzen Mückenschwarm durch das offene Fenster in mein Schlafzimmer hineinfliegen zu sehen. Man träumt ja meistens Unsinn.

Mit dem Glockenschlag fünf Uhr stand ich auf, und eine Minute später erschien der Kellner mit dem Kaffee.

„Pardon!” sagte der lebende Frack, als er mich ansah, „ich habe mich in der Stubennummer geirrt.” Und gleich darauf war er wieder verschwunden.

„Mein Kaffee wird auch schon noch kommen!” tröstete ich mich und machte mich dann an die Toilette. Kamm und Bürste aber entfielen meinen Händen, als ich vor den Spiegel trat, um mich zu frisiren. Wer war das, dessen Bild mich da ansah? War ich das selbst? Ich kannte mich selbst nicht wieder, mein Gesicht war so angeschwollen, daß ich mich nicht gewundert hätte, wenn eine Gemüsefrau in dem Glauben, einen reifen Kürbis vor sich zu haben, mir den Kopf abgeschnitten hätte. Nun war es mir auch klar, warum der Kellner mit seinem „Pardon!” den Rückweg angetreten hatte — auch er hatte mich nicht wiedererkannt.

So hatte ich also doch nicht geträumt, so hatten also doch heute Nacht unzählige Mücken auf meinem Körper ein gar frohes Fest gefeiert. Ich betrachtete mich näher; meine Finger und Hände waren unförmig angeschwollen, unter dem rechten Fuß fühlte ich plötzlich eine Geschwulst von der Größe eines Straußeies; nun war es mir auch mit einem Male klar, warum ich hinkte.

Fünf Minuten später stand der Wirth, den ich mir hatte rufen lassen, mir gegenüber.

„Hier blicke her und bleibe Deiner Sinne Meister!” redete ich ihn an. „Nun wagen Sie noch einmal, zu behaupten, daß die Mücken hier das Klima nicht vertragen können, daß ihnen die Seeluft zu stark ist! Ich bin hierher gekommen, um mich zu erholen, nicht aber, um mich bei lebendigem Leibe von Ihren Mücken auffressen zu lassen. Mein Entschluß ist gefaßt: Heute noch reise ich wieder ab — für die vereinbarten vier Wochen die Miethe zu zahlen, beabsichtige ich nicht im Entferntesten. Danken Sie Ihrem Schöpfer, wenn ich Sie nicht wegen „räuberischen Ueberfalles seitens Ihrer Hausbewohner” vor das Schwurgericht bringe! Und nun Adieu!”

Eine Stunde später saß ich auf der Bahnstation, und wieder eine Stunde später fuhr ich nach Berlin zurück. Wie würden die Meinen sich freuen, mich so schnell wiederzusehen; ich hatte ihnen nicht telegraphirt, ich wollte sie überraschen; ich würde gerade ankommen, wenn sie bei Tisch säßen.

Leise stieg ich die Treppen zu meiner Wohnung empor, öffnete vorsichtig mit dem Drücker die Etagenthür, schlich über den Korridor und horchte an der Eßzimmerthür. Richtig, sie saßen schon bei Tisch, deutlich erkannte ich die Stimme meiner Frau, die mit dem Mädchen sprach, und hörte die neugierige Frage meines Jungen: „Mutter, was giebt es heute für Suppe?”

Ich klopfte leise an und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Zimmer.

„Ha!” Mit einem Schrei des Entsetzens ließ das Mädchen das Tablet mit der vollen Suppenterrine und den Tellern fallen, mein Junge kreischte laut auf, meine Frau fiel in Ohnmacht, aber nur für eine Sekunde, dann „erfraute” sie sich wieder und rief in den gellendsten Tönen: „Hilfe — Hiiiillllfe!”

„Aber, Erna, so beruhige Dich doch, ich bin es ja, ich, Dein Mann!”

Ebenso gut hätte ich ihr aber sagen könne, daß ich der Kaiser von China sei; sie glaubte mir nicht, sie floh vor mir, den Jungen an sich reißend, durch alle Stuben in ihr Schlafzimmer und schloß sich dort ein.

Nach einer halben Stunde kam sie endlich wieder zum Vorschein, nachdem ich ihr in einem durch die verschlossene Thür geführten Gespräch bewiesen hatte, daß ich wirklich ihr rechtmäßiger Gatte sei.

Dann schickten wir zum Arzt. „I,” sagte der, „Sie haben sich in der kurzen Zeit sehr zu Ihrem Vorteil verändert, so ungefähr muß Onkel Bräsig ausgesehen haben, als der Immenschwarm über ihn herfiel. Wie kann man sich aber auch nur so mit dem Gesicht in die Brennnesseln setzen!”

„Machen Sie keine faulen Witze,” bat ich, „sondern sagen Sie mir lieber, was ich thun soll, um wieder normal zu werden!”

Er verordnete mir Salben und kühlende Wasser, und Tage lang war ich in feuchte Tücher eingewickelt. Nach acht Tagen konnte ich wieder mit beiden Augen sehen, nach vierzehn Tagen kannte ich mich selbst wieder, und nach drei Wochen sprach meine Frau zu mir: „Ich habe immer noch gezweifelt, jetzt aber sehe ich es, Du bist es wirklich!”

Nach vier Wochen, als mein „Erholungsurlaub” abgelaufen war, war ich wieder ganz genesen. Am Abend, bevor ich aber wieder zum ersten Mal ins Büreau ging, habe ich mir einen Schwur geleistet, den ich halten werde bis an mein Lebensende: „Nie wieder reise ich in ein Bad, es müßte denn schon sein, daß ich eines Tages die Anzeige erhielte: „Heute Mittag zwölf Uhr starb die letzte auf dieser Welt befindliche Mücke.” Aber ich glaube, da kann ich lange warten.”


„Algemeen Handelsblad” vom 3.9.1899:


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© Karlheinz Everts