Aus dem Arresthause.

Militär-Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: Der grobe Untergebene”


Fast in unmittelbarer Nähe einer jeden Kaserne befindet sich ein kleines, aus roten Mauersteinen gebautes Haus mit einer Etage. Über den wenigen Fenstern sieht man von außen gar sonderbare dicke Bretter, die herabgelassen werden können und dann selbst dem hellsten Lichtschein den Durchbruch verwehren. Kein Schmuck, kein Zierat ist an dem Hause bemerkbar, tiefe feierliche Stille herrscht ringsherum, kein Laut, kein Geräusch ist von den Bewohnern zu hören, und jeder Vorübergehende wirft einen scheuen Blick zu den Fenstern hinauf, um dann schnell weiter zu eilen. Nur der Posten, der mit geladenem Gewehr jeweils zwei Stunden auf und ab patrouilliert, bis die Ablösung kommt, widmet dem kleinen Hause und dessen Bewohnern die größte Aufmerksamkeit. Sobald er einen verdächtigen Ton hört, nimmt er seine Flinte von der Schulter in die Hand, bereit, wenn es sein muß, von der Waffe Gebrauch zu machen, aber selten nur wird er dazu gezwungen, denn die Mauern sind stark, die Fenster klein, und die mit eisernen Riegeln verschlossenen dicken Eichentüren spotten jedes gewaltsamen Versuchs, sie zu öffnen.

Das ist das Arresthaus, in dem so mancher treue Vaterlands­verteidiger Zeit und Gelegenheit findet, bei Wasser und Brot über seine vielfachen Sünden und Vergehen nachzudenken. In Poesie und Prosa sind die Leiden und Freuden der Gefangenen geschildert worden, aber ich glaube, der Leiden gibt es mehr. „Einundzwanzig Tage streng” sind selbst für den hartgesottensten Sünder kein Genuß, und die Freude, sich nun endlich einmal wieder vom Dienst drücken und ordentlich ausschlafen zu können, ist vorüber, wenn er erst vier Tage in der dunklen Zellen gesessen, weiter nicht gegessen und getrunken hat als sein trockenes Kommißbrot und frischen, klaren Pumpenheimer. Und dann die Nächte! Einundzwanzig lange Nächte auf der hölzernen Pritsche, nur ein Brett unter dem Kopf — selbst das beste Ruhekissen, das gute Gewissen, fehlt ihm ja — zugedeckt mit einer dünnen Decke: da sieht er ein, daß selbst die dicken Erbsen keine zu verschmähende Kost sind, daß Arbeit besser und interessanter ist als Nichtstun, und er gelobt sich, in Zukunft seine Schuldigkeit zu tun, wenn er erst wieder draußen ist!

Aber es ist tausendmal leichter, in die dunkle Zelle hinein, als wieder aus ihr herauszukommen, auch das weiß er und hütet sich nach besten Kräften vor einer „Zusatzstrafe”. Aber nur wenigen glückt es, ihre kleinen Sünden und Vergehen vor dem strengen Auge des Arrestaufsehers geheimzuhalten — er hat sie so lieb, die Kinder, die seiner Obhut anvertraut sind, er möchte sie so gern für immer bei sich behalten. Auf weichen Filzschuhen, um den Schlaf und die Ruhe seiner Schutzbefohlenen nicht zu stören, schleicht er durch die Korridore und späht mit seinen scharfen Augen durch die kleine an der Tür befindliche Öffnung — da, ein heiteres Lächeln spielt um seine Züge, er sieht genauer hin, nein, er täuscht sich nicht, dort drinnen hat der Arrestant dem ihm bekannt gegebenen Verbot entgegen den untersten Rockknopf aufgemacht. Leise, wie er gekommen ist, schleicht er davon, und ohne daß der Unglückliche etwas davon ahnt, wird er gemeldet und bekommt die übliche Zusatzstrafe von „drei Tage mittel”. Heute ist nun nach seiner Meinung der Entlassungstermin gekommen, heute kann er wieder in vollen Zügen die goldene Freiheit genießen, nur noch kurze Zeit; dann muß ihm die Erlösung nahe. Eine Stunde verrinnt nach der anderen, da endlich schlägt die Kasernenuhr zwölf, nun nur noch wenige Minuten, dann hat er seine einundzwanzig Tage streng „abgerissen”. Aber was ist das? Niemand komt, um ihm zu öffnen. Er zieht die Glocke, der Arrestaufseher erscheint. „Herr Unteroffizier, kann ich noch nicht 'rausgelassen werden?” Erstaunt sieht der Gestrenge den Fragenden an: „Du, mein Junge? Ach so, ich vergaß Dir zu sagen, daß Du noch drei Tage zubekommen hast, weil Du vorgestern den untersten Rockknopf auf hattest,” und bevor der Arme sich von seinem Erstaunen erholt, ist die eichene Tür schon wieder ins Schloß gefallen. Resigniert sinkt er auf seine Pritsche und murmelt leise vor sich hin: „O welche Lust, Soldat zu sein.”

Ja, ja, die Zusatzstrafen! Da hat ein armer Teufel „drei Tage gelinden”, weil er seine Drillichhose, um sie endlich einmal rein zu bekommen, mit der Bürste bearbeitet hat — bekommt er sie nicht sauber, fliegt er natürlich auch in den Kasten. Er sitzt auf seiner Pritsche und denkt über sein Schicksal nach, er ist verzweifelt, und eine Träne rinnt ihm die Wange herunter. Da, horch, die Klänge des Preußenmarsches. Mit klingendem Spiel kommt das Regiment von einer Felddienst­übung zurück, wie gern wäre er dabei gewesen, ist er doch Soldat mit Leib und Seele! Die flotte Weise begeistert ihn, er vergißt seine Sorgen, ach was, es kann doch noch alles gut werden. Er steigt auf sein Lager und schaut behutsam durch das Fenster auf das glänzende Schauspiel, da hört er draußen den Arrestaufseher mit seinem Schlüsselbund. Rasch springt er herunter, zu spät, seine Sünde ist bemerkt, keine Macht der Erde rettet ihn vor weiteren drei Tagen, es nützt nichts, kein Bitten und kein Flehen hilft, er muß weiterbrummen.

Bei ihrer Einlieferung werden die Arrestanten, bevor sie in ihre Zelle abgeführt werden, genau untersucht, ob sie nicht verbotene Sache, wie Bücher, Getränke und Tabak, bei sich haben. Namentlich letzterer wird auf jede nur denkbare Art und Weise durchzuschmuggeln versucht. Die Untersuchung ist so genau wie möglich; die Leute müssen sich ganz auskleiden, die sämtlichen Sachen werden nachgesehen, die Anzüge und Taschen umgedreht, ja selbst Nase, Mund und Ohren werden revidiert und häufig mit Erfolg, aber dennoch gelingt es den Leuten manchmal, etwas zu verbergen.

Wir hatten früher bei unserem Regiment einen Arrestaufseher, der stets damit prahlte, daß ihm nichts entgehen könnte. Da wurde eines Tages ein Deserteur eingebracht. Die Revision begann, er mußte alles ausziehen, und Stück für Stück wurde durchsucht, aber vergebens.

„Kerl, bei Dir kann selbst ich noch lernen, ich sehe es ja Deinem niederträchtigen Gesicht an, daß Du mich belügst. Du hast doch Kautabak bei Dir, sag mir, wo er ist.”

Grinsend schaute der Mann ihn an. „I, wo werde ich so dumm sein. Suchen Sie man weiter.” Und es wurde weiter gesucht, bis dem Armen die Zähne vor Kälte klapperten und man ihm seine Kleider wiedergeben mußte. Dann wurde er in seine Zelle gebracht. Tag und Nacht stand der Unteroffizier auf der Lauer und sah endlich, wie der Arrestant von seiner Hose die rote Biese herunterriß und eine dort der Länge nach eingenähte Rolle Kautabak herausnahm. Darauf war selbst er noch nicht verfallen, zum zweitenmal sollte aber so etwas nicht wieder vorkommen, dafür wollte er schon aufpassen. Die Durchsuchung der Hosen wurde von nun an seine Spezialität, er zerschnitt sie in so viele kleine Stücke, daß fast nichts mehr von ihnen übrigblieb, und er eines Tages wegen Zerstörung königlicher Klein­montierungs­stücke selbst „beigebuchtet ” wurde. Seitdem soll sein Eifer nachgelassen haben.


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