Das Mädchen von achtzehn Jahren.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Die süssen kleinen Mädchen — wie sie lieben.”


Die Zeit heilt alle Wunden, so hat Milly, die ebensogut Anny, Bertha, Klara, Dora oder sonst irgendwie heißen könnte, ihren Max, der auch auf den Namen Paul, Oskar, Alfred oder sonst irgendwie hören könnte, längst vergessen, oder wenn auch nicht gerade das, so hat die Zeit längst Gras über die Geschichte wachsen lassen.

Milly ist wieder die geworden, die sie war, sie ist nach wie vor mit den Männern fertig und wenn sie trotzdem weiter flirtet, und diesen Sport sogar noch leidenschaftlicher als je betreibt, so bleibt sie dabei doch stets die Herrin der Situation. Eine Freundin hat einmal gesagt, man müsse die Herren behandeln, wie eine Dompteuse im Löwenkäfig ihre Bestien, sie müßten zu den Füßen kauern und dürften sich nicht mucksen und nicht rühren, bevor man es ihnen nicht erlaubte.

Und eine andere hat gesagt: „Man muß immer alles versprechen, aber nie etwas halten, stets Avancen machen, aber nie etwas gewähren, anscheinend alles glauben, aber im stillen darüber natürlich immer nur lachen.”

Sie hat so viele Rezepte, nach denen sie die Männer behandeln soll und will, daß sie schließlich selbst nicht mehr weiß, welches sie anwenden soll, bis sie die alle in einen großen Topf zusammenwirft und das Ragout, das daraus entsteht, als Richtschnur für ihr ferneres Verhalten wählt. Die Hauptsache bleibt nach wie vor, allen Herren den Kopf zu verdrehen, aber selbst dabei kühl bis in das Herz und vor allen Dingen dabei ganz klar im Kopfe zu bleiben.

Die Männer sehen in erster Linie auf das, was vor Augen ist, darum gilt es, stets tadellos gekleidet zu sein, totschicke Hüte, ganz enge, aber auch wirklich ganz enge Röcke und vor allen Dingen gutes Fußzeug: entweder Halbschuhe mit koketten bunten Strümpfen oder aber hohe Lackstiefel. Die Herren sehen den jungen Damen ja nun einmal mit Vorliebe auf die Füße, das war schon damals so, als der Prinz auszog und das Aschebrödel nur deshalb heiratete, weil sie von all ihren Schwestern den kleinsten Fuß hatte. Da aber nicht jede den kleinsten haben kann, muß sie ihren Stolz darein setzen, den elegantesten zu haben und das ist ohne das Schuwerk nicht zu erreichen.

Milly treibt darin einen wirklichen Sport und zwar mit solchem Erfolg, daß nicht nur ihre Freundinnen anfangen deswegen neidisch zu werden, sondern daß sie darüber auch voller Genugtuung manches Kompliment aus dem Munde der Herren hört.

Und eines Tages erlebt sie einen ganz großen Triumph.

Seit kurzem ist an einem der Theater, die die Stadt besitzt, ein neuer erster Liebhaber engagiert, ein wirklich bildhübscher Mensch, dazu tadellos angezogen. Aber das Schönste an ihm ist doch sein großer Bernhardiner, der ihn auf Schritt und Tritt begleitet, wenn er durch die Straßen der Stadt geht und das tut er, so viel seine Zeit es ihm erlaubt. Alle jungen Damen kennen ihn natürlich von Ansehen, alle versuchen, ihm möglichst oft zu begegnen, alle werfen ihm feurige Blicke zu, alle schwärmen für ihn, die meisten sind sogar in ihn verliebt, denn er hat lediglich durch seine Erscheinung, dann aber auch natürlich durch sein Spiel das Kunststück fertiggebracht, daß die jungen Damen ihrem Grundsatz untreu wurden, der da lautet: „Man muß wohl alle Welt in sich verliebt machen, aber selbst darf man sich niemals verlieben.” Der Schauspieler, Herbert heißt er mit Vornamen, ist aber nicht nur ein sehr hübscher, sondern ein wahnsinnig interessanter Mensch. Wenn nur die Hälfte der Liebesabenteuer wahr ist, die man sich von ihm erzählt, dann ist der Sultan der Türkei dagegen der reine Waisenknabe, dann hat der in seinem ganzen Leben kein einziges Weib angerührt.

Eine von Millys Freundinnen, namens Olga, kennt ihn persönlich. Dazu ist sie die einzige, die trotz ihrer persönlichen Bekanntschaft nicht für ihn schwärmt. Nicht weil ihr Herz für solche Dinge unempfindlich wäre, sondern weil sie ihrem Fritz nicht untreu werden will, wenigstens nicht so untreu, daß er etwas merkt, denn der ist so verliebt in sie, daß er sie allen Ernstes heiraten will, wenn er sein Staatsexamen gemacht hat. Fritz ist ein Phantast und ein Idealist, er kennt kein größeres Vergnügen, als ihr immer davon zu sprechen, wie hüsch und gemütlich es später in ihrem bescheidenen Heim werden soll und wie er, wenn er als Arzt erst Praxis hat, durch seinen Fleiß und durch seine eigene Tüchtigkeit ihr nach und nach immer mehr Luxus und Behaglichkeit verschaffen will. Olga denkt natürlich gar nicht daran, in derartige bescheidene Verhältnisse hineinzuheiraten, aber gerade deshalb macht es ihr ein großes Vergnügen, seinen Zukunftsplänen zuzuhören. Und wenn sie dann hinterher mit ihrem sehr reichen Vetter Kurt zusammen ist, den sie heiraten will, obgleich er im Vergleich zu Fritz weder hübsch noch klug ist, dann will sie sich mit dem zusammen immer über Fritz totlachen. Natürlich kennt sie den nicht persönlich, das würde Vetter Kurt trotz seiner Dummheit doch übelnehmen, sondern Fritz ist der Verehrer ihrer besten Freundin, die vor ihr gar keine Geheimnisse hat. Einzig und allein daher kommt es, daß sie über alles so genau unterrichtet ist.

Nein, Olga ist in den hübschen Schauspieler nicht verliebt, obgleich er viel in dem Hause ihrer Eltern verkehrt. Sein Vater ist ein Jugendfreund ihres Vaters, und da sie nicht in ihn verliebt ist, ist sie auch auf Milly absolut nicht eifersüchtig, als sie der eines Tages mitteilt, Herbert habe den Wunsch geäußert, sie kennenzulernen und sie, Olga, gebeten, doch diese Bekanntschaft zu vermitteln. Natürlich soll es sich nicht nur um eine flüchtige, sondern um eine nähere Bekanntschaft handeln.

Millys Herz drohte vor Freude zu zerspringen, der Traum und der Wunsch mancher schlaflosen Nacht soll in Erfüllung gehen. Aber um Gottes willen, nur nichts merken lassen, denn Olga wäre imstande, Herbert alles wiederzusagen und der darf am allerwenigsten gleich etwas davon wissen, daß sie schon lange vor Ungeduld brennt, ihn kennenzulernen.

So spielt sie denn die Blasierte und zeigt keine Spur irgendwelcher Erregung oder freudigen Erstaunens, als sie nun fragt: „Der will mich kennenlernen?” Und absichtlich etwas spöttisch und sehr von oben herab setzte sie hinzu: „Was verschafft denn gerade mir die Ehre?”

Aber Olga läßt sich nicht täuschen: „Gott, Milly, tu doch nicht so, als wenn dir gar nichts daran läge und daß er gerade dich gerne kennenlernen möchte, hat einen einfachen Grund. Er findet dich auffallend hübsch, sehr gut angezogen und behauptet, er hätte noch nie, weder im Leben noch auf der Bühne, eine junge Dame gesehen, die auch nur annähernd so gut chaussiert ginge wie du.”

Daß es ihr gelungen ist, gerade durch ihr Schuhwerk seine Aufmerksamkeit zu erregen, schmeichelt ihrer Eitelkeit am meisten. Denn hübsch sein kann schließlich jede und das zu sein ist ja weiter kein Verdienst.

Aber auch jetzt darf sie sich nicht verraten und so meint sie denn, anscheinend ganz ungezwungen auflachend: „Da gefällt ihm ja sehr vieles an mir, ihm mehr an mir, als mir an ihm, aber trotzdem, wenn sich die Sache gelegentlich einmal macht, kannst du ihn mir ja vorstellen.”

Olga sieht sie ganz ärgerlich an: „Na Milly, mir brauchst du doch keine Komödie vorzuspielen, denn wenn ich euch beide zusammenbringe, dann habe ich doch selbst das größte Interesse daran, daß nichts davon bekannt wird. Also nun rede keinen Unsinn, willst du oder willst du nicht? Mein Gott, einen derartigen Künstler näher kennengelernt zu haben, ist doch schließlich eine Erinnerung für das ganze Leben und wie viele würden dich nicht darum beneiden? Wir haben schon alles besprochen, wie euer erstes Zusammensein ganz unauffällig arrangiert werden kann. Du kommst morgen nachmittag um vier Uhr zum Kaffee zu uns. Herbert hat am Abend nicht zu spielen, er wird um sechs Uhr bei uns erscheinen und um Erlaubnis bitten, zum Abendbrot bleiben zu dürfen. Bald darauf gehst du fort und um halb sieben läßt er sich aus dem Theater antelephonieren. Ein Kollege sei erkrankt, er müsse sofort fürihn einspringen. Er wirft sich in die Droschke, fährt an dem Goldfischteich vorüber und wenn er dir gefallen hat, steigst du zu ihm in den wagen. Ihr eßt dann irgendwo zusammen zu Abend. Deinen Eltern, die meine Eltern glücklicherweise ja nicht kennen, mußt du natürlich sagen, du bliebest bei uns.”

„Danke, so klug bin ich natürlich selbst,” erwidert Milly pikiert, es erscheint ihr geradezu unglaublich, wie man ihr solche einfache Ratschläge geben kann, sie ist doch schließlich kein Kind mehr.

Olga lacht fröhlich auf: „Na, nimm es nur nicht tragisch, ich habe es gut gemeint. Manche hat schon on der Aufregung, trotzdem sie es in Strömen regnen sah, den Schirm zu Hause vergessen und gerade, wenn man ganz vorsichtig sein will, läßt man häufig die einfachsten Sicherheits­maßregeln außer acht. Und vergiß nicht, präzise vier Uhr. Je länger wir ohne Herbert zusammen sind, um so unauffälliger ist es dann, wenn er hinterher kommt. Natürlich mußt du auch gleich einen plausiblen Vorwand mitbringen, warum du den Abend nicht bei uns bleiben kannst. Das einfachste ist, wenn ihr selbst Gäste habt.”

Nun wird Milly aber wirklich böse: „Gott, Olga, du tust aber wirklich, als ob ich noch nicht bis drei zählen könnte und dabei kenne ich sogar in der Hinsicht das große Einmaleins in- und auswendig.”

„Um so besser für dich,” meint Olga, „dann bleibt es also bei unserer Vrabredung.”

Milly glaubt es sich selbst schuldig zu sein, nicht gleich mit ja zu antworten, so sagt sie denn ausweichend: „Du wirst es mir nachfühlen — das alles kommt für mich so überraschend, ich verspreche dir aber, ich will es mir überlegen und sage dir dann morgen früh telephonisch Bescheid.”

Aber nicht nur Milly, auch Olga kennt in der Hinsicht das große Einmaleins und so sagt sie denn: „Schön, dann sind wir uns also einig und ich erwarte dich also morgen präzise vier Uhr.”

Gleich darauf trennen sich die Freundinnen, die sich auf einem Spaziergang trafen. Olga geht in die Konditorei, um von dort aus Herbert zu telephonieren, daß er morgen wie verabredet zum Abendessen kommen soll und Milly geht nach Hause, aber nicht direkt, sondern sie macht einen Umweg, der sie bei den großen Schuhwaren­geschäften vorbeiführt. Die anerkennenden Worte Herberts, er habe noch nie eine so gut chaussierte junge Dame gesehen, wollen ihr nicht aus dem Sinn und sie gefallen ihr doppelt, da „chaussiert” französisch ist. Auf jeden Fall muß sie dem Lob, das er ihr zollte, morgen alle Ehre machen, das steht für sie fest. So mustert sie denn die Auslagen in den Fenstern, die verführerisch über Pappbeine heraufgezogenen seidenen durchbrochenen Strümpfe, die oberhalb des Knies mit bunten seidenen Bändern zusammengehalten werden und die schlanken schmalen Pappfüße in Schuhe und Stiefeln jeder Art. Sie ist in der Hinsicht so reich ausgestattet, daß sie selbst einen Laden damit aufmachen könnte und sie findet auch trotz alles Suchens kein Schuhzeug, das noch koketter und verführerischer wäre, als das, was sie zu Hause im Überfluß hat.

So sucht sie denn endlich die elterliche Wohnung wieder auf, und sie kommt gerade noch zur rechten Zeit, denn die Eltern sind im Begriff, mit der Mahlzeit zu beginnen und unterhalten sich dabei über ein Thema, das Millys Herz beinahe stillstehen läßt: Zu morgen abend hat sich eine befreundete Familie zum Essen angesagt und erwartet telephonisch Bescheid, ob ihr Besuch auch willkommen ist.

Die Mutter ist dafür, sie freut sich darauf, sich einer mitfühlenden Seele gegenüber wieder einmal über all das aussprechen zu können, was das Herz einer Hausfrau bewegt: Die schlechten Dienstboten, die hohen Fleischpreise, die gar nicht mehr zu bezahlen sind, die neuesten Hutfassons, die erst recht nicht mehr zu bezahlen sind, die aber natürlich trotzdem bezahlt werden müssen. Denn ohne Nahrung kann der Mensch leben, das beweisen ja die berufsmäßigen Hungerkünstler, ob aber auch eine Frau nur drei Tage lang hungern kann, wenn sie während der ganzen Zeit ein und denselben Hut aufhaben muß? Ganz gewiß nicht.

Die Mutter ist für den Besuch, der Vater ist dagegen.

„Und was sagst du dazu, Milly?”

Da die das große Einmaleins in- und auswendig kennt, hat sie längst eingesehen, daß es das klügste ist, neutral zu bleiben. Aber je gleichgültiger es ihr anscheinend ist, wie die Streitfrage endlich entschieden wird, um so aufmerksamer verfolgt sie den Disput. Keins der Worte, die da von beiden Seiten gewechselt werden, entgeht ihr und im stillen erwägt sie fortwährend, wie für sie die Chancen stehen.

Endlich muß die Mutter nachgeben. Sie wird auf den Rat ihres Mannes hin über Nacht rasende Kopfschmerzen bekommen und damit ist die drohende Gefahr definitiv beseitigt.

Milly atmet erleichert auf und wenn auch ganz unbeabsichtigt, so erleichert, daß die Mutter sie ganz erstaunt ansieht: „Was hast du denn nur? War dir der bevorstehende Besuch so gräßlich? Dann hättest du das doch sagen können.”

Aber Milly widerspricht: „Wie kannst du nur so etwas glauben, Mutter, ich habe die Frau Regierungsrat sogar sehr gerne, wenngleich sie ja etwas viel spricht und dadurch den guten Vater immer nervös macht.”

Milly ist auf diese Antwort sehr stolz, sie tritt damit sowohl auf die Seite der Mutter, wie auf die des Vaters, dann fährt sie gleich darauf fort: „Wenn ich mich aber trotzdem freue, daß der Besuch wenigstens morgen abend nicht kommt, geschieht es, weil ich vorhin Olga Warmburg unterwegs traf. Ihre Mutter ist ja Vorsitzende vieler Wohltätigkeits­vereine und sie plant für einen guten Zweck ein Kostümfest. Vorläufig liegt die Idee allerdings noch sehr im argen, und ob überhaupt etwas daraus wird, muß die Zukunft lehren. Morgen ist die erste Vorbesprechung, Olga war gerade auf dem Weg zu mir, um mich aufzufordern, mitzumachen, und wenn es gerade nicht absolut nötig ist, daß ich gleich am ersten Tage dabei bin, so freut es mich nun doch, daß ich hingehen kann, denn sonst wird man, wenn man am Anfang fehlt, nur zu leicht auf den zweiten oder dritten Platz gedrängt und das möchte ich nicht.”

Auch auf diese Idee mit dem Kostümfest ist Milly sehr stolz, die wird es ihr sehr erleichtern, fortan so oft und so lange fortzugehen, wie die Umstände es erfordern und wenn sie dann eines Tages erzählt, daß das Fest nun doch nicht stattfindet, daß es im letzten Augenblick an den hohen Unkosten oder sonst irgendwie gescheitert ist, wird niemand dabei etwas Auffälliges finden.

Morgen ist ja auch nur die erste Vorbesprechung — sollte ihr wider Erwarten Herbert nicht gefallen, dann erzählt sie gleich morgen abend, daß man die Idee des Kostümfestes wegen Mangel an Interesse schon wieder aufgegeben hat.

Am nächsten Nachmittag ist Milly mit dem Glockenschlag vier Uhr bei ihrer Freundin, die sie mit aufrichtiger Bewunderung betrachtet und mit ihrer Anerkennung, wie hübsch sie Milly heute findet, nicht zurückhält. Das hellgraue Jackenkleid umspannt ihre schlanke Figur, die ein klein wenig über die Mittelgröße hinausgeht. Auf dem schönen Hals sitzt ein pikanter und verführerischer Kopf, dessen dichtes, brünettes Haar nach der neuesten Mode äußerst kunstvoll frisiert ist. Ihre grauen Augen haben etwas Lachendes und Übermütiges, zugleich aber auch etwas Verführerisches. Man sieht auf den ersten Blick, die Augen verstehen zu sprechen, namentlich in Herren­gesellschaft, aber dabei sind sie doch keineswegs keck oder herausfordernd. Ihr kleiner Mund mit den rosaroten Lippen ist verführerisch schön und muß in jedem Mann den Wunsch aufkommen lassen, ihn zu küssen. Überhaupt geht von ihrer ganzen Erscheinung ein sehr pikanter Reiz aus, der durch ihre Toilette und nicht zuletzt durch den großen Wiener Hut noch gehoben wird.

Milly ist selbst mit ihrer äußeren Erscheinung mehr als zufrieden gewesen, als sie, bevor sie ihr Zimmer verließ, den letzten Blick in den Spiegel warf, aber trotzdem freut sie sich nun, daß auch Olga sie hübscher und verführerischer denn je findet.

Als die beiden Freundinnen den Kaffee trinken, rückt Olga mit ihrem neuesten Plan heraus: „Weißt du, Milly, ich habe es mir überlegt, man kann nie vorsichtig genug sein. Gerade wenn es sich um einen Schauspieler handelt, sind alle Mütter gleich so furchtbar mißtrauisch, so daß man fast auf den Glauben kommen könnte, auch in ihrem Leben hätte einmal ein Schauspieler eine Rolle gespielt Ich meine, wenn du hier erst mit Herbert zusammentriffst, dann nach einer Weile fortgehst und er sich dann plötzlich fortholen läßt, das könnte vielleicht doch auffallen. Ich las einmal irgendwo, ein General habe gesagt, man könne nur dann eine Schlacht gewinnen, wenn man seine eigenen Kräfte weit unterschätzte und die des Gegners weit überschätzte. Das allein veranlasse zu Maßnahmen, die den sicheren Sieg zur Folge hätten. Und deshalb meine ich es so: Kurz vor sechs Uhr erklären wir meiner Mutter, du müßtest schon fort und ich wolle dich noch nach Hause begleiten. Wir sind dann natürlich noch mit dem Aufsetzen der Hüte und dem Anziehen unserer Jacketts beschäftigt, wenn Herbert erscheint. Fix und fertig zum Ausgehen treten wir dann in das Wohnzimmer. Natürlich auf allen Seiten große Überraschung. Du bleibst nur noch ein paar Minuten, du bedauerst, unter keinen Umständen länger bleiben zu können, mir tut es aufrichtig leid, dich nun alleine gehen lassen zu müssen, du gehst und wenn Herbert eine halbe Stunde später auch geht, kommt kein Mensch und keine Mutter auf irgendwelche Gedanken.”

Milly ist mit allem einverstanden. Je geheimnisvoller alles arrangiert wird, um so größer wird ihre Erwartung und ihre Erregung. Wenn er nur erst da wäre!

Mit dem Glockenschlage sechs kommt er, gerade als die beiden jungen Damen fix und fertig zum Ausgehen mit Olgas Mutter in dem Wohnzimmer die letzten Worte wechseln.

Nein, die Überraschung, Herbert ist da, wer hätte das gedacht!

Olga kann sich von ihrem freudigen Erstaunen gar nicht erholen und ihre Mutter ist von seiner Aufmerksamkeit, daß er sich heute schon wieder nach ihr umsieht, geradezu gerührt.

Milly ist diskret zur Seite getreten, um die erste Begrüßung nicht zu stören, sie sieht ihn nicht, er sieht sie nicht, wenigstens tun beide so.

Herbert wendet sich an Olga: „Sie wollten ausgehen, gnädiges Fräulein? Lassen Sie sich bitte darin durch mich nicht zurückhalten. Ich plaudere so lange mit Ihrer Frau Mutter und wir sehen uns dann hoffentlich hinterher noch, denn wenn es erlaubt ist, möchte ich bitten, den heutigen Abend hier verleben zu dürfen.”

Er weiß zwar nicht so recht, was es zu bedeuten hat, daß die beiden jungen Damen, der ursprünglich getroffenen Verabredung entgegen, ausgehen wollen, aber das beunruhigt ihn nicht weiter, er hat das ganze Arrangement vertrauensvoll in Olga Hände gelegt und er wieß, da liegt es gut.

Er sieht Milly immer noch nicht und sie sieht ihn auch noch nicht, sie ist noch mehr beiseite getreten, aber sie steht jetzt nicht mehr hinter dem Tisch, sondern neben ihm, so daß er ihre ganze Figur mit seinem Blick umfassen kann, wenn er sie endlich offiziell bemerkt. Und wie zufällig hat sie ihren Rock so gelegt, daß er dann auch gleich ihre schlanken Füße sehen muß.

Trotz seiner Aufforderung, sich durch ihn nicht stören zulassen, hat Olga den Hut und das Jackett schon wieder abgelegt: „Natürlich gehe ich jetzt nicht fort, ich wollte nur Milly — Herrgott, sei mir nur nicht böse, Milly, dich habe ich ja ganz darüber vergessen, darf ich dir Herrn Herbert Sterner vorstellen — Herr Herbert Sterner, meine Freundin Milly Jachmann.”

Auf beiden Seiten eine tadellose, vornehme, kühle und stumme Verbeugung.

Aber während er sich verneigt, mustert er sie vom Kopf bis zu den Füßen und während sie den Kopf senkt, prüft ihr Blick ihn von oben bis unten. Sie hat ihn ja schon oft gesehen, aber so ganz in der Nähe wie heute noch nie, und so gut wie jetzt hat er ihr auch noch nie gefallen. Er ist in seiner äußeren Erscheinung der vollendete Kavalier, der in seinem ganzen Auftreten in keiner Weise den Schauspieler und den Künstler verrät.

Für eine kurze Sekunde halten ihre Augen Zwiesprache miteinander und jeder ist mit dem, was er in dem Blick des anderen liest, zufrieden.

Dann hören beide sofort wieder auf, füreinander zu exisieren. Herbert wendet sich wieder den Damen des Hauses zu und Milly tritt heran, um sich zum zweitenmal zu verabschieden.

„Kannst du denn wirklich heute abend nicht bei uns bleiben?” fragt Olga und ihre Mutter fragt dasselbe, aber Milly kann bei dem besten Willen nicht: „Wir haben heute abend selbst Gäste, deshalb bin ich ja nur so früh gekommen, um auch pünktlich zu Hause sein zu können.”

Dann geht sie, noch ein stummes Neigen des Kopfes gegen Herbert, das er durch eine neue stumme Verbeugung erwidert. Nicht eine Silbe, nicht eine einzige Höflichkeits­phrase ist zwischen ihnen gewechselt worden.

Olga begleitet die Freundin auf den Korridor hinaus und flüstert ihr beim Abschied noch zu: „Amüsier dich nur gut mit ihm, ich wünsche dir von Herzen viel Vergnügen.”

Dann kehrt sie zu den übrigen zurück und vermeidet es absichtlich, auch nur mit einem Wort auf Milly zurückzukommen. Die ist unterdes auf die Straße getreten, sie hat noch länger als eine halbe Stunde Zeit, bis sie mit Herbert zusammentreffen soll, sie will so lange durch die Straßen gehen und sich die Läden besehen, aber sie hat doch keine Ruhe und sucht schon nach einigen Minuten den Rendezvousplatz auf.

Endlich schlägt es halb sieben. Jetzt wird man Herbert antelephonieren. Sie sieht im Geiste ganz deutlich die Szene vor sich: Große Enttäuschung auf allen Seiten des Hauses. Olgas Mutter ist ganz außer sich, Olga selbst mehr als böse über die Störung und nun erst er, der sich in Gegenwart der Damen Gewalt antun muß, um seinem Unmut nicht mit lauten Worten Luft zu machen. Wie hat er sich auf den heutigen Abend gefreut, endlich einmal nicht Komödie spielen zu müssen, sondern einmal Mensch unter Menschen sein zu können. Aber die Pflicht und der Dienst rufen, da muß er gehorchen!

Sie muß unwillkürlich lächeln, während sie an diese eilige Aufbruchsszene denkt, obgleich ihre Unruhe von Minute zu Minute wächst und ihr eigentlich gar nicht lächerlich zumute ist.

Jetzt hält sie in ihrer Wanderung inne und steht einen Augenblick unschlüssig da. Ob sie nicht vielleicht doch lieber nach Hause geht und ihm morgen durch Olga sagen läßt, sie wolle doch lieber seine Bekanntschaft nicht machen?

Ja, ganz gewiß, das ist das Beste und schon wendet sie sich zum Gehen, bis sie dann doch plötzlich ihre Bedenken wieder verscheucht. Sie ist doch kein Kind mehr, und wie weit die Bekanntschaft gehen wird, liegt doch nur bei ihr, und sie wird schon die Herrschaft über sich nicht verlieren. Und vor allen Dingen, Olga würde sie ja auslachen und nun erst Herbert. Wenn sie dem jetzt aus dem Wege geht, würde sie doch dadurch deutlich beweisen, daß sie ein Zusammentreffen mit ihm fürchtet, und den Glauben darf sie nicht in ihm aufkommen lassen.

Das Hupensignal eines Autos läßt sie aufblicken. Der Wagen hält unmittelbar neben ihr, die Tür wird von innen geöffnet, ohne daß der Insasse sich zeigt, sie steigt ein und gleich darauf fährt der Wagen weiter.

Mit einem leisen Händedruck dankt er ihr und auch jetzt sprechen beide kein Wort. Stumm, von der Erregung des Augeblicks ergriffen, sitzen sie nebeneinander, bis die innere Unruhe sie dann doch treibt, ihn zu fragen: „Wohin fahren wir?”

„Zu mir,” lautet seine kurze Antwort, und von neuem drückt er ihre Hand.

Sie will ihm zurufen: „Nein, nicht zu Ihnen, wohin Sie sonst wollen, gerne, aber das nicht,” und doch schweigt sie, wohin er sie auch führt, alleine ist sie ja doch mit ihm, ganz allein mit ihm.

Sie schweigt, aber er liest in ihren Augen, was in ihr vorgeht und so sagt er denn: „Wir fahren zu mir, gnädiges Fräulein, weil Sie nirgends so sicher sind, nicht mit mir zusammen gesehen zu werden und Sie können sich mir vollständig anvertrauen. Und schließlich, wenn Sie nicht selbst die Überzeugung hätten, sich mir anvertrauen zu können, dann hätten Sie, gnädiges Fräulein, doch ganz gewiß nicht meine Bitte erfüllt.”

Er betont die Worte „Sie, gnädiges Fräulein” so, daß es ihrer Eitelkeit schmeichelt und daß er damit alle ihre Bedenken verscheucht. Er hat ganz recht, wenn sie nicht so fest davon überzeugt wäre, daß sie ihm blindlings vertrauen könne, wäre doch gerade sie heute unter keinen Umständen gekommen. Sie hat zwar in all der Aufregung bis zu diesem Augenblick über den Punkt noch gar nicht nachgedacht, aber daß er sie trotzdem so genau kennt, nimmt sie sehr für ihn ein.

Sie dankt ihm mit einem leisen Händedruck und sagt dann: „Ich vertraue Ihnen.”

Eine kleine Viertelstunde später sind sie in seiner Wohnung. Völlig unbemerkt sind sie hineingelangt und das gibt ihr die Ruhe wieder, denn ein klein wenig hat sie doch gezittert, bevor sie die Schwelle übertrat und auch als sie es jetzt getan hat, beschäftigt sie die Frage: „Was nun?”

Jetzt ist sie in seiner Gewalt, wenn er die mißbrauchen sollte?

Sie schreckt bei dem Gedanken zusammen und als wolle sie sich vor ihm schützen, streckt sie abwehrend ihre beiden Hände ein klein wenig vor, aber ihre Furcht ist grundlos.

Mit der größten Ritterlichkeit ist er ihr behilflich, Hut und Jackett abzulegen. Er hält ihr selbst den großen Handspiegel, vor dem sie sich die Haare ordnet und als sie dann einen Blick auf die Standuhr wirft, sieht sie, daß bereits fünf Minuten vergangen sind, seitdem sie das Zimmer betrat. Da hat auch ihr erster Blick der Uhr gegolten, denn die Stunde, in der man zum erstenmal die Wohnung des Geliebten betrat, muß man sich doch auf die Minute und Sekunde einprägen, das muß man doch behalten bis an sein Lebensende.

Es war 6,57 Uhr. Das wird sie nie vergessen, denn solchen Kleinigkeiten behalten alle Frauen, aber die Hauptsache, wem damals der Besuch galt, das vergessen sie. Hieß er Herbert oder Henry, oder Hermann, das weiß sie später nicht mehr, aber mit dem „H” fing der Name an, wenn sie sich nicht sehr irrt und schließlich, was liegt daran, wie er hieß, die Hauptsache bleibt, sie hat ihn geliebt und liebt ihn auch heute noch.

Fünf Minuten ist Milly jetzt schon mit ihm zusammen, fünf Minuten ganz alleine mit ihm. Die Türen hat er hinter sich geschlossen, damit auch seine Wirtschafterin nicht hereintreten kann, wenn sie nicht gerufen ist, fünf Minuten ist sie schon mit ihm allein, jetzt sind es sogar schon sechs und er hat sie in der ganzen Zeit noch nicht ein einziges Mal geküßt.

Ob er das nachher wohl nachholen wird?

Unwillkürlich denkt sie an das erste Alleinsein mit Max oder wie er sonst hieß, zurück. Wie stürmisch riß der sie damals an sich, er ließ ihr nicht einmal Zeit, den Hut fester zu stecken, damit er bei seinen Umarmungen ihr nicht vom Kopf fiel.

Max hatte eben keine gesellschaftliche Bildung, das sieht sie jetzt plötzlich ein und nun weiß sie auch, warum sie ihn nie geliebt hat. Das also war es, der Mangel an Bildung.

Herbert aber hat gesellschaftliche Bildung und sein Beruf bringt es ja schon mit sich, daß er über tadellose Manieren verfügt.

Und wie hübsch er wohnt und wie vornehm er eingerichtet ist. Natürlich alles eigene Möbel, das sieht sie auf den ersten Blick. Alles schwer und gediegen, kein eitler Tand, wie man ihn nur zu leicht in den Räumen eines Künstlers findet.

„Gefällt es Ihnen bei mir?” erkundigt er sich, als er bemerkt, wie sie sich neugierig umsieht und als sie es bejaht, setzt er hinzu: „Da hoffe ich, daß Sie sich mit der Zeit hier so heimisch fühlen werden, wie ich es mir wünsche.”

Sie wird nun doch wieder ein kleine wenig verlegen, dann meint sie plötzlich, um das Gespräch abzulenken:

„Aber wo haben Sie denn nur Ihren schönen Hund, mit dem muß ich in erster Linie Freundschaft schließen.”

„Der ist im Zimmer nebenan und wenn Sie ihn sehen wollen —”

Er öffnet die Tür und sie treten ein. Dort ist das Eßzimmer, in dem der Tisch schon gedeckt ist. Zwei Kuverts sind aufgelegt, eins für ihn, eins für sie. Hier also wird sie nachher mit ihm zusammen speisen und abermals will eine dumme Unruhe sie überfallen, da entdeckt sie glücklicherweise den großen Bernhardiner, der in einer Ecke auf dem Teppich liegt.

Sie tritt auf ihn zu: „Wie heißt er denn?”

„Barry, und Sie können ihn ruhig streicheln, so viel sie wollen. Für Liebkosungen von schönen Damenhänden ist er sehr empfänglich und wenn Sie seine Liebe gleich von Anfang an gewinnen wollen, hier, geben Sie ihm dieses Stück Zucker.”

Sie tut, wie er sagt und da sie eine große Hundefreundin ist, kniet sie nieder und streichelt und liebkost das schöne Tier, bis er endlich meint: „So, gnädiges Fräulein, nun ist es aber genug, denn sonst fange ich wirklich an, auf Barry eifersüchtig zu werden. Den überhäufen sie mit Zärtlichkeiten und mir selbst haben Sie, solange wir zusammen sind, noch nicht einen einzigen Kuß gegeben.”

„Sie mir doch aber auch nicht,” verteidigt sie sich halb belustigt, halb verlegen, „und wenn überhaupt geküßt werden soll, was ich nebenbei bemerkt für ganz überflüssig halte —”

„Wirklich?” unterbricht er sie, während er mit schelmischen Augen zu ihr aufsieht, dann aber setzt er anscheinend ganz ernsthaft hinzu: „Aber wenn Sie wirklich der Ansicht sind, dann natürlich nicht.”

Die Antwort ist natürlich gar nicht nach ihrem Geschmack und sie bekommt es plötzlich sogar mit der Angst, daß er den ganzen Abend hindurch so förmlich und so zurückhaltend bleibt, wie er jetzt ist. Nur um sich mit ihm zu unterhalten, ist sie doch nicht hergekommen und so sagt sie denn, anscheinend voller Verlegenheit den Blick senkend: „Ich kann Ihnen doch nicht den ersten Kuß geben.”

„Das müssen Sie sogar,” widerspricht er, „denn ich habe Ihnen erklärt, Sie könnten sich mir ruhig anvertrauen und wenn ich dieses Vertrauen nun dadurch täusche, daß ich sie küsse, ohne zu wissen, ob ich das darf —”

Sie brennt nachgeradezu vor Begierde nach diesem ersten Kuß, trotzdem senkt sie schamhaft den Blick. Nicht weil sie sich schämt, dazu liegt ja auch gar keine Veranlassung vor, sondern nur, weil sie über eine Antwort nachdenkt. Sie kann doch nicht einfach sagen: „Sie dürfen.” Das ist auf der einen Seite zu viel, auf der anderen Seite klingt es zu trocken und zu banal, auch zu sehr nach einer alten Jungfer.

Endlich glaubt sie das Richtige gefunden zu haben.

Sie klopft ein wenig ungeduldig mit dem Fuß auf den weichen Teppich, preßt ihre Hände fest ineinander und sagt halb bittend, halb verlegen, halb herausfordernd und halb abwehrend: „Dann küssen Sie mich doch endlich, damit ich Ruhe vor Ihnen habe.”

Und er küßt sie heiß und leidenschaftlich. Zum mindesten eben so stürmisch wie Max oder wie er sonst hieß, aber während sie seine Küsse erwidert, konstatiert sie voller Genugtuung, daß er doch ganz anders küßt als Max. Bei dem war es ein wilder Naturausbruch, hier wird die Leidenschaft in vornehme Bahnen gelenkt und zu der Leidenschaft gesellte sich Kunst und Erfahrung. Er küßt wie ein Gentleman, der auch, wenn er Heißhunger hat, niemals darauf los schlingt, sondern immer die guten Formen und Manieren beibehält.

„Gott, Herbert, wie küßt du himmlisch, da muß man ja verrückt werden.”

„Aber man darf es nicht, man muß trotzdem immer hübsch bei Vernunft bleiben,” ermahnt er sie.

„Leider,” will sie antworten, aber da er das Wort nicht gebraucht, hält auch sie es für besser, es nicht auszusprechen.

Es ist genug, daß sie beide es denken. Sie denkt es wenigstens, ob auch er? Das möchte sie zu gerne wissen, aber sie kann ihn doch nicht darnach fragen.

Barry hat sich in seiner Ecke aufgerichtet und fängt an, ungemütlichen Töne von sich zu geben, so daß Milly ängstlich wird.

„Das hat nichts auf sich,” beruhigt er sie, „das Knurren bedeutet nur, daß er anfängt, eifersüchtig zu werden. Er kann es nun einmal nicht mit ansehen, wenn schöne Damen auch gegen mich liebens­würdig sind. Gehen wir lieber in mein Zimmer zurück.”

Dort bettet er sie auf die große breite Chaiselongue und setzt sich an ihre Seite.

Auf einem Tisch neben dem Kopfende des Lagers stehen Kasten mit Süßigkeiten und Zigaretten: „Was darf ich Ihnen anbieten, gnädiges Fräulein?” erkundigt er sich. „Essen Sie lieber Pralinés oder ziehen Sie eine Zigarette vor, Sie haben nur zu bestimmen?”

Sie entscheidet sich schließlich für beides, sie zündet sich eine Zigarette an und knabbert zwischendurch von den Süßigkeiten.

Warum er nur noch „Sie” zu ihr sagt, jetzt wo sie sich doch schon geküßt haben? Das „Sie” läßt nach Ihrer Ansicht keine rechte Vertraulichkeit aufkommen, Aber auf der anderen Seite gefällt es ihr auch wieder, daß er trotz der Küsse, die sie miteinander tauschten, die strenge gesellschaft­liche Form wahrt und ihr jene Hochachtung beweist, die er einer jungen Dame aus ihren Kreisen schuldig ist.

Ob er ihr wohl bald wieder einen Kuß geben wird?

„Liegen sie auch gut so?” erkundigt er sich, „oder darf ich noch ein Kissen unterschieben?”

Am liebsten würde sie „nein” antworten, denn gerade so liegt sie sehr bequem und behaglich, aber trotzdem sagt sie: „Wenn es Ihnen weiter keine Umstände macht —”

Und sie weiß auch, warum sie es sagt, denn als er ihr jetzt das Kissen unterschiebt und dabei ihren Kopf mit der linken Hand hochhebt, während er sich gleichzeitig über sie beugt, um das Kissen besser zurechtrücken zu können, da kommen ihre Lippen so dicht aneinander, daß sie sich küssen müssen.

Der Kuß kommt ja anscheinend völlig überraschend, so daß sie ganz erschrocken zusammenfährt: „Aber Herbert!” Und doch hat sie, damit er sich die Lippen bei dem Kuß nicht verbrennt, schon gleich als er aufstand, um das Kissen zu holen, die Zigarette beiseite gelegt.

Endlich wehrt sie ihm ab: „So, nun ist es für den Augenblick aber wirklich genug, ich bekomme ja keine Luft mehr. Der Abend ist noch lang, seien Sie nun endlich wieder verständig.”

Das ist er denn auch. Er setzt sich wieder an ihre Seite und sie ordnet sich im Liegen ihre Haare und streicht den Rock wieder glatt, der sich doch etwas verschoben hat, als sie sich unter seinen heißen Küssen streckte und dehnte.

Und als sie den Rock geordnet hat, ist es natürlich nur ein Zufall, daß ihre Füße, die er so liebt, ganz deutlich zu sehen sind.

Wie liebkosend streichen seine Hände plötzlich über das glänzende Lack ihrer Stiefel, sie umklammern die schlanken Knöchel und leise und zärtlich gleiten seine Finger über den Ansatz der schlanken Beine.

Milly hat die Augen geschlossen und liegt still da, teils in seliger Verzückung, teils weil sie überlegt, ob sie es merken soll oder nicht, was Herbert da macht. Sie fürchtet prüde und albern zu erscheinen, wenn Sie die Entrüstete spielt, aber sie darf es doch auch nicht zugeben, daß er zu keck wird.

Aber die Gefahr ist schon wieder beseitigt, er ist wieder ganz brav und dreht sich mit beiden Händen eine neue Zigarette.

Sie ist mehr als glücklich, hier so bei ihm zu sein und gerade das Geheimnisvolle ihres Besuches reizt und prickelt sie.

Allmählich beginnen sie über tausend gleichgültige Dinge zu plaudern, aber das fängt bald an, sie zu langweilen, denn deshalb ist sie doch nicht hier. Sie will Näheres über ihn und sein Leben erfahren, über die Frauen, die er schon liebte und küßte und so sagt sie denn, als er sie nun fragt, warum sie plötzlich so still und nachdenklich geworden wäre: „Herbert, ich möchte nur wissen, wie viele schon vor mir auf dieser Chaiselongue gelegen haben?”

„Sie sind die erste, Milly, ich schwöre es Ihnen.”

Ist sie wirklich seine erste Liebe? Sollte alles, was man über ihn erzählt, gelogen sein? Sie die erste?

Sie richtet sich halb auf und sieht ihn mit glückstrahlenden Augen an: „Ist das wirklich wahr?”

„Ich gab Ihnen mein Wort, gnädiges Fräulein, da müssen Sie es doch glauben und außerdem kann ich die Wahrheit meiner Behauptungen beweisen. Die Quittung liegt dort drüben auf dem Schreibtisch, ich habe mir die Chaiselongue erst heute morgen gekauft, extra für Sie, denn Sie sollten nicht auf einem Diwan liegen, auf dem schon andere —”

Sie lacht hell und belustigt auf: „Also deshalb nur die erste, nur deshalb?” Aber sie ist doch von seiner Rücksichtnahme gerührt, das ist ihr der beste Beweis dafür, daß er sie himmelhoch stellt über all die anderen, die ihn früher besuchten.

Auf den Gedanken, daß er sich nur deshalb eine neue Chaiselongue kaufen mußte, weil die alte in gegebener Veranlassung vor einigen Tagen zusammenbrach, kommt sie natürlich gar nicht, denn selbst die Schlaueste läßt sich täuschen, sobald die Worte ihrer Eitelkeit schmeicheln.

Wie rücksichtsvoll er ist! Und da sie sich nun doch schon einmal halb aufgerichtet hat, richtet sie sich noch höher auf und schlingt die Arme um seinen Hals: „Ach, Herbert, du weißt ja gar nicht, wie lieb ich dich habe, du mein Glück, du mein alles.”

Und von diesem Geständnis an bleibt es auf beiden Seiten bei dem „Du”

„Nicht wahr, Herbert, das ,Sie' klingt so kalt, so fremd und wir sind einander nun doch nicht mehr fremd, wir haben doch keine Geheimnisse mehr voreinander, nicht wahr, Herbert, jetzt erzählst du mir auch alles?”

„Da müßte ich doch Tinte getrunken haben,” denkt er im stillen, aber davon ahnt sie natürlich nichts, um so mehr als er nun zu ihr sagt: „Was sollte ich dir wohl verheimlichen, mein Lieb, frage nur, ich sage dir alles.”

Und sie fragt, sie möchte gerne alles wissen, wie er lebt und ob er oft Damenbesuch bekommt und was das für Damen sind, wirkliche Damen der Gesellschaft oder andere — „Na, Herbert, du weißt schon, was ich für Damen meine und bist du gegen alle so rücksichtsvoll, so zurückhaltend und aufmerksam, wie gegen mich oder kannst du auch ganz wild und unartig sein?”

„Wenn es verlangt wird, auch das,” gibt er ausweichend zur Antwort, „aber auch nur dann.”

Ihre Phantasie ist erhitzt, sie nimmt seinen Kopf zwischen beide Hände, zieht ihn zu sich herunter und beißt ihn dann in das Ohr: „Ach du, aufessen möchte ich dich vor Liebe.”

„Nee, lieber nicht,” wehrte er ab, „denn dann wäre unser erstes Beisammensein doch zugleich auch das letzte und das wollen wir doch nicht,” und übermütig setzte er hinzu: „Wo ich doch extra diesen Diwan für dich gekauft habe.”

Sie hält es plötzlich auf dem Lager nicht mehr aus, die weichen Kissen, die schwellende Unterlage, seine Nähe, seine Hände, die sie fortwährend liebkosen und streicheln, — ihr ist zum Ersticken heiß: „Laß mich, Herbert, ich muß einen Augenblick auf und ab gehen, ich bekomme Kopfschmerzen von dem langen Liegen.”

Auch er fährt sich mit der Hand über die Stirn: „Ja, du hast recht, man bekommt Kopfschmerzen. Wie ist es, wollen wir ein Glas kalten Sekt trinken? Er wird nebenan schon bereitstehen, es ist ohnehin gleich Zeit zum Essen.”

Sie stimmt ihm lebhaft bei. Er holt den Champagner, aber anstatt die aufgeregten Gemüter zu besänftigen, erhitzt der sie nur von neuem.

Zehn Minuten später gehen sie zu Tisch, auch da wird sie niemand stören. Die Haushälterin hat alles aufgetragen, sie brauchen nur zuzulangen.

Auch jetzt ist Herbert von rührender Aufmerksamkeit, er legt ihr alles vor und sorgt unermüdlich für sie, bis sie dann plötzlich ruft: „Nein, Herbert, laß das, ich werde dir auflegen und deinen Teller zurechtmachen. Das ist doch meine Pflicht und es macht mir auch solches Vergnügen, hier die Hausfrau, deine kleine Frau, spielen zu dürfen.” Und seine Hand ergreifend und sie zärtlich drückend, fragt sie mit verliebtem Augenaufschlag: „Bin ich deine kleine Frau, Herbert, und bist du mein über alles geliebter Mann?” Und ohne seine Antwort abzuwarten, setzt sie mit einem ganz schweren Seufzer schnell hinzu: „Ach, Herbert, warum können wir nicht wirklich miteinander verheiratet sein, das wäre zu schön, das wäre überhaupt gar nicht auszudenken.”

In Wahrheit hat sie natürlich nicht eine Sekunde den Wunsch, mit ihm verheiratet zu sein und wenn er sie jetzt um ihre Hand bäte, würde sie ihm den schönsten aller Körbe geben. Sie würde ihn auch schon deshalb niemals heiraten, weil sie es viel interessanter und vor allen Dingen viel pikanter findet, wenn natürlich auch in allen Ehren, seine kleine Freundin als seine Frau zu sein.

In der Ehe ist alles erlaubt, — einen Genuß, einen Reiz aber bietet nur das Verbotene.

Leise berührt ihr Fuß unter dem Tisch den seinen und im Zusammenhang damit fragt sie: „Sag mal, Herbert, hast du mich eigentlich nur deshalb kennen lernen wollen, weil ich so gut chaussiert bin?” Sie weiß selbst nicht, welche Antwort ihr die liebste wäre. Sagt er „ja”, dann wäre das eigentlich eine Beleidigung ihrer ganzen übrigen Persönlichkeit, sagt er aber „nein”, dann würde auch das sie in ihrer Eitelkeit verletzen, denn gerade auf ihre Füße ist sie stolzer als auf irgend etwas anderes.

„Das ist natürlich Unsinn,” erwidert er, „aber ich liebe nun einmal an einer Dame in erster Linie den Fuß, wie ein anderer die Haare, üppige Formen oder sonst etwas. Ich könnte mir sogar denken, daß ich mich in eine ganz häßliche Frau verliebte, wenn sie nur hübsche Füße hat. Deine aber sind auffallend hübsch und wenn du mich wirklich ein klein wenig lieb hast, dann zeigst du sie mir nochmals, nachher, wenn du wieder auf der Chaiselongue liegst.”

Das tut sie denn auch und nur damit er ihre Füße noch besser bewundern kann, zieht sie den Rock ein ganz klein wenig in die Höhe, nur deshalb und nur so viel, daß er auch den schwarzen seidenen durchbrochenen Strumpf sehen kann. Aber sie muß den Rock doch etwas höher gehoben haben, als sie wollte, oder er hat es getan, ohne daß sie etwa davon merkte — plötzlich fühlt sie einen heißen leidenschaftlichen Kuß auf dem bloßen Knie.

Dorthin hat sie noch nie einer geküßt — Gott, ist das schön, das ist einfach himmlisch.

Dann aber besinnt sie sich darauf, daß er sie dort doch eigentlich nicht küssen dürfe, aber allzuviel wird er sich daraus doch wohl nicht machen, so hat die Ermahnung, vernünftig zu sein, ja noch Zeit.

So duldet sie denn auch den zweiten Kuß, dann aber ist es nach ihrer Meinung genug. Es wird ihr ja nicht leicht, dieser Meinung zu werden, aber sie muß es tun, sie ist doch eine junge Dame.

Aber böse werden kann sie ihm jetzt auch noch nicht, dazu war der Kuß zu süß. So lacht sie denn nur übermütig auf, während sie ihm einen leichten Schlag auf die Hände gibt, dann sagt sie: „Herbert, täuschst du so das Vertrauen, das ich in dich setzte? Schäme dich.”

Der macht ein ganz reuevolles Gesicht: „Ich schäme mich ja auch, aber ich bitte bei der Beurteilung meiner Keckheit um mildernde Umstände. Ich glaube, selbst ein Gott wäre an meiner Stelle der Versuchung unterlegen, geschweige jeder andere Mensch, denn so bezaubernd, wie du gewachsen bist, — einmal muß ich dich noch küssen, nur noch einmal, aller guten Dinge sind drei.”

Aber bei ihm sind drei „fünf” und da muß er natürlich das halbe Dutzend voll machen.

Sie schließt die Augen und lächelt glückselig vor sich hin, dann aber wehrt sie seine weiteren Liebkosungen ab: „So, nun ist es aber wirklich genug, wenigstens für heute, ich komme ja morgen wieder.”

Und im stillen beschließt sie, morgen, wenn sie wieder zu ihm kommt, die ganz hohen hellgelben Schnürstiefel anzuziehen und dazu die hellgelben Strümpfe, die machen womöglich noch schönere Formen als die schwarzen.

Auf das Knie darf er sie nicht mehr küssen, so küßt er sie auf den Mund und mit Kosen und Küssen vergeht die Zeit, bis die Trennungsstunde schlägt.

Im Augenblick des Abschieds kommt ihr ein Bedenken: „Ob man es zu Hause aber auch nicht riechen wird, daß ich so viel Zigaretten geraucht habe?”

Einen Augenblick zögert er noch: „Wenn ich dich in mein Schafzimmer führen darf, du findest dort Pillen, die den Geruch sofort nehmen, auch Parfüm und alles, was du sonst brauchst.”

Sein Schlafzimmer! Den ganzen Abend hat sie daran gedacht, ihn mehr als einmal bitten wollen, es ihr zu zeigen, aber da er nicht davon sprach, durfte sie als junge Dame es natürlich erst recht nicht. Nun ist sie mehr als glücklich, daß sie es jetzt doch noch zu sehen bekommt. Voller Neugierde und doch mit einem gewissen Gefühl der Beklemmung betritt sie das große, sehr schöne und sehr luftige Gemach. Auch hier ist alles in vornehmem Stil eingerichtet. In der Mitte ein großes breites Bett, zu beiden Seiten große bequeme Korbsessel, zu den Füßen des Bettes eine breite Chaiselongue, davor ein großer Teppich. An den Wänden wirklich gute Bilder, Kopien alter Meister, die fast ausschließlich ein Liebesmotiv behandeln.

Gar zu gerne möchte sie sich die ganz in der Nähe ansehen. Zwar kennt sie die Sachen schon aus der Galerie her, aber die scheinen ihr hier in dieser Umgebung, wo jedes einzelne Bild mehr zur Geltung kommt, ganz anders, viel pikanter zu wirken. Davon möchte sie sich gerne genauer überzeugen, aber gleich heute, bei dem ersten Besuch? Nein, da muß sie so tun, als hätte sie die Bilder gar nicht bemerkt, oder als hätte sie für die gar kein Interesse, bis er sie dann selbst auf einen alten Stich aufmerksam macht, der eine Venus in ihrer ganzen nackten Schönheit zeigt, während der Gott der Liebe sich über sie beugt, um sie zu küssen. Ein durchaus dezentes, absolut künstlerisches und in keiner Weise anstößiges Bild, aber sie liest viel mehr aus dem heraus, als der Künstler hineingelegt hat. Die Nähe des Geliebten, der Raum, in dem sie sich befinden, tragen dazu bei und suchend tastet ihre Rechte nach seiner Hand, die sie mit starkem Drucke preßt.

„Ist das nicht schön?” fragt er und im Zusammenhang damit beginnt er ihr seine Ansichten über den hohen sittlichen Wert der Kunst, insbesondere den der Malerei zu entwickeln.

Aber sie hört nicht auf seine Worte, sondern unterbricht ihn mit einem: „Ja, du hast recht, es ist schön,” und gleich darauf bittet sie: „Küß mich noch einmal, aber ganz heiß und ganz wild.”

Und in seinen Armen verlebt sie noch eine Minute der seligsten Verzückung.

Dann aber muß sie wirklich an den Aufbruch denken. Sie tritt an den Toilettentisch, der mit tausend Scheren, Messern, Feilen, silbernen Dosen und anderen Dingen ausgestattet ist, als gehöre er einer Dame, macht sich dort zurecht und nimmt dann Abschied, aber nicht ohne vorher für den morgigen Tag eine Verabredung mit ihm zu treffen. Morgen hat er zu spielen, er muß um sieben im Theater sein, aber zwischen vier und sechs ist er für sie zu Hause, die Etagentür wird angelehnt sein, sie braucht gar nicht erst zu klingeln, er wird sie erwarten.

Als sie zu Hause bei den Eltern ankommt, ist sie müde und abgespannt. Daß das Küssen so müde machen könne, hat sie bisher noch gar nicht für möglich gehalten, aber was hat sie auch bisher vom Küssen gewußt?

Sie hat wirklich Kopfschmerzen, vielleicht sind auch die vielen Zigaretten und die verschiedenen Gläser Champagner mit daran schuld.

So sehr sie aich auch bemüht, es zu verbergen, wie abgespannt sie ist, ganz gelingt es ihr doch nicht, aber sie hat dafür eine sehr plausible Erklärung: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie entsetzlich langweilig und nerventötend es war. Wenn solche Feste nachher erst im Gange sind, wenn die Proben beginnen oder später die Aufführung selbst stattfindet, das ist ja sehr lustig und amüsant, aber diese Vorbesprechungen, einfach entsetzlich. So viel Köpfe, so viel Meinungen. Jede will etwas anderes und wenn man sich schließlich dann doch einig geworden ist, dann kommen nach fünf Minuten von irgendeiner Seite wieder neue Bedenken und neue Vorschläge. Na, so viel weiß ich, wenn ich Olga nicht fest versprochen hätte, mitzumachen, ich hätte die größte Lust, jetzt noch abzusagen.”

„Tu es doch, mein Kind,” redet die Mutter, „du siehst wirklich ganz elend aus und so etwas soll doch ein Vergnügen und keine Strapaze sein.”

Und auch der Vater knurrt vor sich hin: „Na, das weiß ich, ehe ich solchen Firlefanz mitmachte, lieber stürbe ich und wie sich selbst Herren für derartige Veranstaltungen einfangen lassen können, ist mir immer ein Rätsel gewesen.”

„Recht habt ihr ja,” stimmt Milly den Eltern bei. „Und wie gesagt, ich werde es mir auch noch sehr überlegen, ob ich weiter mitmache. Morgen nachmittag um vier ist eine neue Besprechung, an der nehme ich noch teil, aber wenn wir dann nicht weiter kommen als heute, dann trete ich zurück.”

„Ich kann dir da nur zureden,” meint die Mutter, „nun aber wollen wir schlafen gehen, du bist ohnehin später gekommen als ich dachte.”

Milly macht ein ganz erschrockenes Gesicht und dieses Mal ist es keine Verstellung, denn Pünktlichkeit ist die Hauptsache, wenn man keinen Verdacht erregen will. „Wirklich?” sagt sie, „das tut mir aufrichtig leid, daß ich euch habe warten lassen, in Zukunft soll es natürlich nicht wieder vorkommen und morgen bin ich schon vor dem Abendessen zurück, das habe ich Olga heute gleich erklärt.”

Wenig später gehen alle zu Bett, aber Milly liegt noch lange wach, sie gibt sich auch gar nicht die Mühe, gleich einzuschlafen, es ist so himmlisch, noch wachzuliegen und in Gedanken die schönen Stunden des heutigen Abends noch einmal zu verleben.

Gott, wie sie Herbert liebt, das ist gar nicht zu sagen, er ist aber auch einfach einzig.

Und wie süß frech er ist — sie so einfach, ohne sie erst zu fragen, auf das Knie zu küssen. Eigentlich toll! Aber die Kühnheit war so dezent, sogar beinahe bescheiden, so ganz frei von jeder Frivolität, daß sie auch jetzt bei dem besten Willen nicht böse sein kann. Und wie vornehm und ritterlich hat er sich nicht gegen sie benommen, nicht eine Sekunde vergessen, wer sie ist. Mit keinem Wort, mit keinem Blick ist er ihr zu nahe getreten, hat nichts gesagt und nichts getan, was es sie hätte bereuen lassen, seiner Einladung gefolgt zu sein.

Ob er wohl immer so zurückhaltend bkeiben oder ob er mit der Zeit, wenn sie sich erst noch besser kennen, nicht vielleicht doch noch ein klein wenig vertraulicher und zärtlicher wird? Aber selbstverständlich nur ein ganz kleines bißchen.

Und wenn sie sich erst noch näher kennen, dann muß er ihr auch viel genauer von seinen sonstigen Damen­bekanntschaften erzählen. Sie hat natürlich genau gemerkt, daß er ihr heute mit seinen Antworten auswich, aber am ersten Tage durfte sie ja auch nicht gleich zu neugierig und zu indiskret sein.

Ach, es war zu schön und wie schön wird es nun erst morgen und an all den anderen kommenden Tagen werden. Ach, sie ist ja so namenlos glücklich und fortwährend spricht sie halblaut vor sich hin: „Mein Herbert, mein über alles geliebter Herbert.”

Und in Gedanken küßt sie ihn ganz heiß und ganz wild.

Natürlich muß sie ein Bild von ihm haben und sie begreift sich selbst nicht, daß sie ihn nicht schon heute darum bat. Morgen muß er ihr eins schenken, selbstverständlich mit einer hübschen Wdmung: „Meiner einzig geliebten” oder so ähnlich,

Das wird sie des Abends, wenn sie den Eltern gute Nacht gesagt und ihr Zimmer aufgesucht hat, aus dem Versteck herausholen und neben ihr Bett auf den Nachttisch stellen. Da hat sie es dann stets zur Hand und kann es küssen, so oft sie will und sie wird es oft wollen.

Und natürlich wird sie ihm morgen auch ihre Photographie mitbringen, danit er sie in den Stunden nicht vergißt, in denen sie nicht bei ihm sein kann. Aber muß ihr schwören, daß er das Bild nicht offen hinstellt, denn wenn es jemand bei ihm sieht, das wäre entsetzlich.

Für einen Augenblick regt sich in ihr das schlechte Gewissen. Ein großes Unrecht ist es ja, daß sie bei ihm war und morgen und übermorgen und überhaupt, so oft er Zeit für sie hat, wieder zu ihm gehen wird. Das ist sogar ein ganz großes Unrecht und je länger sie darüber nachdenkt, desto größer erscheint es ihr. Sie erstickt schließlich fast unter der Größe der Schuld, die sie begangen hat und weiter begehen wird.

Mit diesem Erstickungstod, den sie natürlich nur in ihrer Phantasie erleidet und bei dem sie nicht im entferntesten an das Sterben denkt, büßt sie nach ihrer Überzeugung die Sünde, die sie heute beging und die sie in Zukunft begehen wird, mehr als genug.

Aus den Gedanken, morgen nicht wieder zu ihm zu gehen und dadurch das Unrecht wieder gutzumachen, kommt sie gar nicht. Dazu hat sie ihn viel zu lieb, sie würde sterben, wenn sie ihn nicht wiedersehen sollte.

Er und er und überhaupt nur er! Etwas anderes gibt es nicht mehr für sie auf der Welt.

Endlich fühlt sie, daß sie müde wird und so schließt sie die Augen, aber plötzlich lacht sie im Einschlafen vor sich hin und sagt dabei: „Aber Herbert, nicht doch, das kitzelt ja so auf dem Knie.”

Aber der Kuß auf dem Knie kitzelt nur deshalb, weil sie, schon halb träumend, Herbert den Bart von Max gibt. Der schöne Schnurrbart war allenfalls das einzige, was sie an Max liebte. An Herbert liebt sie, daß er keinen Bart hat, hätte er einen, dann liebte sie es natürlich erst recht.

Noch einmal lacht sie im Einschlafen glückselig vor sich hin, dann nimmt der Traumgott sie in seine Arme und führt sie zurück zu der Stätte, die sie am Abend sah und die sie morgen wiedersehen wird.

Als sie am nächsten Tag nach Haus zurückkehrt, ist es mit der Pünktlichkeit, die sie gestern gelobte, nicht allzu weit her. Anstatt um halb acht, kommt sie erst kurz vor halb neun. Infolge der Erkrankung eines Schauspielers mußte der Spielplan geändert werden und es wurde ein Stück angesetzt, in dem Herbert erst im dritten Akt zu tun hatte. So war es früh genug, wenn er um neun Uhr im Theater war.

Sie kommt zu spät, aber daß sie trotzdem die feste Absicht hatte, pünktlich zu sein, geht ja am besten daraus hervor, daß sie allen Bitten Olgas gegenüber, doch auch heute bei ihr zum Abendessen zu bleiben, taub blieb.

Gewiß, es hat länger gedauert, als sie gestern annahm, aber dafür war es auch reizend gewesen. Über Nacht schien den meisten Damen die Erkenntnis gekommen zu sein, daß nur dann etwas aus dem Fest werden könne, wenn nicht jede hartnäckig auf ihrer Meinung bestand. So war man denn heute ein ganz großes Stück weitergekommen und wenn das so weiterginge, versprach das Fest einen großartigen Verlauf zu nehmen.

Ebenso müde und abgespannt wie gestern, ebenso lustig und ausgelassen ist sie heute. Herbert war einfach goldig und so viel Interessantes hat er ihr aus seinem Leben und von seiner Tätigkeit erzählt, obgleich er sonst nie von seinem Beruf spricht. „Ganz offen gesagt, Milly, mit dem nehme ich es verdammt ernst und der ist mir zu hoch und zu heilig, als daß ich ihn nachmittags bei dem Five o'clock tea jungen Damen als Belag auf die Sandwiches lege.”

Aber mit ihr hat er dann doch darüber gesprochen, wenn auch nicht gerade über die hohen Aufgaben seines Berufes, so doch über das Leben und Treiben hinter den Kulissen, über den Neid und die Mißgunst der Kollegen und zwischendurch hat er einige pikante Anekdoten eingestreut.

Und ebenso wie sie hat auch er gefunden, daß die hellgelben Strümpfe eigentlich noch viel hübschere Formen machen, als die schwarzen von gestern, und er hat ihr erklärt, er begriffe überhaupt nicht, daß sie nicht zum Theater ginge, mit der Figur und der Erscheinung wäre ihr jeder Erfolg sicher, sie brauche sogar nicht einmal im Trikot zu erscheinen.

Natürlich war der Vorschlag nur ein Scherz von ihm, sie hat ihn auch gleich als solchen aufgefaßt, aber seine Schmeichelei und das Kompliment, das er ihr damit machte, doch dankbarst empfunden.

Und weil er so reizend lieb und nett mit ihr war, hat er sie auch heute auf das andere Knie küssen dürfen.

Morgen nachmittag sieht sie ihn wieder und ihre Liebe wächst, je öfter sie ihn sieht. Bei Tage küßt sie ihn selbst, des Abends, wenn sie im Bett liegt, küßt sie sein Bild, und er wird ihr bald ein neues Bild schenken müssen, so zerküßt ist es schon.

Bis dann eines Tages das Ende komt.

Der Verabredung gemäß erscheint sie pünktlich auf die Minute bei ihm, aber der Empfang ist weniger stürmisch wie sonst, und sie merkt ihm sofort an, daß irgend etwas Wichtiges ihn beschäftigt.

Nach einigen flüchtigen Worten der Begrüßung läßt er sich schwer in einen Sessel fallen, sie selbst kniet vor ihm nieder und blickt ängstlich und fragend zu ihm auf: „Was ist dir denn nur, mein Herbert?”

Er beugt sich über sie und küßt sie auf den Mund. Dann sagt er: „Bitte, steh auf und setze dich mir dort gegenüber, ich muß einmal ernsthaft mit dir sprechen.”

Sie gehorcht, aber wöhrend sie zu dem Sessel hinübergeht, bleibt sie plötzlich wie erstarrt stehen — auch ohne daß er spricht, weiß sie mit einemmal, was er ihr sagen will.

Einen Augenblick steht sie noch unbeweglich, dann schreit sie auf und stürzt sich ihm zu Füßen: „Herbert, schick mich nicht fort, ich kann ohne dich nicht leben.”

„Mach es mir nicht zu schwer,” bittet er, dann hebt er sie mit starken Armen auf und trägt sie zu dem Sessel hinüber. Für eine Sekunde denkt er daran, sie wie sonst auf die Chaiselongue zu betten und sich an ihre Seite zu setzen. Aber er fürchtet, daß er dann die letzte Herrschaft über sich verliert und das darf nicht sein, das ist er seiner Ehre schuldig, seiner und der ihrigen.

„Höre mich ruhig an, Milly,” beginnt er endlich. „Du hast erraten, was ich dir sagen wollte und was ich dir sagen muß. Wir dürfen uns nicht wiedersehen, denn nur dadurch kann ich meine Schuld sühnen, die darin besteht, daß ich den Wunsch äußerte, dich kennenzulernen. Das war sehr unrecht von mir, denn als der Ältere von uns beiden hätte ich mir gleich von Anfang an sagen müssen, daß das nie gut gehen könne. Aber du warst und du bist so hübsch, Milly, so hübsch und verführerisch, und da unterlag ich der Versuchung, denn in meinen Adern rollt heißes Blut. Aber trotzdem habe ich mir eingebildet, es würde mir genügen, dich nur küssen und liebkosen zu dürfen. Aber je öfter ich dich sah, je verführerischer du mir jedesmal erschienst, desto stürmischer und leidenschaftlicher sind andere Wünsche in mir wach geworden, der Wunsch, dich ganz zu besitzen, die wilde Sehnsucht, daß du mir einmal angehören möchtest, mit allem, was du bist, mit allem, was du hast. Ich weiß, auch deine Natur verlangt danach und wenn ich dich darum bäte, du würdest dich mir nicht versagen.”

Da irrt er sich gewaltig, das weiß sie selbst am allerbesten. Sie hat natürlich schon oft darüber nachgedacht, wie sie sich verhalten solle, wenn er auch das letzte von ihr verlangte. Nie würde sie seine Bitte erfüllen, niemals, so sehr sie ihn auch liebt, aber über der Liebe darf sie die Klugheit nicht vergessen.

Das kann sie natürlich nicht sagen, das würde ihn mit vollstem Recht in seiner Eitelkeit verletzen, seiner Liebe zu ihr den Todesstoß geben. Vor allen Dingen aber würde das ihm die Gewißheit geben, daß ihre Liebe zu ihm doch nicht schrankenlos ist. Sie muß ihm sogar gestehen, daß er recht hat mit seiner Vermutung, und sie kann das um so eher, als aus seinen Worten klar und deutlich hervorgeht, daß sie bei seiner Ehrenhaftigkeit nichts von ihm zu befürchten hat. Dazu kommt, daß die Vorstellung an das, was er sich von ihr ersehnt, sie in einem Wonneschauer zusammenzucken läßt und so sagt sie denn mit heißer, leidenschaftlicher Stimme: „Herbert, nimm mich hin, mach mit mir, was du willst, ich bin dein. ”

An ihr ist wirklich eine Schauspielerin verloren gegangen, auch ohne in Trikot zu erscheinen, würde sie überall Erfolge erzielen.

Er atmet schwer auf und fährt sich mit der Rechten an den Hals, ihm ist, als wäre der Kragen plötzlich zu eng, als nähme der ihm die Luft. Dann sagt er: „Deine Worte beweisen mir ja am besten, wie recht ich habe, aber ich will diese Schuld nicht auf mich laden, denn ich bilde mir ein, ein anständiger Mensch zu sein und ich würde jede Achtung vor mir verlieren, wenn ich die Sinne über die Vernunft den Sieg davontragen ließe. Ich habe dich über alles lieb. Ich habe dich liebgewonnen mit meinem ganzen Herzen und gerade deshalb will ich dich nicht unglücklich machen.”

An der Wahrheit seiner Worte, daran, daß er sie wirklich liebt, kann sie nicht mehr zweifeln, denn plötzlich bricht er förmlich zusammen, er stürzt vor ihr auf die Knie, er vergräbt seinen Kopf in ihren Schoß und sein ganzer Körper zuckt und bebt. Kein Wort der Klage kommt über seine Lippen, keine Tränen netzen ihre Hände, aber um so herzzerreißender ist sein Weinen.

Auch sie vergießt keine Träne, dazu ist der Schmerz vorläufig noch viel zu groß, aber jeder Blutstropfen ist aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Augen liegen tief in den Höhlen. wie leblos sitzt sie da.

Bis sie dann fast mechanisch beginnt, seinen Kopf, der immer noch auf ihrem Schoße ruht, zu streicheln und bis sie dann schließlich, nur um überhaupt etwas zu sprechen, zu ihm sagt: „Aber Herbert, es ist doch bisher auch ohne das gegangen und warum soll nun plötzlich —”

Da springt er auf. Das Leben ist in ihn zurückgekehrt, seine Augen glühen und funkeln in wilder Leidenschaft und mit einer vor Erregung heiseren Stimme ruft er: „Ja, es ist bisher ohne das gegangen, aber jetzt will ich es dir sagen, warum. Weil ich des Abends, wenn du mich verlassen hattest, wenn meine Sinne durch deine Nähe bis zum Wahnsinn erhitzt waren, weil ich dann in den Armen anderer Mädchen und Frauen das suchte und fand, was ich bei dir begehrte, was du mir nicht geben konntest und nicht geben darfst. Und wen ich dann auch immer in meinen Armen hielt, was lag daran, für mich warst du es immer, nur dein Gesicht, nur deinen Körper, nur deine Reize sah ich vor mir. Der Ekel hat mich dann hinterher stets gepackt, daß ich diesen Frauen deine Gestalt, dein süßes Gesicht gab und ich habe mich geschämt vor mir selbst und vor dir, denn es war doch jedesmal eine tödliche Beleidigung, die ich dir damit zufügte.”

Das sieht sie absolut nicht ein, wenigstens nicht im Augenblick, denn seine Worte haben ihre Gedanken erhitzt. Aber sie schmeicheln auch ihrer Eitelkeit. Wie lieb muß er sie haben und wie begehrenswert muß er sie finden, daß er bei einer jeden nur ihr Gesicht, nur ihren Körper sah, den er doch gar nicht kennt, den er sich doch nur in seiner Phantasie ausgemalt hat.

Es herrscht ein langes, heißes Schweigen, ihnen beiden ist, als wäre der ganze Raum mit Sinnlichkeit erfüllt.

Gar zu gerne möchte sie noch allerlei fragen, ohne selbst zu wissen, was. So hängt sie ihren Gedanken nach und sich in den Sessel weit zurücklehnend, streckt sie ihren geschmeidigen Körper und ein halb unterdrückter Ruf der Wollust kommt über ihre Lippen.

Er fährt zusammen, und sie sieht, wie er sich beherrschen muß, um nicht auf sie zuzustürzen, um sie nicht in seine Arme zu nehmen. Dann trocknet er sich mit dem Tuch die heiße Stirn und sich zu ihr wendend, sagt er mit fast tonloser, aber doch fester und energischer Stimme: „Wir müssen uns jetzt trennen, Milly, jetzt gleich auf der Stelle.”

Aber das ist absolut nicht nach ihrem Sinn, sie hat noch anderthalb Stunden Zeit, unter Umständen sogar noch eine Viertelstunde länger, warum wollen sie da das letzte Zusammensein nicht bis auf die letzte Minute auskosten? Das sagt sie ihm auch, aber er bleibt bei seinen Worten, und in seiner Stimme und in dem leidenschaftlichen Blick seiner Augen liegt etwas, das ihr jetzt doch Furcht einflößt, als er nun sagt: „Wir müssen uns gleich trennen, Milly. Vielleicht ist es nur Einbildung, aber du erscheinst mir heute noch schöner und begehreswerter als je. Ich bin auch nur ein Mensch, ich will nicht unterliegen, ich will nicht, aber selbst stärkere Naturen als ich sind doch schließlich schwach geworden. Und darum — gehe, Milly, geh!”

Vor Erregung hat seine Stimme einen hohen schrillen Klang angenommen und in ihrer Angst greift sie schnell nach dem Hut und dem Jackett.

Bis ihr dann doch wieder einfällt, daß sie nichts von ihm zu fürchten braucht. Er ist ein Ehrenmann und will es bleiben und ohne ihren Willen muß er es ja auch.

Und sie will ja auch nicht.

So ist sie denn ganz wieder die Herrin der Situation und ihn kokett und verführerisch zugleich anlächelnd, sagt sie: „Aber einen Kuß wirst du mir doch noch zum Abschied geben, Herbert, nur noch einen, den letzten, wenn du willst, auch auf das Knie.”

Ein heiserer Schrei entringt sich seiner Brust, dann stürzt er auf sie zu und packt mit festem Griff ihre beiden Hände: „Weib, willst du mich denn ganz verrückt machen, willst du es denn mit aller Gewalt dahin bringen, daß ich zum Schurken werde? Geh, sag ich dir, geh!”

Sie hat das Jackett angezogen, den Hut aufgesetzt und wendet sich zur Tür. Aber auf der Schwelle bleibt sie noch einmal stehen und sieht verführerisch zu ihm hinüber, es reizt sie, ihn noch mehr zu quälen und zu peinigen, seine Leidenschaften immer noch mehr zu entflammen. Und so sagt sie denn mit girrender Stimme: „Du läßt mich also wirklich so gehen, nicht einen einzigen Kuß mehr hast du für mich und auch ich darf dich nicht noch einmal küssen?”

Von neuem stürzt er auf sie zu, aber mitten auf dem Weg bleibt er stehen und umklammert mit beiden Händen die Lehne eines Stuhles, als wolle er die durchbrechen. Dann stöhnt er abermals schwer auf, ein gellender Schrei kommt über seine Lippen und gleich darauf schleudert er den Stuhl beiseite. Er stürzt vorwärts, er hat die Herrschaft über sich selbst verloren, das Tier in ihm tötet den Menschen, die Leidenschaft alle Vernunft. Sie sieht es mit stolzer Genugtuung, aber auch voller Grausen. Eine wahnsinnige Angst überfällt sie und im letzten Augenblick, kurz bevor seine Hände sie erreichen, flieht sie von dannen.

Sie wirft die Tür hinter sich ins Schloß und hört noch sein lautes „Gott sei Dank”, mit dem er sich dem Himmel dankbar zeigt, daß er doch noch ein Ehrenmann hat bleiben können. Dann eilt sie davon. Sie weiß selbst nicht wohin, ziel- und planlos irrt sie durch die Straßen und läßt sich den kühlen Wind um die heiße Stirm wehen.

Vorläufig gilt es, die aufgepeitschten Sinne zu beruhigen, dann erst kann sie versuchen, sich darüber klar zu werden, was es für sie heißt, daß sie Herbert nun nicht wiedersehen soll.

Als sie endlich zu Hause ankommt, ist sie wie zerschlagen. Sie schützt rasende Kopfschmerzen vor, um gleich zu Bett gehen zu können: „Ich weiß selbst nicht, was mit mir ist,” sagt sie zu der besorgten Mutter, „aber du brauchst dich gar nicht zu ängstigen, dazu liegt keine Veranlassung vor, morgen ist alles wieder gut. Ich habe mich nur heute nachmittag zu rasend geärgert. Das Bild, in dem ich mitwirken soll, ist nun wieder geändert und auch sonst ist das meiste wieder über den Haufen geworfen worden. Na, ich mache auf jeden Fall nicht weiter mehr mit, das habe ich Olga auch selbst auf die Gefahr hin erklärt, daß sie mir deswegen ernstlich böse wird. Aber seine Zeit zu vertrödeln, hat doch keinen Zweck, da bleibe ich lieber fortan des Nachmittags über bei dir. Nun aber lasse mich bitte allein, ich will versuchen, einen Augenblick zu schlafen, wenn ich irgendeinen Wunsch habe, kann ich ja klingeln.”

„Gewiß, mein armes Kind,” stimmt die Mutter ihr bei, „ich komme dann sofort.” Und dann setzt sie hinzu: „Nur ein wahres Glück, daß du endlich deine Teilnahme fest abgesagt hast. Ich wollte dir die Freude nicht rauben, aber trotz deiner Lebhaftigkeit sahst du in den letzten Tagen manchmal erschrecken blaß und elnd aus.”

Ein müdes Lcheln spielt um Millys Mund: „Das ist ja nun alles vorbei, Mutter, nun bleibe ich wieder jeden Nachmittag bei dir und gehe mit dir spazieren.”

Sie kommt sich bei diesen letzten Worten als gute Tochter so brav und tugendhaft vor, daß ihre eigene Tugendhaftigkeit sie zu Tränen rührt. Sie sieht sich ganz deutlich an der Seite der Mutter durch die Straßen der Stadt gehen, Einkäufe machen, kleine Pakete tragen, sie wird der Mutter behilflich, in die elektrische Bahn zu steigen und ängstlich um sie bemüht sein.

Sie wird jetzt wieder das Kind ihrer Eltern werden, nur noch für die leben, wie es ja auch ihre Pflicht und Schuldigkeit ist. Einzig und allein die Pflichterfüllung gewährt auf die Dauer Befriedigung, die alte Weisheit hat sie erst kürzlich wieder irgendwo gelesen, aber trotzdem, viel schöner war es doch bei Herbert.

Und in der Erinnerung an das, was war, beginnt sie plötzlich vor sich hin zu weinen und zu klagen.

Die Mutter legt tröstend und besorgt ihre Hände auf die heiße Stirn ihrer Tochter: „Soll ich nicht doch lieber unseren Hausarzt antelephonieren, daß er noch einmal nachher herankommt?”

Aber Milly wehrt ab, der kann ihr ja doch nicht helfen, das könnte einzig und allein Herbert.

„Nein, nein, Mutter, laß nur,” widerspricht sie, „ich sagte es dir schon, morgen ist alles wieder gut. Aber nun laß mich bitte allein, ich möchte etwas schlafen und ich glaube, es ist doch besser, wenn ich die Tür hinter dir zuschließe, denn sonst denke ich immer, einer von euch käme herein, um sich nach mir umzusehen und das macht mich dann unruhig.”

„Da kannst du ganz unbesorgt sein, mein Kind, aber mach das trotzdem, wie du willst.”

So führt sie denn die Mutter zur Tür, schließt sie dann zu und holt gleich darauf Herberts Bild hervor. Ihre Gedanken sind ja doch nur bei ihm, da muß sie auch sein Bild vor Augen haben.

Sie kann und will es nicht glauben, daß es nun für immer zwischen ihnen beiden aus sein soll.

Und noch dazu nur deswegen.

Das darf nicht sein, sie wird ihm morgen schreiben, bis sie dann doch wieder daran zurückdenkt, wie er trotz aller guten Vorsätze im letzten Augenblick die Gewalt über sich verlor.

So muß es denn wirklich aus sein, aus für immer.

Und sie hat noch so viele hübsche, verführerische Schuhe und Strümpfe, die sie ihm so gerne noch gezeigt, mit denen sie seine Leidenschaft immer noch mehr entflammt hätte.

Ach, daß es nun vorbei sein soll für immer, das ist zu entsetzlich.

Sie möchte am liebsten laut aufschreien vor Kummer und Weh, aber sie fürchtet, daß man es hören könne. So steckt sie das Taschentuch in den Mund und vergräbt das Gesicht in den Kissen. Sie ist zum Sterben traurig, und das weiß sie ganz genau, wenn auch Jahre und Jahrzehnte dahingehen sollen, keine Zeit wird jemals imstande sein, die Wunde ihres Herzens zu heilen, die Liebe zu Herbert in ihr ersterben zu lassen. Sie wird ihn weiter lieben, so lange sie lebt, einzig und alleine nur ihn und mit seinem Namen auf den Lippen wird sie dereinst die Augen zum ewigen Schlummer schließen.

Und doch wird auch sie dereinst, wenn ihr späterer Mann sie fragt: „Hast du wirklich vor mir noch nie einen anderen geliebt und noch nie einen anderen geküßt? —” Dann wird auch sie mit unschuldigen Kinderaugen zu ihm aufsehen und zu ihm sagen: „Wen sollte ich wohl vor dir je geliebt oder gar geküßt haben? Ich habe es ja gewußt, daß du kommen würdest, da habe ich auf dich gewartet bis zu dieser Stunde, du mein Ritter und Held.”

Und da er ein Mann ist, glaubt er ihr auch, denn wenn die Frau die geborene Liebe ist, dann ist der Mann der lebendig gewordene Glaube.


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© Karlheinz Everts